0443

Entscheidinstanz
Bezirksräte
Geschäftsnummer
US.2024.12
Entscheiddatum
26. Juni 2024
Rechtsgebiet
Schulrecht (Volksschule)
Stichworte
Dispensation Glaubens- und Gewissensfreiheit Verhältnismässigkeit
Verwendete Erlasse
§ 57 VSG § 28 Abs. 2 VSV § 29 VSV Art. 15 BV
Zusammenfassung (verfasst von der Staatskanzlei)
Dispensationsgründe sind unter anderem hohe Feiertage oder besondere Anlässe religiöser oder konfessioneller Art. Die Frage, ob eine bestimmte Manifestation unmittelbar religiösen Charakter hat, entscheidet vordergründig der Rechtsträger nach subjektivem Selbstverständnis; der Staat ist nicht befugt, das allein aus seiner Sicht zu bestimmen. Was religiöse Anlässe anbelangt, muss Grenze der Berücksichtigung sein, dass ein geordneter und effizienter Schulbetrieb aufrechterhalten bleibt.

Anonymisierter Entscheidtext (Auszug):

Sachverhalt:

Mit Beschluss vom 4. Juni 2024 wies die Schulpflege X die von den Eltern A beantragte Dispensation für ihren Sohn B ab. Sie führte aus, die Eltern hätten eine Unterrichtsdispensation in der letzten Woche vor den Sommerferien, für den 11. und 12. Juli 2024, beantragt, um zu einem bestimmten Zeitpunkt Rituale in einem Hindu-Tempel in Indien durchzuführen. Die Daten des Rituals seien nirgendwo veröffentlicht, sondern würden vom Familienastrologen festgelegt. Die Familie in Indien habe zudem mitgeteilt, dass es zwei Termine gebe, nämlich den 10. und den 11. Juli 2024. Der günstige Termin für das Ritual liege meistens in der ersten Juli-Woche. Für die Familie seien diese Termine jedoch nie in Frage gekommen, um B nicht zwei Wochen vom Unterricht dispensieren zu lassen. Aus diesem Grund habe die Familie vier Jahre auf den richtigen Zeitpunkt warten müssen. Mit zwei Tagen Unterrichtsdispensation könne die Familie ihr religiöses Ritual für B durchführen, bevor er 13 Jahre alt werde. B komme im August 2024 in die Sekundarschule, und die Eltern möchten, dass er sich dann ganzheitlich auf die Schule konzentriere. Die Schulpflege habe Verständnis für das Anliegen der Eltern. Jedoch sei die Sekundarschule nicht wichtiger als die Primarschule. Auch mit einem Abflug am 10. Juli abends und der anschliessenden Reise nach Indien könne das Ritual nicht am 11. Juli 2024 stattfinden. Offenbar könne das Ritual auch später stattfinden; schriftlich festgehalten seien die Dinge gemäss Angabe der Eltern nicht, weshalb eine Verifizierung nicht möglich sei. Gegen diesen Beschluss erhob der Vater A am 12. Juni 2024 (Eingang) Rekurs. Er beantragt sinngemäss Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Gewährung der Dispensation.

Erwägungen:

1.
[Prozessgeschichte]

2.
[Eintreten, Prozessuales]

3.1
[Ausführungen der Schulpflege und des Rekurrenten]

3.2
Nach § 57 des Volksschulgesetzes vom 7. Februar 2005 (VSG; LS 412.100) sind die Eltern für die Erziehung sowie den regelmässigen Schulbesuch ihres Kindes, die Erfüllung der Schulpflicht und der damit verbundenen Pflichten verantwortlich. Bei vorhersehbaren Absenzen ersuchen die Eltern rechtzeitig um Dispensation (§ 28 Abs. 2 Volksschulverordnung vom 28. Juni 2006 [VSV; LS 412.101]). Nach § 29 VSV dispensieren die Gemeinden Schülerinnen und Schüler aus zureichenden Gründen vom Unterrichtsbesuch. Sie berücksichtigen dabei die persönlichen, familiären und schulischen Verhältnisse (Abs. 1). Dispensationsgründe sind unter anderem aussergewöhnliche Anlässe im persönlichen Umfeld der Schülerinnen und Schüler und hohe Feiertage oder besondere Anlässe religiöser oder konfessioneller Art (Abs. 2 lit. b und c). […]

Die Glaubens- und Gewissensfreiheit verschafft dem Einzelnen das Recht, sich eine religiöse Überzeugung frei von jeglicher staatlichen Beeinflussung zu wählen, zu praktizieren und nach der gewonnenen Einsicht sein Leben zu gestalten. Die Frage, ob eine bestimmte Manifestation unmittelbar religiösen Charakter hat, entscheidet gemäss Bundesgericht vordergründig der Rechtsträger nach subjektivem Selbstverständnis; der Staat ist nicht befugt, das allein aus seiner Sicht zu bestimmen. Folglich besteht für das Interesse an der Gewährung der Dispensation vom Schulunterricht zum Zweck der Befolgung eines religiösen Gebots im Grundsatz eine verfassungsrechtliche Grundlage, wenn die Eltern das Vorliegen eines solchen religiösen Gebots behaupten und darzulegen vermögen, dass es ihrem Glauben entspringt (Werder, Religionsfreiheit in der Schule als Interessenkonflikt, 2018, Rz. 344; Cavelti/Kley, St. Galler Kommentar zur schweizerischen Bundesverfassung, 4. A. 2023, Art. 15 N. 10, 12).

