Wenn Menschen andere Menschen ausbeuten

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Hören Sie den Artikel zum Thema «Menschenhandel» hier. Text: Hannes Nussbaumer, Sprecher: KI-generiert

Sie kommen mit grossen Hoffnungen – und enden manchmal in der Ausbeutung. Menschenhandel ist längst nicht mehr ein Problem ferner Länder, sondern auch in der Schweiz in verschiedenen Branchen anzutreffen. Für die Strafverfolgungsbehörden sind Verfahren wegen Menschenhandels besonders anspruchsvoll und aufwendig – die Taten geschehen oft im Verborgenen, die Opfer stehen unter massivem Druck, und die Beweisführung gestaltet sich schwierig.

Illustration zeigt Menschen in Branchen, die häufig vom Menschenhandel profitieren: Reinigung, Nagelstudios, Baubranche, Sexgewerbe
Menschenhandel ist längst nicht mehr ein Problem ferner Länder, sondern auch in der Schweiz in verschiedenen Branchen anzutreffen.

Wenn Menschen andere Menschen ausbeuten

Eine Wohnung, ein Job, ein Einkommen, ein legaler Aufenthalt und ein angenehmes Leben in der Schweiz: Für die zwanzigjährige Juanita, die ohne Arbeit, ohne Perspektiven und in bitterer Armut in einer Provinzstadt in Kolumbien lebt, müssen die Verheissungen von Juan wie ein Bericht aus dem Paradies geklungen haben.

Weder Juanita noch Juan sind reale Personen. Aber die Konstellation ist authentisch. Viele Fälle von Menschenhandel beginnen damit, dass ein Täter einem Opfer eine rosige Zukunft verspricht. Und so lässt sich Juanita von Juan in die Schweiz locken. Sie reist mit einem Touristinnenvisum ein. Ein Kollege Juans erwartet sie am Flughafen und bringt sie in ein Haus in der Agglomeration von Zürich.

Das Haus ist heruntergekommen und schmuddelig und auch sonst ist nichts so, wie es Juan versprochen hatte. Der «Job» besteht darin, dass Juanita als Prostituierte arbeiten muss. Von mittags um zwölf bis morgens um fünf muss sie bereit sein, falls sich ein Freier auf das Sexinserat meldet, mit dem Juanita im Internet angeboten wird. Um eine Arbeitsgenehmigung kümmert sich Juan nicht.

Dafür interessiert er sich umso mehr für die Einnahmen von Juanita. Sie fliessen direkt zu ihm – plötzlich spricht er von Tausenden von Franken Schulden, die angeblich durch Reise und Organisation angefallen seien und die Juanita abzahlen müsse. Zudem verrechnet er ihr horrende Beträge für Kost und Logis. Wenn Juanita einen Freier nicht bedienen will oder krank ist, addiert Juan den Einnahmeausfall zu den Schulden hinzu. Übrig bleibt für sie nichts. Gleichzeitig wird der Aufenthalt von Juanita aufgrund der fehlenden Arbeitsgenehmigung illegal. Das bedeutet: Juans Kontrolle über Juanita ist total. Ihre Abhängigkeit von ihm ebenfalls. Was Juan mit Juanita macht, ist Menschenhandel. Damit verstösst er gegen Artikel 182 des Strafgesetzbuchs – und wird so zu einem Fall für Runa Meier. Staatsanwältin Meier stiess 2016 von einer Regionalen Staatsanwaltschaft im Kanton Aargau zur Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich und hat sich auf Fälle von Menschenhandel spezialisiert. Die Fallzahlen in diesem Bereich wachsen, weshalb bald noch ein weiterer Staatsanwalt die zusätzlich für dieses Gebiet geschaffene Stelle antreten wird.

Besonders anfällige Branchen für Menschenhandel

  • Sexgewerbe
  • Baugewerbe
  • Gastgewerbe
  • Care-Arbeit
  • Nagelstudios
  • Landwirtschaft
  • Haushalt / Kinderbetreuung

Vorsätzliche Ausbeutung von Menschen

Der Fall von Juan und Juanita zeigt exemplarisch, um was es bei Menschenhandel geht: nämlich um die vorsätzliche, absichtsvolle Ausbeutung von Menschen. Oft handelt es sich dabei um sexuelle Ausbeutung, etwa in der Prostitution. Die Opfer sind meist osteuropäische, chinesische und südamerikanische Frauen oder – Tendenz steigend – trans Menschen, zum Beispiel aus Lateinamerika. Daneben gibt es – als zweite Form der Ausbeutung – auch Fälle, wo die Täterschaft die Arbeitskraft eines Menschen ausbeutet, zum Beispiel auf dem Bau, in der Gastronomie, in der Betreuung, etwa bei Nannys, oder in der Reinigungsbranche.

Eine Staatsanwältin, die sich um Menschenhandel kümmert, ist mit mehreren Herausforderungen konfrontiert – zum Beispiel muss sie der Täterschaft nachweisen können, dass diese das Opfer gezielt mit der Absicht kontaktiert hat, es in eine Ausbeutungssituation zu bringen. Nur dann ist eine Verurteilung möglich.

