Anonymisierter Entscheidtext:
Erwägungen:
1. Mit Eingabe vom 1. November 2022 haben A. und B. (nachfolgend: Beschwerdeführer) im Zusammenhang mit der jeweils am letzten Freitag im Monat stattfindenden «Critical Mass» Aufsichtsbeschwerde beim Statthalteramt Bezirk Zürich erhoben. Sie stellen den folgenden Antrag:
«Gegenüber dem Beschwerdegegner sei ein aufsichtsrechtliches Verfahren zu er- öffnen und er sei anzuhalten, das Recht – insbesondere die Strassenverkehrsregeln sowie die Bewilligungs- und Gebührenpflicht für den gesteigerten Gemeingebrauch des öffentlichen Grunds – gegenüber der «Critical Mass» durchzusetzen.»
2. In der Folge wurde der Sicherheitsvorsteherin der Eingang der Beschwerde angezeigt. Gleichzeitig wurde sie zur Stellungnahme aufgefordert.
3. Am 25. November 2022 führte der Statthalter des Bezirks Zürich einen Augenschein durch, indem er von einem zivilen Polizeifahrzeug aus das Geschehen vor Ort beobachtete.
4. Der Stadtrat von Zürich (nachfolgend: Beschwerdegegner) nahm mit Eingabe vom 8. Dezember 2022 aufforderungsgemäss Stellung zur Aufsichtsbeschwerde und legte eine Zusammenfassung der Einsatzberichte der Stadtpolizei Zürich betreffend Critical Mass im Jahr 2022 bis zu diesem Zeitpunkt bei.
5. Aufforderungsgemäss wurden mit Eingabe des Sicherheitsdepartements der Stadt Zürich vom 7. Februar 2023 die Einsatzbefehle sowie die ungekürzten Einsatzberichte der Stadtpolizei Zürich für denselben Zeitraum nachgereicht.
Rechtsgrundlagen Aufsichtsbeschwerde
6. Nach § 164 des Gemeindegesetzes (GG) üben die allgemeine Aufsicht die Bezirksräte und der Regierungsrat aus, während sich die Fachaufsicht nach spezial- gesetzlichen Regelungen richtet.
Gemäss § 12 Abs. 1 des Bezirksverwaltungsgesetzes (BezVG) obliegen dem Statthalteramt vor allem die Aufsicht über die Ortspolizei, das Strassenwesen der Gemeinden und das Feuerwehrwesen sowie die Handhabung des Übertretungsstrafrechts; besondere Bestimmungen sind vorbehalten.
Das Bezirksverwaltungsgesetz enthält keine Regelung zur Ausübung der Aufsicht, weshalb die Bestimmungen des Gemeindegesetzes (§§ 163-169 GG) zumindest sinngemäss zur Anwendung gelangen.
7. Die kantonale Aufsichtsbehörde greift ein, wenn Hinweise auf klare Rechtsverletzungen bestehen (§ 167 lit. a GG) oder die ordnungsgemässe Führungs- und Verwaltungstätigkeit auf andere Weise gefährdet ist (§ 167 lit. b GG).
Gemäss § 168 Abs. 1 GG kann die kantonale Aufsichtsbehörde insbesondere Weisungen erteilen (lit. a), vorsorgliche Massnahmen treffen (lit. b), widerrechtliche Anordnungen, Beschlüsse und Erlasse aufheben (lit. c), Ersatzanordnungen und Ersatzvornahmen treffen (lit. d), Ordnungsbussen aussprechen (lit. e) oder ein Behördenmitglied, das Amtspflichten wiederholt oder schwerwiegend verletzt, vorübergehend im Amt einstellen oder des Amtes entheben, wenn dies im öffentlichen Interesse liegt (lit. f).
8. Die Aufsichtsbeschwerde (auch «Aufsichtsanzeige» genannt) ist kein Rechtsmittel, sondern ein Rechtsbehelf. Das VRG kennt keine Bestimmungen zur Aufsichtsbeschwerde; diese hat ihre Grundlage vielmehr in der Aufsichtsaufgabe der hierarchisch übergeordneten Verwaltungsbehörde über die ihr untergeordnete Verwaltungsbehörde (Anja Martina Binder [nachfolgend: Binder], Verwaltungsrechtspflege des Kantons Zürich, 2021, S. 313 N 975).
Der Anzeigeerstatter bringt der Behörde mit der Aufsichtsbeschwerde einen Sach- verhalt zur Kenntnis, worauf es Sache der Behörde ist, von Amtes wegen die erforderlichen Untersuchungen in die Wege zu leiten. Im Kanton Zürich ist es Praxis, Aufsichtsbeschwerden zu prüfen, solange diese nicht offensichtlich aussichtslos oder querulatorisch sind (vgl. Binder, a.a.O., S. 314 N 976). Sodann kommt jedem die Befugnis zu, eine Aufsichtsbeschwerde zu erheben. Eine besondere Legitimation – etwa ein persönliches Interesse oder eine Beziehung zum Objekt der Anzeige – ist nicht erforderlich. Entsprechend kommen dem Anzeigeerstatter im Aufsichtsverfahren aber auch keine Parteirechte zu. Schliesslich ist die Aufsichtsbeschwerde auch an keine Frist oder Form gebunden (Binder, a.a.O., S. 316 N 979).
Mit einer Aufsichtsbeschwerde kann jede Art staatlichen Handelns beanstandet werden. Beschwerdeobjekt können demnach Anordnungen sein, ebenso aber auch Vollzugsakte, Realakte, verwaltungsinterne Akte, organisatorische Massnahmen, rechtsgeschäftliche Handlungen oder auch die allgemeine Amtsführung. Gleichzeitig können mit der Aufsichtsbeschwerde auch sämtliche Rügen vorgetragen werden; so kann nicht nur die Unrechtmässigkeit staatlichen Handelns, sondern etwa auch die Unzweckmässigkeit gerügt werden (Binder, a.a.O., S. 315 N 979).
Die Aufsichtsbehörde übt beim Einschreiten kraft Aufsichtsrechts allgemein Zurückhaltung. Die Voraussetzung für ein aufsichtsrechtliches Eingreifen gegenüber Verfügungen, Entscheiden und anderen Handlungen sind nur dann gegeben, wenn klares Recht – Verfahrensbestimmungen eingeschlossen – oder wesentliche öffentliche Interessen missachtet worden sind. Bei einfachen Rechtsverletzungen und unzweckmässiger Ermessensausübung darf die Aufsichtsbehörde nicht einschreiten. Der Aufsichtsbeschwerde ist immer dann Folge zu geben, wenn die an- gegangene Behörde bei Kenntnis der Sachlage auch von sich aus hätte einschreiten müssen. Klares Recht oder wesentliche öffentliche Interessen sind bei fehlerhafter Ermessensausübung nicht verletzt. Ermessensüberschreitung oder Ermessensmissbrauch können hingegen ein aufsichtsrechtliches Einschreiten rechtfertigen (Kommentar VRG [Alain Griffel Hrsg.], 2014, Dr. iur. Martin Bertschi, Vorbem. zu §§ 19-28a N 62, 65).
