Familienmobil: Ein Pilotprojekt für Angehörige

Im Sommer 2024 startete ExtraMural zusammen mit dem team72 ein Pilotprojekt: Das Familienmobil bot Angehörigen von Inhaftierten vor der JVA Pöschwies eine Anlaufstelle für Gespräche vor und nach Besuchen im Gefängnis.

Menschen sitzen an einem Tisch vor einem Wohnwagen, dieser steht wiederum vor dem Eingang der JVA Pöschwies.

Kleiner Wohnwagen mit grosser Wirkung – Das Familienmobil im Einsatz für Angehörige

Wer im letzten Sommer die Justizvollzugsanstalt Pöschwies besuchte, konnte ihn kaum übersehen: einen kleinen hellgelben Wohnwagen – unaufdringlich, aber präsent, direkt neben der Eingangspforte. Hier, an der Schwelle zwischen drinnen und draussen, wartete das Familienmobil auf die Angehörigen der Inhaftierten.

Der Freiheitsentzug betrifft nicht nur die Inhaftierten selbst, sondern auch ihre Familien. Doch was hinter den Gefängnismauern geschieht, bleibt für viele unsichtbar. Angehörige stellen sich oft zahlreiche Fragen – über den Alltag im Gefängnis, über Abläufe beim Besuch oder über geltende Regeln. Gleichzeitig wissen sie häufig nicht, an wen sie sich wenden können. Gerade an Besuchstagen herrscht oft Unsicherheit: Was erwartet sie? Wie läuft das ab?

Hier setzt das Familienmobil an – ein Pilotprojekt von ExtraMural und dem team72, das eine oft übersehene Perspektive in den Mittelpunkt rückt: die Situation der Angehörigen.

JuWe hat die beiden Initiantinnen Ivana Mehr und Sandra Baur im Februar 2025 getroffen und nachgehakt, wie sie das Familienmobil erlebt haben und welche Rolle Angehörigenarbeit in Zukunft spielen wird.

Im Gespräch mit Ivana Mehr und Sandra Baur

Zwei Frauen steht vor dem Wohnwagen und lächeln in die Kamera.
Ivana Mehr (links) und Sandra Baur (rechts) bieten kostenlose, vertrauliche und anonyme Beratungen für Angehörige von inhaftierten Personen an. Quelle: JuWe / Christoph Wider.

Wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass ihr in Beratungsstellen für Familien und Angehörige von inhaftierten Personen arbeitet?


Ivana Mehr:                                                                                                                Vor meiner Tätigkeit als Stellenleiterin von ExtraMural war ich sechs Jahre lang Migrationsbeauftragte bei der reformierten Landeskirche. Eine gemeinsame Ausschreibung der reformierten und katholischen Landeskirchen für die Leitung eines Pilotprojekts weckte meine Neugier – und so entstand im April 2023 die Beratungsstelle ExtraMural, die ich seither eigenständig führe.

Sandra Baur:
Ich bin seit 2012 im team72. Nach meinem Sozialpädagogikstudium begann ich im Wohnhaus team72 in der teilstationären Bewährungshilfe sowie im Sanktionenvollzug zu arbeiten und leitete später drei Jahre lang die ambulante infostelle72 für Strafentlassene. Schon damals spielten die Angehörigen eine wichtige Rolle. Nach einem Sabbatical wechselte ich in die Angehörigenberatung des team72. Wie Ivana arbeite auch ich allein in der ambulanten Angehörigenberatung, umso wertvoller ist es, dass wir uns durch die Projektlancierung des Familienmobils so gut kennengelernt haben und uns austauschen können.

Ivana Mehr:
Ja, wir haben uns wirklich gesucht und gefunden! Du hast mehr spontane Anfragen, während ich eher konstante Angebote wie Gesprächsgruppen oder Öffentlichkeitsprojekte betreue.

Sandra Baur:
Genau – und wie gut wir uns ergänzen, hat sich auch beim Familienmobil gezeigt.

Im Fokus ist der Eingang der JVA Pöschwies. Im verschwommenen Vordergrund des Fotos sieht man den Wohnwagen und 3 Personen, die am Tisch davor sitzen.
Der Wohnwagen wartete vor den Toren der JVA Pöschwies – ein Treffpunkt auf der Schwelle zwischen drinnen und draussen, bereit für die Besucherinnen und Besucher. Quelle: JuWe / Christoph Wider

Du sprichst das Familienmobil an – wer hatte denn die Idee für dieses Pilotprojekt?