Diesen Nachweis zu erbringen, ist oft schwierig – ganz besonders in Fällen, wo es um die (nicht sexuelle) Ausbeutung einer Arbeitskraft geht. Es ist nämlich umstritten, wo ein juristisch gerade noch zulässiges Arbeitsverhältnis endet und die Ausbeutung beginnt. «Diese Situation ist dem sehr offen abgefassten Straftatbestand sowie einem fehlenden Bundesgerichtsentscheid dazu geschuldet », sagt Runa Meier.

Typisch für Menschenhändler wie dem fiktiven Juan sind neben den falschen Versprechen, mit denen sie ihre Opfer täuschen und anlocken, vor allem das gezielte Ausnützen der Vulnerabilität des Opfers – zum Beispiel von dessen Armut. «Auch die europäischen, meist osteuropäischen Opfer kommen oft aus einer Armut, die wir uns kaum vorstellen können», sagt Runa Meier.

Ermittlungen und Verfahrenseröffnung

Der erste Schritt in einem Verfahren gegen Menschenhandel ist in vielen Fällen der Verdacht oder das mulmige Gefühl einer Polizistin oder eines Polizisten im Rahmen einer polizeilichen Intervention – etwa wenn eine Patrouille eine illegal in der Schweiz anwesende Person anhält. «Darum ist es so entscheidend, dass die Polizistinnen und Polizisten, die an der Front wirken, für das Thema sensibilisiert sind», sagt Staatsanwältin Meier. Eine wichtige Rolle spiele zudem die sogenannte MAK, die Milieuaufklärung der Stadtpolizei Zürich. Die Mitarbeitenden der MAK sind mit einem primär nicht repressiven Auftrag regelmässig im Milieu unterwegs. Dort kommen sie niederschwellig mit den Sexarbeiterinnen ins Gespräch und erfahren so von Ausbeutungsverhältnissen.

Besteht bei einer Person der Verdacht, dass sie ein Opfer von Menschenhändlern sein könnte, kommen spezialisierte Mitarbeitende der Polizei zum Einsatz. Diese führen ein Erstgespräch mit der Person und entscheiden dann, ob diese formell als Menschenhandelsopfer identifiziert wird. Die Kantonspolizei Zürich führte letztes Jahr etwa 60 solche Erstgespräche durch.

Der Entscheid stellt die Weichen für den weiteren Verlauf. Identifiziert die Polizei eine Person als Opfer, hat diese das Recht auf Schutz und Unterkunft. Zudem erhält die Person eine Erholungsund Bedenkzeit von mindestens 30 Tagen, während deren sie sich legal in der Schweiz aufhält. Das Opfer muss sich während dieser Bedenkzeit entscheiden, ob es mit den Behörden zusammenarbeiten und in einem Verfahren mitwirken will. Entscheidet es sich dafür, bekommt es eine Aufenthaltsbewilligung. Wenn nicht, muss die betroffene Person – sofern sie aus einem Drittstaat kommt – die Schweiz verlassen.

«Direkte oder indirekte Drohungen gegen aussagewillige Opfer sind bei Menschenhandelsverfahren an der Tagesordnung.»

Runa Meier, Staatsanwältin

Länderübergreifendes Phänomen – hohe Verfahrenskomplexität

Verfahren gegen Menschenhändler sind oft umfangreich. Die Staatsanwaltschaft ist auf verschiedenen Ebenen gefordert. So kommt es zum Beispiel vor, dass sie Verdachtspersonen vor einer Verhaftung überwacht, abhört oder beobachtet. Solche grossen und komplexen Verfahren landen bei der Staatsanwaltschaft II. Die kleineren Fälle werden von den zuständigen Regionalen Staatsanwaltschaften erledigt.

Es gebe mehrere Faktoren, die einen Fall komplex machen würden, sagt Runa Meier. Zum Beispiel sei da der Umstand, dass Fälle von Menschenhandel sehr oft internationale Dimensionen hätten. So kann es sein, dass die Täterschaft dank moderner Kommunikationstechnik die Opfer vom Heimatland aus überwacht und ihre Macht aus Distanz ausübt. In solchen Fällen kann es hilfreich sein, eine gemeinsame Ermittlungsgruppe mit den ausländischen Behörden zu bilden.

Auf Täterseite sind dabei ganz verschiedene Konstellationen möglich: Es gebe Einzeltäter, es gebe Täternetzwerke bis hin zu mafiaähnlichen Organisationen. «Und dann», so Runa Meier, «gibt es auch Fälle, bei denen eine Person gleichzeitig Opfer und Täterin ist.» Meistens handle es sich dabei um sogenannte «Capo-Frauen». Solche Frauen befinden sich laut Staatsanwältin Meier in einer hierarchischen Zwischenstufe. Sie sind selber abhängig von einem Täter und haben von diesem den Auftrag, andere Frauen auszubeuten.