Gegen die Mitteilung der Aufsichtsbehörde, dass sie der Aufsichtsbeschwerde nicht folgt, steht der anzeigenden Person kein Rechtsmittel offen. In Frage käme höchstens eine weitere Aufsichtsbeschwerde an die hierarchisch nächsthöhere Aufsichtsbehörde. Erlässt die Aufsichtsbehörde aber aufgrund einer Aufsichtsbeschwerde eine Anordnung im Sinne von § 19 Abs. 1 lit. a VRG, steht den im Sinne von § 21 VRG rechtsmittellegitimierten Personen der ordentliche Rechtsmittelweg offen. Die Anordnung der Aufsichtsbehörde stellt dabei eine erstinstanzliche Anordnung dar (Binder, a.a.O., S. 317 N 983).
Ausgangslage gemäss Aufsichtsbeschwerde
9. Die Beschwerdeführer machen mit Aufsichtsbeschwerde vom 1. November 2022 zusammengefasst geltend, dass die jeweils am letzten Freitag im Monat stattfindende Critical Mass regelmässig zu ganz erheblichen Störungen des übrigen Verkehrs führe, wobei auch bewusst und systematisch Verkehrsregeln missachtet würden.
Gleichzeitig verzichte die Stadt Zürich bisher wider besseres Wissen darauf, gegenüber der Critical Mass die mehrfach gesetzlich verankerte Bewilligungs- und Gebührenpflicht für gesteigerten Gemeingebrauch durchzusetzen und verletze damit in offensichtlicher Art und Weise das Recht.
Ebenso verzichte die Stadt Zürich darauf, die Einhaltung der Verkehrsregeln durch die Teilnehmenden an der Critical Mass durchzusetzen und dulde die Störungen von Tram-, Bus- und weiterem Verkehr.
Die Untätigkeit des Beschwerdegegners stelle in mehrfacher Hinsicht eine klare Rechtsverletzung dar, welche nun schon viele Jahre andaure. Dem sei aufsichts- rechtlich zu begegnen und der Beschwerdegegner zur rechtsgleichen Durchsetzung der Gesetze zu verpflichten.
Stellungnahme Beschwerdegegner
10. Der Beschwerdegegner äusserte sich dazu in der Stellungnahme vom 8. Dezember 2022 zusammengefasst wie folgt:
Die weltweite Bewegung Critical Mass, eine Aktionsform, die in gemeinsamen Ausfahrten mit dem Velo bestehe, sei mit Unterbrüchen seit längerer Zeit in Zürich und zunehmend auch in anderen Schweizer und europäischen Städten präsent. Für die monatlich wiederkehrenden Critical-Mass-Ausfahrten werde in sozialen Medien aufgerufen und dabei darauf hingewiesen, dass es sich nicht um eine Demonstration handle. Es gebe keine offiziellen Ziele oder Forderungen. Wie Teil- nehmende verlauten liessen, solle es sich um ein spontanes, grosses Verkehrsaufkommen von Velos handeln. Critical Mass sei also eine gemeinsame Ausfahrt mit dem Velo auf den Strassen der Stadt, wobei der allgemeine Verkehr nicht ab- sichtlich blockiert werden solle, sondern die Ausfahrt Teil des Verkehrs sei. Man halte sich grundsätzlich an die Strassenverkehrsregeln und es gebe keine konkret vorgegebenen oder abgesperrten Routen. Es werde darauf hingewiesen, dass es keine Veranstaltung auf zwei Rädern sei.
11. Bewilligungsgesuche für die Durchführung der Critical Mass gingen weder beim Sicherheitsdepartement noch bei der Stadtpolizei ein. Für die Erteilung einer Bewilligung bräuchten das Sicherheitsdepartement und die Stadtpolizei ein Gesuch einer Veranstalterin oder eines Veranstalters mit einer konkreten Ansprechperson, mit der sie zusammenarbeiten könnten. Solche lägen aber keine vor, da sich Critical Mass weder als Organisation noch als Demonstration verstehe. In der Zwischenzeit sei nicht zuletzt aufgrund der Medienberichterstattung notorisch bekannt, dass jeweils am letzten Freitag im Monat in Zürich eine Veloausfahrt statt- finde. Die Veloausfahrten fänden daher ohne Bewilligung statt.
12. Solange eine gemeinsame Radfahrt im Rahmen der strassenverkehrsrechtlichen Regeln stattfinden könne, liege schlichter Gemeingebrauch bzw. Strassenverkehr vor. Wenn sich gleichzeitig viele Verkehrsteilnehmende auf einem Strassenabschnitt fortbewegten, komme es naturgemäss auch zu Stockungen mit entsprechenden Wartezeiten für andere Verkehrsteilnehmende. Nur weil sich dadurch ei- ne gewisse Erschwerung bei einer Strassenbenutzung ergebe, heisse das nicht auch zwangsläufig, dass die Gemeinverträglichkeit des Gebrauchs nicht mehr gegeben sei. Auch bei schlichtem Gemeingebrauch sei nämlich eine gewisse Erschwerung bei einer Strassennutzung hinzunehmen.
Die Frage, ob noch schlichter oder bereits gesteigerter Gemeingebrauch vorliege, könne bei gemeinsamen Veloausfahrten nicht generell beantwortet werden und hänge wohl von der Grössenordnung der jeweils infrage stehenden Veloausfahrt ab. Zusammenfassend sei festzuhalten, dass durch das gemeinschaftliche Radfahren auf einer zufällig gewählten Route der öffentliche Grund abhängig von der jeweiligen Teilnehmendenzahl unterschiedlich stark beansprucht werde und somit nicht in jedem Fall bewilligungspflichtig sei.
13. Die Beschwerdeführer störten sich an den Einschränkungen, die andere Verkehrs- teilnehmende wegen der Veloausfahrt Critical Mass im öffentlichen Strassenraum hinnehmen müssten und der Ungleichbehandlung mit denjenigen Personen, die für die Nutzung des öffentlichen Grunds als gesteigerten Gemeingebrauch eine entsprechende Bewilligung einholten und entsprechende Gebühren bezahlten. In diesem Zusammenhang sei festzuhalten, dass jede grössere Verkehrsmenge, auch verursacht durch Staus wegen Verkehrsüberlastung oder Unfälle, zu vorübergehenden Einschränkungen für die übrigen Verkehrsteilnehmenden und die Allgemeinheit führen könnten. Es gebe keinen Rechtsanspruch darauf, jede Strasse zu jedem Zeitpunkt für eigene Zwecke völlig frei und ohne irgendwelche Einschränkungen nutzen zu können. Bei denjenigen Personen, die vorgängig eine Bewilligung für die Nutzung des öffentlichen Grunds als gesteigertem Gemeingebrauch einholten, sei die gewünschte Route für ihren Anlass speziell reserviert. Sie hätten entsprechende Leistungsansprüche gegenüber der Stadt. Die Critical- Mass-Velofahrenden hingegen hätten keine solche reservierte Route und somit auch keine Leistungsansprüche gegenüber der Stadt, beispielsweise auf behördliche Sperrung von Teilen des öffentlichen Grunds.