Was insbesondere religiöse Anlässe anbelangt, so muss Grenze der Berücksichtigung sein, dass ein geordneter und effizienter Schulbetrieb aufrechterhalten bleibt. Das Verhältnismässigkeitsprinzip verlangt, dass ein Grundrechtseingriff sich auf ein die privaten Interessen überwiegendes öffentliches Interesse stützt und sich auf das zum Schutz des öffentlichen Interesses Notwendige beschränkt. Das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Schulobligatoriums ist unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Ordnung (geregelter Schulbetrieb) und des Schutzes der Interessen der anderen Schüler gewichtig. Es ist abzuwägen gegenüber dem Interesse der Gesuchsteller, als Familie ihren Glaubensvorstellungen nachleben zu können (BGE 117 Ia 311, E. 4).

Schliesslich bleibt anzumerken, dass Dispensationen aus religiösen Gründen nicht zu Lasten der Jokertage gehen (Merkblatt des Volksschulamts des Kantons Zürich, Umgang mit Schülerinnen und Schülern verschiedener Religionen an der Volksschule im Kanton Zürich, 12. August 2020, Ziff. 4). 

3.3
Beim Hinduismus handelt es sich um eine der grossen Weltreligionen. Der Rekurrent legt plausibel dar, dass das geplante Ritual eine grosse Bedeutung für die Familie und insbesondere B hat. Da der Termin individuell von einem Astrologen festgelegt wurde, ist nachvollziehbar, dass sich dazu im Internet nichts findet. Immerhin hat der Rekurrent im Rekursverfahren eine Bescheinigung des Astrologen eingereicht. Diese ist zwar nur auf Hindi abgefasst, jedoch wird aus ihr erkennbar, dass am 11. Juli 2024 ein Ritual (Pooja) für B stattfindet. […]. Damit ist in genügender Weise dargelegt, dass die Eltern mit B zu einem wichtigen religiösen Anlass reisen wollen, der zumindest im Jahr 2024 nicht auf einen anderen Termin verlegt werden kann.

Auch nach Angabe des Rekurrenten muss das Ritual offenbar nicht zwingend im Jahr 2024 stattfinden. Nach seinen Angaben gegenüber der Schulpflege liege der günstigste Termin jedoch meist in der ersten Juliwoche, und somit hätte B (in den vergangenen Jahren) mehr Urlaub gebraucht. Sie hätten daher fast vier Jahre gewartet. Daraus ergibt sich, dass die Eltern im Sinne der Verhältnismässigkeit zugewartet haben, um das Ritual zu einem Termin durchführen zu können, an dem möglichst wenige Dispensations-Tage benötigt würden. Die Schulpflege bezweifelt sodann im angefochtenen Beschluss, dass B rechtzeitig zum Ritual in Indien sein kann, wenn er erst am 10. Juli abends abfliegt. Der Rekurrent legt im Rekurs dar, dass dies gemäss dem Flugplan der Air India möglich ist. Dem Rekurrenten ist auch in diesem Zusammenhang zugute zu halten, dass er das Recht seiner Familie auf Ausübung ihrer Religion im Sinne der Verhältnismässigkeit möglichst schonend ausüben will.

Was die Interessen der Schule betrifft, ist zu berücksichtigen, dass B in der 6. Klasse ist. In der letzten Woche vor den Sommerferien liegen die Zeugnisse bereits vor, und die Sekundarschul-Einteilungen sind erfolgt. Es wird somit den Unterrichtsbetrieb nicht wesentlich stören, wenn B in dieser Woche vorzeitig verreist. Dass er allenfalls Abschlussfeiern verpasst, ist vertretbar. Eine Verschiebung auf ein zukünftiges Jahr, wie es die Schulpflege verlangt, ist ebenfalls keine taugliche Lösung, da B so oder so einmal in seiner Schullaufbahn das religiöse Ritual durchführen und Dispensations-Tage beanspruchen wird. Insofern ist das Ende der 6. Klasse besonders günstig, da B – im Unterschied zur Sekundarschule – keinen wesentlichen Unterrichtsstoff verpassen wird und eine Beurlaubung auch den Unterrichtsbetrieb nicht wesentlich stören wird. Zudem ist unbekannt, auf welche Termine das Ritual in den nächsten Jahren fallen wird. Es ist denkbar, dass dannzumal – wie in den vergangenen Jahren – wieder mehr Dispensations-Tage beansprucht werden müssten.

Damit ist der Rekurs gutzuheissen und B für den 11. und 12. Juli 2024 vom Unterricht zu dispensieren.

4.
[Kostenfolgen]

5.
[Aufschiebende Wirkung]

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