Sandra Baur:
Sowohl den Verein team72 wie auch die beiden Landeskirchen verbindet eine langjährige gute Zusammenarbeit mit JuWe. Bei Justizvollzug und Wiedereingliederung tragt ihr die Verantwortung für jene hinter den Mauern. Es gehört nicht zu eurem Kernauftrag, euch um die zu kümmern, die nach einer Inhaftierung zurückbleiben – bei uns hingegen stehen sie im Fokus. Und trotzdem merken wir in den letzten Jahren extrem, dass das Interesse und der Wille bei JuWe da ist, etwas für die Angehörigen zu tun.

Ivana Mehr:
Dem kann ich nur zustimmen. Nach meinem Stellenantritt recherchierte ich ähnliche Projekte und fand eines in der Westschweiz. Ich wusste sofort: So etwas brauchen wir auch in Zürich. Deshalb wandte ich mich an das team72 – denn mir war klar, ein Projekt wie das «Familienmobil» lässt sich nicht allein stemmen.

Sandra Baur:
Im März 2024 wurde aus der Idee ein Projekt, und wir suchten aktiv bei JuWe nach Unterstützung. Die wichtigste Frage war: Wer kann uns einen Stellplatz geben?

Ivana Mehr:
Bald bot die JVA Pöschwies ihre Unterstützung an und stellte uns einen Stellplatz vor dem Besuchereingang zur Verfügung. Im Juni waren wir startklar – mit einem kostenlos geliehenen Wohnwagen, engagierten Freiwilligen und einer grossartigen Zusammenarbeit mit der Pöschwies.

Eine Besucherin steht vor der Glasloge in der JVA Pöschwies und spricht mit einem Mitarbeitenden.
Wer jemanden in der JVA Pöschwies besuchen möchte, muss sich spätestens zwei Wochen im Voraus anmelden und eine Besuchsbewilligung einholen. Am Tag des Besuchs sind Ausweis und Bewilligung vorzuzeigen – beides wird an der Loge kontrolliert. Quelle: JuWe / Daniel Winkler.

Wie gestalteten sich die Gespräche vor Ort?


Sandra Baur:
Wir hatten von Juni bis Ende Oktober mittwochnachmittags und samstagnachmittags geöffnet, bis es zu kalt wurde. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die meisten Angehörigen vor dem Besuch eher wenig Zeit haben. Das liegt daran, dass sie für ein festes Besuchszeitfenster angemeldet sind und meist mit wenig Vorlaufzeit anreisen. Nach dem Besuch liessen die Angehörigen sich häufiger auf ein Gespräch ein. Es gab einige, bei denen man spürte, dass sie sich nicht länger als nötig vor dem Gefängnis aufhalten wollen, andere waren hingegen sehr dankbar für den Austausch und verweilten noch etwas beim Familienmobil.

Ivana Mehr:
Ja, es gab wirklich viele kurze Gespräche, Smalltalk oder einfach ein Winken. Unser Ziel war es auch gar nicht, intensive Beratungen vor Ort zu führen, sondern Präsenz zu zeigen und den Menschen Raum zu geben, sich vor oder nach dem Besuch zu sammeln.

Sandra Baur:
Das ist uns gelungen. Immer wieder setzten sich Leute zu uns, brachten Kuchen oder Getränke mit, weil sie wussten, dass wir da sind. Auch der Direktor der Pöschwies, Andreas Naegeli, kam einmal auf einen Besuch vorbei und organisierte kurzerhand ein Messer, mit dem der mitgebrachte Kuchen angeschnitten werden konnte. Die JuWe-Amtsleiterin Mirjam Schlup schaute zweimal vorbei.

Die Besucherin schiebt ihre Schuhe in einer Box durch einen Scanner bei der Sicherheitskontrolle.
Hinter den Gefängnismauern gelten strenge Sicherheitsvorkehrungen: Ausweiskontrolle, Körperscanner und Spinde für persönliche Gegenstände gehören zum Standard. Ein treuer Alltagsbegleiter, der draussen bleiben muss? Das Handy. Quelle: JuWe / Daniel Winkler.