14. Es sei unter dem Aspekt der Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht gänzlich von der Hand zu weisen, dass die Bewegung – ob gewollt oder nicht – die Anliegen der Velofahrenden auf die Strasse trage, indem eine gemeinsame Velofahrt unternommen werde. Aus Sicht des Sicherheitsdepartements und der Stadtpolizei wäre die Critical Mass, ginge man von gesteigertem Gemeingebrauch aus, bewilligungsfähig. Es bestehe aufgrund der Meinungs- und Versammlungsfreiheit nämlich ein bedingter Anspruch, für Demonstrationen öffentlichen Grund in einer den Gemeingebrauch übersteigenden Weise beanspruchen zu können.
15. Die Polizei habe sich bei jedem Einsatz an den verfassungsmässig garantierten Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu halten (vgl. Art. 5 Abs. 2 BV und § 10 Poli- zeigesetz [PolG]). Es liege grundsätzlich in der Kompetenz der Polizei im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung zu entscheiden, ob und wie sie im konkreten Fall einschreite. Seitens des Sicherheitsdepartements und der Stadtpolizei bestünden lediglich lose Kontakte zu einzelnen Critical-Mass-Velofahrenden. Es sei im Interesse der städtischen Behörden zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, auch im Kontakt zu einzelnen Critical-Mass-Velofahrenden zu stehen, damit die Verkehrssicherheit gewährleistet bleibe und es auch nicht zu übermässigen Einschränkungen bei der Nutzung des öffentlichen Grunds für die Allgemeinheit komme.
16. Vor dem Hintergrund der verfassungsmässigen Grundrechte toleriere die Stadtpolizei Demonstrationen in Ausnahmefällen auch ohne Bewilligung, da die Auflösung einer friedlichen Demonstration nur wegen einer fehlenden Bewilligung unverhältnismässig wäre. Auch der EGMR betone, dass nicht jede nicht ordnungsgemäss bewilligte Demonstration a priori eine Auflösung durch die Polizei rechtfertige. Eine Verletzung der Bewilligungspflicht alleine genüge nicht, um die Auflösung einer Demonstration zu rechtfertigen. Eine Auflösung nur wegen einer fehlenden Bewilligung, ohne Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, wäre also unverhältnismässig. Bei Demonstrationen sei eine Auflösung je nach Grösse oftmals nur mit einschneidenden Gewaltmitteln und unter Gefährdung der Teilnehmenden sowie allenfalls auch von Drittpersonen möglich. Die Entscheidung, ob und wann bei einer bewilligten oder unbewilligten Demonstration polizeilich interveniert werde, liege beim verantwortlichen Einsatzleiter oder der verantwortlichen Einsatzleiterin der Stadtpolizei und hänge von den jeweiligen anlassbezogenen Umständen und der sicherheitspolizeilichen Lagebeurteilung ab. Der Stadtpolizei stehe bei der Beseitigung von Störungen ein Ermessensspielraum zu. Diese Grundsätze würden unabhängig vom Inhalt politischer oder weltanschaulicher Botschaften gelten. Eine Velokolonne mit einem Eingreifen der Polizei mit Zwangsmitteln zu verhindern, sei schwierig und kaum möglich, ohne gleichzeitig auch die Bevölkerung, die übrigen Radfahrenden und den allgemeinen Verkehr nicht noch mehr zu beeinträchtigen. Ein solcher Einsatz wäre wie bereits ausgeführt nicht verhältnismässig, da auch bei einem Einsatz von polizeilichen Zwangsmitteln die Gefahr von verletzten Rad- fahrenden bestehe und zu einem Nachteil führe, der in einem erkennbaren Missverhältnis zum verfolgten Zweck stehe.
17. Die Stadtpolizei sei bei der Critical Mass mit entsprechenden polizeilichen Einsatz-kräften vor Ort präsent, mache die Velofahrenden beispielsweise darauf aufmerk- sam, dass Blockierungen von Strassen und Kreuzungen nicht zulässig seien und sorge dafür, dass die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmenden gewährleistet bleibe, damit es nicht zu Unfällen mit Personen- und/oder Sachschaden komme. Zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung würden neuralgische Zufahrten (z.B. Einfahrten zu Nationalstrassen) frühzeitig mit Polizeikräften gesperrt. Bei Differenzen zwischen Velofahrenden und anderen Verkehrsteilnehmenden würden – wann immer möglich – frühzeitig polizeiliche Dialogteams eingesetzt. Könnten Konflikte nicht mit Dialog geschlichtet werden, würden uniformierte Einsatzkräfte entsprechend eingreifen, was bis anhin lediglich in Einzelfällen vonnöten gewesen sei. Bei möglichen Blockaden würden die Teilnehmenden aufgefordert, sich umgehend wieder in Bewegung zu setzen und den polizeilichen Weisungen werde in der Re- gel Folge geleistet. Gemäss § 18 PolG werde gegen einzelne Störende vorgegangen, die die öffentliche Ordnung gefährdeten, damit der ÖV und andere Verkehrs- teilnehmende nicht unnötig lange blockiert würden. Bei gefährlichen Manövern würden Fehlbare wenn möglich angehalten und allenfalls verzeigt. Es gelte jedoch auch zu beachten, dass Verkehrsteilnehmende aufgrund von polizeilichen Kontrollen nicht einem Unfallrisiko ausgesetzt werden dürften. Im Vordergrund stehe für die Stadtpolizei denn auch immer die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmenden, wenn sie die Veloausfahrt Critical Mass begleite. Es gelte, Kollateralschäden zu vermeiden. Im Weiteren würden verkehrsfremde Aktivitäten wie beispielsweise der Verkauf von Getränken unterbunden. Die Stadtpolizei sorge also mit verhältnis- mässigem Vorgehen für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und nehme ihre Schutzpflichten zugunsten der Bevölkerung wahr (vgl. § 17 Polizeiorganisationsgesetz, POG).
18. Zusammengefasst seien das Sicherheitsdepartement und die Stadtpolizei dafür besorgt, die an sich friedliche Velokolonne in geordnete Bahnen zu lenken, damit es möglichst wenig Verkehrsbehinderungen gebe und brenzlige Situationen möglichst vermieden werden könnten. Eine grundsätzliche Verhinderung bzw. Auflösung der an sich friedlichen und auch grundrechtlich geschützten Critical Mass mit polizeilichen Zwangsmitteln wäre nicht verhältnismässig, da dadurch die direkt betroffenen Personen, aber auch die Allgemeinheit über Mass beeinträchtigt und allenfalls auch gefährdet würden. Die Stadtpolizei gehe aber gegen einzelne Störe- rinnen und Störer gemäss § 18 PolG vor, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung wie beispielsweise die Verkehrssicherheit gefährdeten, und nehme gegebenenfalls entsprechende Verzeigungen vor. Aus all diesen Gründen liege keine Pflichtverletzung vor und der Aufsichtsbeschwerde sei keine Folge zu geben.