Anspruchsvolle Opferbefragungen

Das Herzstück eines Menschenhandelsverfahren sind die Aussagen des Opfers. Eine solide Beweisgrundlage lässt sich meist nur schaffen, wenn ein Opfer bereit ist, detailliert darüber zu reden, wie der Täter es ausgenützt hat.

Dabei sei das Darüber-Reden für ein Opfer gleich eine mehrfache Herausforderung: «Erstens muss es seine Scham überwinden», so Runa Meier. «Das Opfer muss bereit sein, über sehr intime Themen zu reden.» Habe ein Täter beispielsweise eine Frau dazu gezwungen, mit ihren Freiern ungeschützten Sex zu haben, sei dies für die Strafverfolgung eine wichtige Information, weil sie die Ausbeutung dokumentiere, sagt Runa Meier. Es sei aber unheimlich schwierig, eine solche Information zu bekommen, weil sich die Opfer für ihr Tun schämen würden.

Auch das Thema Armut sei schambehaftet. «Wenn ich ein Opfer frage, wie es aufgewachsen sei, und ich als Antwort ‹normal› bekomme, ist es wichtig, dass ich diese Antwort nicht einfach stehen lasse», sagt Staatsanwältin Meier. «Denn ‹normal› heisst im landläufigen Sinn ‹gut› oder zumindest ‹okay›. Erst wenn ich nach Details frage, wird klar, dass das, was das Opfer als Normalität empfunden hat, bitterste Armut war.»

Und schliesslich müssen die Betroffenen mit dem Stress umgehen können, der mit der Befragung und dem Verfahren insgesamt verbunden ist. Begleitet von seiner Anwältin, einer Dolmetscherin und einer Vertrauensperson, in der Regel einer Vertreterin der spezialisierten Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ), sitzt das Opfer bei der Befragung nicht nur der zuständigen Staatsanwältin gegenüber. Ebenfalls dem Opfer gegenüber befindet sich eine Kamera, die jede Aussage, jede Mimik, Gestik und Gefühlsregung zum Täter überträgt. Das muss so sein, denn die Beschuldigten haben das Recht, der Befragung per Livestream beizuwohnen. Ebenfalls im Befragungszimmer anwesend sind die Anwälte der Beschuldigten, die zudem befugt sind, Ergänzungsfragen zu stellen.

Aussagenverweigerung – aus Angst vor Repressalien

«Mir ist kein Verfahren wegen Menschenhandels bekannt, bei dem es nicht zu Drohungen gegen das Opfer oder dessen Familie gekommen ist», sagt Runa Meier. Dass vor diesem Hintergrund viele Opfer nicht bereit sind, auszusagen und sich auf ein Verfahren einzulassen, liegt auf der Hand. «Insbesondere in Fällen, wo ein Opfer in der Heimat Kinder hat und befürchten muss, dass diesen etwas zustossen könnte, haben wir eigentlich keine Chance, eine Aussage zu bekommen. Das kann frustrierend sein.»

Verurteilte Menschenhändler werden in der Regel mit Gefängnisstrafen sowie – sofern es sich bei ihnen um Ausländer handelt – einem Landesverweis bestraft. Für die Opfer, die selber oft ebenfalls gegen das Gesetz verstossen haben, zum Beispiel aufgrund ihres illegalen Aufenthalts, gilt dagegen das sogenannte Non-Punishment-Prinzip. Es besagt, dass Opfer, die im direkten Zusammenhang mit ihrer Ausbeutung eine Straftat begangen haben, dafür nicht belangt werden dürfen.

Wo die Opfer von Menschenhandel nach Abschluss der oftmals mehrjährigen Verfahren ihre Zukunft gestalten, ist verschieden. «Manche erhalten über ein Härtefallgesuch eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung und bleiben hier», sagt Runa Meier. Andere würden heimkehren. So oder so gehe es darum, die Betroffenen bestmöglich zu schützen. Reist ein Opfer in die Heimat zurück, gibt es Rückkehrprogramme oder auch Hilfe in Zusammenarbeit mit lokalen Opferhilfeorganisationen.

Text: Hannes Nussbaumer

Faktoren, die die Aussagebereitschaft von Opfern von Menschenhandel beeinflussen

Faktoren
Beschreibung
Eigenes Selbsbild Opfer sehen sich selbst (noch) nicht als solche («kein Opfer sein wollen»).
Angst vor Bestrafung Befürchtung, sich selbst strafbar gemacht zu haben (z. B. durch illegalen Aufenthalt).
Mangelndes Vertrauen in Behörden Zweifel an Unterstützung oder Schutz durch staatliche Stellen aufgrund  bisheriger Erfahrungen insbesondere im Heimatland. 
Loyalitätskonflikte und Abhängigkeit Emotionale oder wirtschaftliche Bindung an die Täter.
Furcht vor Repressalien Berechtigte Sorge um Vergeltungsmassnahmen, insbesondere im Heimatland.
Schamgefühl Hemmung, über erlittene Erfahrungen und intimste Details aus der Ausbeutungszeit zu sprechen.

Kontakt

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich – Medienstelle

Adresse

Güterstrasse 33
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