Ivana Mehr:
Eine Angehörige sagte mir an einem Samstag: «Schön, dass ihr wieder da seid. Darf ich mich kurz setzen und ein Wasser trinken?» Ich hatte sie noch nie gesehen, da wir ja unterschiedliche Schichten hatten. Nach ihrem Besuch kam sie zielstrebig auf unseren Wohnwagen zu, zündete sich eine Zigarette an und meinte: «Es ist so gut, dass ihr da seid. Ihr seid eigentlich immer wie eine kleine Therapiestunde für mich.» Solche Begegnungen sind mir besonders in Erinnerung geblieben.

Sandra Baur:
Auch mit den Mitarbeitenden der JVA gab es wertvolle Begegnungen. Wir haben bei vielen das Bewusstsein dafür geschärft, dass nicht nur die Inhaftierten Unterstützung brauchen, sondern auch ihre Familien draussen mit Fragen und Problemen kämpfen.

An einem Tisch im Besuchsraum sitzt eine junge Frau vor einem inhaftierten Mann.
Im Besuchspavillon der JVA sitzt man, ähnlich wie in einer Cafeteria, an Tischen und wartet auf die Ankunft des Inhaftierten. Privatsphäre ist nur bedingt möglich – rundherum laufen weitere Besuche und Gespräche. Quelle: JuWe / Daniel Winkler.

Hat das Projekt eure Erwartungen erfüllt, oder gibt es Aspekte, die ihr rückblickend anders angehen würdet?


Sandra Baur:
Rückblickend sehen wir, dass der Bedarf für ein solches Angebot vor der JVA vorhanden ist. Aufgrund von Erfahrungen aus unserer ambulanten Beratung und vielen Rückmeldungen von Betroffenen sehen wir aber eine noch grössere Notwendigkeit einer Anlaufstelle vor den Untersuchungsgefängnissen. Angehörige von Inhaftierten der JVA Pöschwies sind oft schon gefestigt in ihrer neuen Lebensrealität, während in der Untersuchungshaft die Unsicherheit und Ungewissheit grösser ist – hier brauchen Angehörige mehr Unterstützung und Informationen.

Ivana Mehr:
Auch der Name «Familienmobil» war nicht optimal. Viele Einzelpersonen oder nicht verwandte Bezugspersonen fühlten sich nicht angesprochen.

Sandra Baur:
2025 starten wir daher ein neues dreijähriges Pilotprojekt vor Gefängnissen im Kanton Zürich. Gemeinsam mit der Unterstützung von JuWe werden wir mit einem Van regelmässig vor dem Gefängnis Zürich West und anderen U-Haft-Gefängnissen präsent sein, auch die JVA Pöschwies besuchen wir weiterhin.

Ivana Mehr:
Bevor wir mit dem neuen Projekt starten, wollen wir beide selbst vor Ort Erfahrungen sammeln. So verstehen wir noch besser, mit welchen Fragen Angehörige auf uns zukommen. Neben psychologischer Unterstützung geht es oft um praktische Hilfe und Aufklärung – etwa zur Untersuchungshaft, zu Besuchsregeln oder Kontakten zu Anwältinnen und Anwälten. Unsere Freiwilligen werden gezielt geschult, um professionell auf emotionale und fachliche Anliegen reagieren zu können. Bis wir so weit sind, ist noch viel zu organisieren, doch wir freuen uns bereits jetzt auf die spannende Arbeit und sind optimistisch, dass der neue «infoBUS für Angehörige von Inhaftierten» ein Erfolg wird.

Personen sitzen an einem Tisch vor einem Wohnwagen. Der Wohnwagen steht vor dem Gefängniseingang.
Die Vereine ExtraMural und team72 unterstützen und beraten seit einigen Jahren Angehörige inhaftierter Personen. Im Juni 2024 gründeten sie gemeinsam das Familienmobil. Quelle: JuWe / Christoph Wider.

In den vergangenen Jahren hat die Angehörigenarbeit bei JuWe an Wichtigkeit gewonnen. So wurden in allen Gefängnissen kindgerechte Besuchsräume eingerichtet, verschiedene Vorhaben wie Erklärfilme für Angehörige mitfinanziert und auch langfristige Projekte wie der Modellversuch Untersuchungshaft berücksichtigen das private Umfeld inhaftierter Personen stärker als früher.

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