Critical Mass – Selbstdarstellung und Datenmaterial 2022
19. Die Social-Media-Seiten der Critical Mass Zürich auf Facebook , Instagram und Twitter («Fanpages») enthalten jeweils die Information, dass die «monatliche Feier des Fahrradfahrens» (so Facebook) immer am letzten Freitag im Monat stattfinde und um 18.45 Uhr beim Bürkliplatz Zürich starte. Sodann wird jeweils auf die Webseite https://criticalmass-zh.ch verwiesen. Diese Fanseite hält fest, die Critical Mass sei ein spontanes, grosses Verkehrsaufkommen von Velos. Sobald am vereinbarten Treffpunkt die kritische Masse erreicht sei, setze sie sich in Bewegung. Die Route sei nicht festgelegt – wer zuvorderst fahre, bestimme die Richtung. Die Critical Mass sei keine Demonstration, es gebe keine offiziellen Ziele oder Forderungen, sie sei auch keine Party, kenne keine Verantwortlichen und werde von niemandem organisiert bzw. von allen («Wer organisiert die CM? Niemand. Alle. Ich. Du!»). Die Critical Mass sei einfach Verkehr, es werde einfach Velo gefahren. Und dies weder auf der Gegenfahrbahn noch auf dem Trottoir. Wenn die Ampel zuvorderst auf Rot stehe, werde angehalten. Schalte sie während der Durchfahrt um, fahre die ganze Masse durch. Autos und ÖV würden nur gecorkt (blockiert; s. unten), wenn es für die Sicherheit der Velofahrenden nötig sei. Unter den FAQ wird sodann erklärt, dass beim sog. Corken eine Kreuzung so abgesperrt werde, dass keine motorisierten Fahrzeuge in die Critical Mass gelangen könnten. Es gehe nicht darum, andere Verkehrsteilnehmer*innen zu provozieren, sondern die Sicherheit der Velofahrenden zu gewährleisten. Der Gegenverkehr werde nicht gecorkt.
20. Unter der Rubrik «Was ist die Critical Mass?» auf der genannten Website findet sich sodann vermerkt, Ziel sei es, eine «kritische Masse» zu erreichen, sodass dem motorisierten Verkehr auf Augenhöhe begegnet werden könne. (…) Wer sich mit dem Fahrrad in den Verkehr begebe, setze sich täglich grossen Gefahren aus und werde als minderwertiger Verkehrsteilnehmer marginalisiert. Würden sich je- doch hunderte von Velofahrer*innen für eine gemeinsame Fahrt finden, werde der öffentliche Raum vorübergehend zurückerobert und zu einem Ort des sozialen Austauschs.
21. Die Critical Mass fand gemäss den Angaben der Stadtpolizei Zürich im Jahr 2022 kurz zusammengefasst wie folgt statt (Protokoll vom 9. November 2022; SPZ- Einträge):
Datum | Anzahl der Teilnehmenden | besondere Vorkommnisse |
---|---|---|
28. Januar 2022 | bei Besammlung ca. 300 (gemäss Fanseite ca. 800) | – |
25. Februar 2022 | ca. 500 (gemäss Fanseite ca. 700) | – |
25. März 2022 | mehrere tausend (gemäss Fanseite ca. 2'000) | Sicherstellung eines Anhängers mit DJ-Pult bei Abschlussparty auf Sechseläutenplatz |
29. April 2022 | min. 2’500 (gemäss Fanseite ca. 3'500) | Eierwurf auf eine stehende Fahrradfahrergruppe; tätliche Auseinandersetzung zw. einem Fussgänger und einem Fahrradfahrer; zahlreiche «erboste Anrufe» bei der Einsatzzentrale der Stadtpolizei Zürich; Umzug teilweise 2 km lang; Teilnehmende an der Spitze benutzten öfters auch Gegenfahrbahn |
27. Mai 2022 | ca. 5’000 (gemäss Fanseite ca. 1'300) | vereinzelte Handgreiflichkeiten und verbale Auseinandersetzungen zw. Fahrradfahrenden, Autofahrenden und Zufussgehenden; zahlreiche «erboste Anrufe»; Abschluss auf der Landiwiese mit Schlussparty |
24. Juni 2022 | bei Besammlung ca. 700 (gemäss Fanseite ca. 1'500) | kurze verbale Entgleisungen genervter Automobilisten; Autobahnzufahrten durch Polizei abgeriegelt; Abschluss auf dem Turbinenplatz mit lauter Musik |
29. Juli 2022 | ca. 1’500 (gemäss Fanseite ca. 1'200) | zahlreiche Verkehrsbehinderungen; Sturz eines Velofahrenden; Abschluss auf dem Areal der Roten Fabrik mit lauter Musik – Sicherstellung eines Mischpults nach Eingang von Lärmklagen |
26. August 2022 | bei Besammlung ca. 1'500 (gemäss Fanseite ca. 2'000) | grössere Verkehrsbehinderungen; aufgrund der langen Wartezeiten versuchten vereinzelte Autofahrende, im Milchbucktunnel zu wenden; Zufussgehender von Fahrradfahrendem tätlich angegriffen; Abschluss am Zürichhorn mit Schlussparty (200-300 Personen) |
30. September 2022 | ca. 1’000 | diverse Verkehrsbehinderungen; kleinere Auseinandersetzungen zw. Fahrradfahrenden, «die etwas gar harsch den Verkehr aufgehalten hätten und Motorfahrzeuglenkern, die sich provoziert gefühlt oder ein Klopfen auf die Motorhaube nicht goutiert hätten»; Eierwurf auf die Teilnehmenden; Selbstunfall; Abschluss auf dem Kasernenareal mit Schlussparty (200-300 Personen) |
28. Oktober 2022 | ca. 800 (gemäss Fanseite: ca. 2'000) | Verschiedene Verkehrsbehinderungen; kleinere Auseinandersetzungen zw. Fahrradfahrenden, «die etwas gar harsch den Verkehr aufgehalten hätten und Motorfahrzeuglenkern, die sich provoziert gefühlt oder ein Klopfen auf die Motorhaube nicht goutiert hätten»; Abschluss auf der Kasernenwiese bzw. der Rentenanstalt-Wiese mit Schlussparty (200-300 Personen) |
25. November 2022 | ca. 250-300 | Abschluss beim Skaterpark unterhalb der Kornhausbrücke, Polizei löst Besammlung auf |
30. Dezember 2022 | ca. 200 | es herrschte Unklarheit, ob abgesagt; diverse Radfahrende nahmen an anderer Demonstration teil |
Der Fanseite ist sodann zu entnehmen, dass die Critical Mass jeweils auf einer Route von durchschnittlich 21.3 km stattfand und zwischen 2.10 und 3.10 Stunden dauerte.
Schlichter oder gesteigerter Gemeingebrauch – Definition
22. Wie bereits ausgeführt, versteht sich die Critical Mass selber einzig als Verkehr und weder als Demonstration noch als Party, was es aus rechtlicher Sicht zu prüfen gilt, zumal die von den Beschwerdeführern geltend gemachte Bewilligungspflicht davon abhängt.
Es stellt sich demnach zunächst die Frage, ob bei der Critical Mass ein bewilligungspflichtiger gesteigerter Gemeingebrauch oder noch ein bewilligungsloser schlichter Gemeingebrauch der Strasse vorliegt.
23. Schlichter (oder einfacher) Gemeingebrauch ist die Benützung einer öffentlichen Sache im Gemeingebrauch, welche bestimmungsgemäss und (kumulativ) gemein- verträglich ist; die Benützung im Rahmen des Gemeingebrauchs steht grundsätzlich jedermann ohne Erteilung einer besonderen Erlaubnis und in der Regel unentgeltlich offen (Dr. iur. André Werner Moser [nachfolgend: Moser], Der öffentliche Grund und seine Benützung [Abhandlungen zum schweizerischen Recht, Hrsg. Prof. Dr. Heinz Hausheer], 2011, S. 209 mit Hinweisen). Der gesteigerte Gemein- gebrauch unterscheidet sich vom schlichten Gemeingebrauch in der Weise, dass die Benützung der öffentlichen Sache entweder nicht mehr bestimmungsgemäss oder nicht mehr gemeinverträglich (oder weder noch) ist (Moser, a.a.O., S. 241).
24. Die Benützung öffentlichen Grundes ist bestimmungsgemäss, wenn sie der Zweckbestimmung der in Frage stehenden öffentlichen Fläche entspricht (Moser, a.a.O., S.211).
Gemeinverträglich ist eine Nutzung dann, wenn sie von allen interessierten Bürgern gleichermassen ausgeübt werden kann, ohne dass andere an der gleichen Nutzung übermässig behindert werden. Die Benützung im Rahmen des Gemeingebrauchs soll demzufolge eine gleichartige und gleichzeitige Benützung der gleichen Sache durch eine unbestimmte Vielzahl von Personen weder verunmöglichen noch übermässig beeinträchtigen. Die Voraussetzung der gleichzeitigen Benutzbarkeit ist jedoch zu relativieren: Es versteht sich von selbst, dass das gleich- zeitige Befahren ein und derselben Strasse durch mehrere Fahrzeuge regelmässig zu einer gewissen Erschwerung in ihrer Benützung führt, ohne dass dieser Gebrauch als nicht mehr gemeinverträglich zu qualifizieren wäre. Die Gemeinverträglichkeit fehlt dann, wenn sich die gleichartige Mitbenützung durch andere nicht mehr durch eine allgemeine Benützungsordnung (z.B. durch Verkehrsregeln) regeln lässt, sondern eine (individuell-konkrete) Sonderregelung, wie beispielsweise eine zeitliche oder räumliche Aufteilung für den Einzelfall notwendig wird. Gemein- gebrauch impliziert so gesehen, dass bei Normalbedingungen eine gewisse Selbstregulierung unter den Benützern funktioniert (Moser, a.a.O., S. 213 f. mit Hinweisen).
25. In Bezug auf Demonstrationen ist festzuhalten, dass diese auf die Benutzung des öffentlichen Raums angewiesen sind. Diese Nutzung ist wohl bestimmungsgemäss, da öffentliche Strassen und Plätze auch dem Zweck der gegenseitigen Kommunikation dienen. Allerdings sind Kundgebungen regelmässig nicht gemein- verträglich, weshalb sie gesteigerten Gemeingebrauch darstellen (Patrice Martin Zumsteg [nachfolgend: Zumsteg], Demonstrationen in der Stadt Zürich, 2020, N 237). Wird öffentlicher Grund durch eine Mehrzahl von Personen beansprucht (z.B. im Rahmen einer Demonstration), so bemisst sich die Gemeinverträglichkeit selbstredend nicht anhand des Strassengebrauchs des einzelnen Kundgebungs- teilnehmenden, sondern nach Massgabe der Inanspruchnahme durch die die Veranstaltung bildende Personengesamtheit (die Demonstration als solche; Moser, a.a.O., S. 247). Zu beachten ist auch, dass sowohl jene Benützung, welche sich mit einer anderen Benützung der gleichen Art nicht verträgt (eine Demonstration lässt keinen Raum für eine zweite derartige Veranstaltung), als auch jene Benützung, welche eine andersartige bestimmungsgemässe Benützung verdrängt, nicht mehr gemeinverträglich ist (vgl. Moser, a.a.O., S. 246).
Auch das Bundesgericht ging verschiedentlich davon aus, dass die Inanspruchnahme des öffentlichen Grundes für Demonstrationsversammlungen und -umzüge einen gesteigerten Gemeingebrauch darstelle (BGE 96 I 225, BGE 127 I 168, BGE 124 I 267). So hielt es fest, dass die öffentlichen Strassen und Plätze, die für Veranstaltungen und Umzüge beansprucht würden, in erster Linie für andere Zwecke bestimmt seien, die sich mit der Abhaltung jener Veranstaltungen nicht vertragen würden, verstosse doch derjenige, der an einem Umzug teilnehme, fast unausweichlich gegen Verkehrsvorschriften des Bundesrechts (Art. 49 SVG und 46 ff. der Verkehrsregelnverordnung, VRV). Es werde also in jedem Falle ein polizeiwidriger Zustand geschaffen, der in einer Stadt mit starkem Verkehr bis zum Zusammenbruch desselben mit unter Umständen schwerwiegenden Folgen für einzelne Verkehrsteilnehmer sowie zu Verkehrsunfällen führen könne. Die öffentliche Ordnung und Sicherheit werde demnach durch Veranstaltungen auf öffentlichen Strassen und Plätzen nicht nur in Ausnahmefällen, sondern regelmässig gestört, und diese Störung könne auch dann, wenn keinerlei politische Bedenken bestünden, für die Bevölkerung oder Teile derselben, z.B. solcher, die auf die Offenhaltung bestimmter Verkehrswege dringend angewiesen seien, unzumutbar sein (BGE 96 I 231 zur Bewilligungspflicht für Demonstrationen). Solche Kundgebungen bedingten, dass entsprechender öffentlicher Grund zur Verfügung gestellt werde, schränkten die gleichartige Mitbenützung durch unbeteiligte Personen ein und seien lokal und temporär nicht mehr gemeinverträglich. Dies rufe nach einer Prioritätenordnung unter den verschiedenen Benutzern. Demonstrationen dürften daher einer Bewilligungspflicht unterworfen werden (BGE 127 I 169 mit Hinweisen).
Schlichter oder gesteigerter Gemeingebrauch – Rechtsgrundlagen der Stadt Zürich
26. Die Benutzung des öffentlichen Grundes der Stadt Zürich ist in Art. 13 der Allgemeinen Polizeiverordnung (APV) geregelt. Gestützt darauf hat der Stadtrat die Verordnung über die Benutzung des öffentlichen Grundes (Benutzungsordnung) erlassen. Demnach unterliegt die nicht bestimmungsgemässe oder nicht gemein- verträgliche Benutzung des öffentlichen Grundes insbesondere zu gewerblichen, baulichen, privaten, gemeinnützigen oder politischen Sonderzwecken einer Bewilligungs- und Gebührenpflicht (Art. 13 Abs. 2 APV und Art. 2 Abs. 1 Benutzungsordnung). Die Bewilligung wird erteilt, wenn die örtlichen Verhältnisse dies zulassen und der Schutz der Polizeigüter gewährleistet ist (Art. 3 Abs. 1 Benutzungsordnung). Sie kann mit entsprechenden Bedingungen und Auflagen versehen wer- den (Art. 3 Abs. 2 Benutzungsordnung).
Die Bewilligungspflicht gilt unter anderem nach Art. 21 Abs. 1 Benutzungsordnung für politische und religiöse Umzüge, Mahnwachen und Kundgebungen. Bei Benutzungen zu politischen Zwecken entfällt die Benutzungsgebühr (Art. 13 Abs. 3 Satz 3 APV).
Die Benutzung des öffentlichen Grundes für Veranstaltungen («zeitlich und örtlich begrenzte Anlässe auf öffentlichem Grund im Freien […] mit Ausnahme politischer und religiöser Anlässe im engeren Sinne») wurde sodann gestützt auf Art. 14 der Benutzungsordnung in den Veranstaltungsrichtlinien der Stadt Zürich näher geregelt. Demnach wird bis zu einem Tag pro Jahr bis spätestens 23.00 Uhr bzw. sonntags und während der Winterzeit bis spätestens 22.00 Uhr eine von Privatpersonen, einzelnen Vereinen oder der Verwaltung organisierte Veranstaltung beim Nachweis eines öffentlichen Interesses auf öffentlichem Grund bewilligt (Art. 15 der Veranstaltungsrichtlinien, «übrige Veranstaltungen»).
Abschliessend ist festzuhalten, dass sich unter anderem strafbar macht, wer den öffentlichen Grund ohne Bewilligung zu Sonderzwecken benutzt oder an nicht bewilligten Veranstaltungen teilnimmt oder ankündigt, daran teilzunehmen (Art. 26 lit. a, c und d der Benutzungsordnung, Art. 26 APV).
Schlichter oder gesteigerter Gemeingebrauch – Critical Mass
27. Aus dem Ausgeführten ergibt sich ohne Weiteres, dass der Fahrradverkehr auf öffentlichen Strassen im Rahmen der Verkehrsregeln grundsätzlich schlichten Gemeingebrauch darstellt (vgl. auch Moser, a.a.O., S. 232). Bei der Critical Mass gilt es allerdings zu beachten, dass eine mehr oder weniger geschlossene Masse von Radfahrenden die Fahrbahn für sich beansprucht und dabei die Strassenverkehrsregeln beispielsweise durch das Fahren bei Rotlicht, das sog. Corken oder auch das Fahren auf der Gegenfahrbahn verschiedentlich systematisch ausser Acht lässt – was auch das reichhaltige Bildmaterial auf der Fanseite verdeutlicht und sich beim Augenschein des Statthalters vom 25. November 2022 bestätigte. Ebenfalls lässt sich im Archiv der Seite ein Eintrag vom 30. Dezember 2021 abrufen, welcher einen Bericht mit einem Protokoll von einem Telefonmeeting vom 29. Dezember 2021 enthält, wobei das Protokoll durch den Einsatzleiter der Stadtpolizei Zürich gegengelesen und freigegeben worden sei. Im Protokoll wird explizit festgehalten, die Regeln der Critical Mass würden nicht den Regeln der Stadtpolizei entsprechen und hätten auch keinerlei gesetzliche Grundlagen, weder in der Strassenverkehrsgesetzgebung noch im Strafgesetzbuch. (…) Das Korken (Corken) werde weiterhin polizeilich toleriert. Auch «bei Rot über Ampel fahren» werde an der Critical Mass weiterhin ohne Polizeibewilligung toleriert. Die Spitze/die Ersten der Critical Mass müssten bei Rot anhalten und bei Grün losfahren; danach fahre die gesamte Masse durch, auch falls es wieder auf Rot umschalte, bis alle durch seien. Wichtig dabei sei, möglichst keine Lücken entstehen zu lassen und dass weiterhin fleissig und in Gruppen gekorkt werde. Im Zweifelsfall und wenn sehr grosse Lücken entstehen würden oder man bei einer Auseinandersetzung nicht mehr weiterwisse, dürfe das Korken auch unterbrochen werden.
In Anbetracht des Ausgeführten kann ausgeschlossen werden, dass die Critical Mass im Rahmen der strassenverkehrsrechtlichen Regeln stattfindet. Der weitere Verkehr wird dadurch in der Regel an der Strassennutzung vorübergehend gehindert oder stark eingeschränkt, sodass mangels Gemeinverträglichkeit klarerweise gesteigerter Gemeingebrauch vorliegt. Zu berücksichtigen ist immerhin, dass die Anzahl Teilnehmender der Critical Mass von der Jahreszeit und der Witterung abhängig ist und im Jahr 2022 ungefähr zwischen 200 und 5'000 schwankte. Dies bedeutet, dass bei sehr wenigen Teilnehmenden von einer entsprechend gering- fügigeren Einschränkung des weiteren Verkehrs auszugehen ist und schlichter Gemeingebrauch nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Allerdings hielt die Stadtpolizei Zürich selber bezüglich der Critical Mass im Oktober 2022 mit rund 800 Radfahrenden fest, dass es trotz relativ geringer Anzahl Teilnehmender in der ganzen Stadt zu Verkehrsbehinderungen gekommen sei. Und selbst im Dezember 2022 wurden bei zwischenzeitlich maximal 200 Teilnehmenden Verkehrsblockaden, Tramstillstand und die Notwendigkeit einer Autoverkehrsumleitung polizeilich rapportiert. Die Critical Mass scheint somit eine Mindestgrösse erreicht zu haben, die die Annahme von Gemeinverträglichkeit nicht mehr zulässt. Auch die notwendige polizeiliche Begleitung der Critical Mass zeigt auf, dass keine Selbstregulierung bzw. keine Regulierung des Verkehrs durch die Strassenverkehrsregeln mehr möglich sind. Auch wenn dem Beschwerdegegner somit im Grundsatz zuzustimmen ist, dass die Frage, ob bei einer «gemeinschaftlichen Fahrradfahrt» schlichter oder gesteigerter Gemeingebrauch vorliegt, nicht generell beantwortet werden kann und der Einzelfall betrachtet werden muss, so ist bezüglich der Critical Mass aufgrund der bisherigen Erfahrungswerte zweifelsfrei von – bewilligungspflichtigem – gesteigertem Gemeingebrauch auszugehen.
Critical Mass als Demonstration
28. Weiter gilt es zu prüfen, ob sich die Critical Mass als Demonstration charakterisieren lässt. Zu diesem Zweck gilt es, den Begriff der Demonstration zu klären.
29. Gemeinhin wird unter einer Demonstration eine Versammlung von Personen verstanden, anlässlich welcher die Teilnehmenden ein ideelles Anliegen an die Öffentlichkeit herantragen wollen. Einer solchen Versammlung kommt demnach Appellfunktion zu (vgl. Zumsteg, a.a.O., N 36). Anders ausgedrückt: Demonstrationen sind öffentliche Manifestationen, durch die eine Gruppe von Personen gewisse Anliegen dem Publikum näherbringen will (Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 10. Aufl., 2020, S. 146 N 468).
Sodann hat die demonstrative Meinungsäusserung politischen Charakter, wobei eine Meinungsäusserung politisch ist, wenn sie sich auf eine öffentliche Angelegenheit bezieht. Öffentliche Angelegenheiten sind Probleme in jedem Lebensbereich, welche auf lokaler, regionaler, nationaler oder internationaler Ebene auf all- gemeines Interesse stossen. Da Politik, in einem weiteren Sinne verstanden, die Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten bedeutet, hat die Meinungsbildung in öffentlichen Angelegenheiten immer politischen Charakter (Jürg Bosshart, Demonstrationen auf öffentlichem Grund, aus: Zürcher Beiträge zur Rechtswissenschaft, Nr. 420, 1973, S. 21).
30. Rechtsprechungsgemäss unterstehen Kundgebungen dem Schutz der Versammlungs- und der Meinungsfreiheit (Art. 22 und 16 BV). Im Vordergrund steht dabei die Versammlungsfreiheit, da es sich bei der Meinungsfreiheit gemäss Art. 16 BV um ein gegenüber den speziellen Formen der Kommunikation subsidiäres Auf- fanggrundrecht handelt (BGE 144 I 281 E. 5.3.1 mit Hinweis). Die Versammlungsfreiheit wird durch Art. 22 BV sowie Art. 11 EMRK und Art. 21 UNO-Pakt II gewährleistet.
Nach Art. 22 Abs. 2 BV hat jede Person das Recht, Versammlungen zu organisieren, daran teilzunehmen oder davon fernzubleiben. Zu den Versammlungen gehören unterschiedliche Arten des Zusammenfindens von Menschen im Rahmen einer gewissen Organisation zu einem weit verstandenen gegenseitig meinungsbilden- den oder meinungsäussernden Zweck (BGE 147 I 161 E. 4.2; BGE 144 I 281 E. 5.3.1; BGE 143 I 147 E. 3.1; BGE 137 I 31 E. 6.1). Die Versammlungsfreiheit bildet eine zentrale Voraussetzung für die freie demokratische Willensbildung und die Ausübung der politischen Rechte und ist ein unentbehrlicher Bestandteil jeder demokratischen Verfassungsordnung. Kundgebungen bzw. Demonstrationen zeichnen sich gegenüber anderen Versammlungen insbesondere durch ihre spezifische Appellfunktion aus, d.h. durch das Ziel, die Öffentlichkeit auf ein Anliegen der Teilnehmer aufmerksam zu machen (BGE 148 I 43 E. 6.2 mit Hinweisen).
Kundgebungen sind – anders als beispielsweise private Veranstaltungen – in erster Linie auf Aussenwirkungen bedacht. Im Gegensatz zu anderen Formen von Meinungsbildung richten sie sich nicht primär an Personen, die sich ohnehin bereits für ein bestimmtes Thema interessieren; vielmehr sollen auch Dritte bzw. Passanten sowie die Medien auf die jeweiligen Anliegen aufmerksam gemacht werden. Kundgebungen auf öffentlichem Grund bilden somit ein wirksames Forum, sich in der breiten Öffentlichkeit und den Massenmedien wirksam Gehör zu verschaffen. Insofern erfüllt die Versammlungsfreiheit auch eine Ventil- sowie eine «Warn-, Kontroll- und Innovationsfunktion» (BGE 148 I 32 E. 7.8.1 mit Hinweisen).
31. In Bezug auf die Critical Mass bedeutet dies, dass sie zwar nicht als Demonstration verstanden werden will, mit ihrem Ziel, eine «kritische Masse» zu erreichen, sodass dem motorisierten Verkehr auf Augenhöhe begegnet werden kann, allerdings eine Appellwirkung an die Öffentlichkeit beabsichtigt wird. Diese Appellwirkung macht nun aber, neben dem gesteigerten Gemeingebrauch aufgrund der Teilnehmerzahl und/oder der Mobilität, eine Demonstration typischerweise gerade aus (vgl. auch Basler Kommentar, Bundesverfassung, Hertig, N 7 zu Art. 22 BV). Dabei ist die Förderung des Veloverkehrs unbestreitbar ein politisches Anliegen. Zu nennen ist die Bundesverfassung (Art. 88 BV), aber insbesondere auch auf städtischer Ebene den Strategie-Schwerpunkt «Sicher Velofahren», die Mobilitätsstrategie «Stadtverkehr 2025» und die «Velostrategie 2030», welche den «Masterplan Velo» ablöste .
Auch dem auf der erwähnten Fanseite veröffentlichten «Critical Massifesto» lässt sich zusammengefasst entnehmen, die Critical Mass solle als Gegenmittel gegen die Aushöhlung des öffentlichen Raums, was unser Leben belaste, dienen. (…) Velofahren werde von einigen als der entscheidende Schritt angesehen, den jeder von uns (den Radfahrenden) unternehmen müsse, um den Würgegriff grosser zentralisierter, kapitalintensiver Verkehrssysteme zu durchbrechen. Das Argument, das jenem für alternative Energieträger vor einigen Jahrzehnten ähnle, laute, dass durch den einfachen Akt der Verringerung der individuellen Abhängigkeit von Automobilen die Autonomie (der Radfahrenden) erweitert werde und dazu beigetragen werde, die Macht zentralisierter Hierarchien und damit den Kapitalismus selbst zu überwinden. In dieser Hinsicht stehe die Fahrradförderung fest in der Tradition des westlichen Wunschdenkens nach einer technologischen Lösung komplexer Probleme der menschlichen Gesellschaft und der historischen Entwicklung.7
32. Zusammengefasst ergibt sich, dass die Teilnehmenden der Critical Mass sich physisch versammeln, um einer politischen Haltung Ausdruck zu geben bzw. eine Meinung zu äussern. Sie wollen gemeinsam den öffentlichen Raum zurückerobern und zu einem Ort des sozialen Austauschs machen und dem motorisierten Ver- kehr auf Augenhöhe begegnen – wodurch die Critical Mass entgegen der Selbstdeklaration als Demonstration zu verstehen ist. Daran ändert auch nichts, dass bei der Critical Mass eine festliche Atmosphäre herrscht bzw. dass sie gemäss Fanseite «bunt, laut und fröhlich» ist, zumal eine Demonstration nicht durch die Stimmung der Teilnehmenden definiert wird. Irrelevant ist auch, dass keine Transparente oder Spruchbänder mitgeführt werden oder mittels Sprechgesang auf sich aufmerksam gemacht wird. Wie es der Name der Critical Mass schon aussagt, ist die Masse an Radfahrenden, welche den weiteren Verkehr zu blockieren vermag, ausdrucksstark genug. Dies bezeugt denn auch der wachsende Bekanntheitsgrad der Bewegung und die zunehmende mediale Berichterstattung.
33. Es ist im Übrigen auch nicht ersichtlich, inwiefern die mangelnde Organisationsstruktur der Critical Mass gegen die Definition als Demonstration (als eine besondere Form der Versammlung) sprechen würde. Das Bundesgericht versteht unter Versammlungen nach Art. 22 BV «unterschiedliche Arten des Zusammenfindens von Menschen im Rahmen einer gewissen Organisation mit einem weit verstandenen gegenseitig meinungsbildenden oder meinungsäussernden Zweck». An das Kriterium der «gewissen Organisation» dürfen dabei keine zu hohen Anforderungen gestellt werden: Eine minimale Verbindung zwischen den Teilnehmenden genügt (Basler Kommentar, a.a.O., Hertig, N 3 und 4 zu Art. 22 BV).
34. Die Definition als Demonstration ist insofern von Relevanz, als die Critical Mass dadurch unter dem Schutz der Versammlungs- und Meinungsfreiheit nach Art. 22 und 16 Abs. 1 und 2 BV steht. Dabei ist zu beachten, dass das Bundesgericht da- rauf hinwies, dass nicht alle Veranstaltungen gleich zu behandeln seien, da es sachliche Gründe für eine unterschiedliche Behandlung geben könne. Die Besonderheit politischer Kundgebungen bestehe unter anderem darin, dass sie zur demokratischen Meinungsbildung beitragen würden, indem auch Anliegen und Auffassungen in der Öffentlichkeit zum Ausdruck gebracht werden könnten, die inner- halb der bestehenden demokratischen Verfahren oder Einrichtungen weniger zum Ausdruck kämen. Das Bundesgericht habe seit jeher im Zusammenhang mit Demonstrationen auf den hohen Stellenwert hingewiesen, welcher der Versammlungsfreiheit aufgrund deren zentralen Bedeutung für die Meinungsbildung in einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat, besonders auch in politisch unruhigen Zeiten, zukomme (BGE 148 I 49 E. 7.7 f. mit Hinweisen).
35. In diesem Zusammenhang ist ergänzend darauf zu verweisen, dass die Critical Mass, die gesteigerten Gemeingebrauch darstellt, auch dann einer Bewilligungspflicht unterstehen würde, wenn sie nicht als Demonstration zu beurteilen wäre. Diese Bewilligungspflicht ist, wie bereits ausgeführt wurde, in der Stadt Zürich gesetzlich verankert.
In Betracht zu ziehen wäre allenfalls die Kategorisierung als Festanlass bzw. als Veranstaltung, was die Anwendbarkeit der Veranstaltungsrichtlinien der Stadt Zürich zur Konsequenz hätte (vgl. Art. 1). Nach deren Art. 15 werden «übrige Veranstaltungen» bis zu einem Tag pro Jahr (...) bei Nachweis eines öffentlichen Interesses auf öffentlichem Grund bewilligt.
Bei einer solchen Veranstaltung entfällt zum einen der weitreichende Grundrechts-schutz der Meinungs- und Versammlungsfreiheit für Demonstrationen nach Art. 16 und 22 BV sowie Art. 11 EMRK, welcher beispielsweise bei der Interessenabwägung beim Entscheid über die Bewilligung einer Demonstration ins Gewicht fällt, haben die Behörden doch auch dem legitimen Bedürfnis, Veranstaltungen mit Appellwirkung an eine breite Öffentlichkeit durchführen zu können, angemessen Rechnung zu tragen. Dies hat allerdings nicht nur soweit abstrakte rechtstheoretische Folgen, sondern bedeutet konkret auch, dass bei «anderen» Veranstaltungen im Gegensatz zu der Benutzung des öffentlichen Grundes zu politischen Zwecken eine Benutzungsgebühr entrichtet werden muss (vgl. Art. 13 Abs. 3 APV, Art. 5 Abs. 1 der Benutzungsordnung, Art. 18 der Veranstaltungsrichtlinien, Gebührenordnung Veranstaltungsrichtlinien) – was in finanzieller Hinsicht von grosser Trag- weite sein kann. Auch die Frist zum Einreichen eines Bewilligungsgesuches fällt nach Art. 2 Abs. 2 der Benutzungsordnung bei einer politischen Veranstaltung wesentlich kürzer aus (mindestens 3 Arbeitstage vor Nutzungsbeginn) als bei einer anderen Veranstaltung (mindestens vier Wochen vor Nutzungsbeginn). Auf die weiteren Unterscheidungen ist hier nicht einzugehen, da die Critical Mass als Demonstration betrachtet wird.
36. Zum Selbstverständnis der Critical Mass als Verkehr und nicht als Demonstration ist ergänzend zu den Ausführungen betreffend schlichten und gesteigerten Gemeingebrauch allerdings auf Folgendes hinzuweisen:
37. Das Bundesgericht hatte sich auch schon in strafrechtlicher Hinsicht verschiedentlich mit Verkehrsblockaden auseinanderzusetzen (BGE 108 IV 165, BGE 134 IV 2016 etc.). Beispielhaft ist BGE 119 IV 301 zu nennen, worin das Bundesgericht einen Vorfall behandelte, bei welchem drei Männer (darunter der Beschwerdeführer jenes Verfahrens) die zu jenem Zeitpunkt aus Gründen des Bahn- betriebs gesenkten Schranken eines Bahnübergangs mit verschiedenen Mitteln manipulierten und dadurch am Öffnen hinderten. Die drei Männer stellten sich daraufhin auf den Bahnübergang und hielten ein beschriftetes Transparent mit politischen Äusserungen hoch. Durch die Folgen der Schliessung (bzw. durch «diese Anwendung von Gewalt ähnlichen Mitteln») musste eine unbestimmte Vielzahl von Verkehrsteilnehmenden vor den Bahnschranken rund 10 Minuten länger als durch den Bahnverkehr bedingt warten oder aber unter Benützung von beidseits vor dem Bahnübergang einmündenden Querstrassen Umwegsfahrten vornehmen. Dies habe, so das Bundesgericht, auch unter der gebotenen Berücksichtigung der verfassungsmässigen Rechte des Beschwerdeführers den Straftatbestand der Nötigung nach Art. 181 StGB erfüllt, zumal dazu eine Blockierung des Verkehrs während rund 10 Minuten genüge, wenn die Aktion im Sinne einer Blockade gerade auf die Behinderung des Verkehrs abziele. Dass es den betroffenen Verkehrsteilnehmern möglich gewesen wäre, mittels Umweg an ihr Ziel zu gelangen, sei unerheblich. Art. 181 StGB schütze die Freiheit der Willensbildung und Willensbetätigung und sei auch dann anwendbar, wenn der Betroffene sein Ziel auf einem an- deren als dem von ihm gewollten Weg hätte erreichen können. Im Übrigen sei es dem Beschwerdeführer ja gerade auch darum gegangen, dass sich ein möglichst grosser Stau bilde, auf dass darüber und damit auch über sein mit der Aktion vertretenes Anliegen in den Medien berichtet werde. Die im Stau verharrenden Verkehrsteilnehmer seien weitgehend bloss Marionetten in der vom Beschwerdeführer inszenierten Schau gewesen, gleichsam Bestandteile der von ihm durch Versperren der Bahnschranken mediengerecht und medienwirksam provozierten Autoschlange.
38. In Anbetracht dieser Rechtsprechung lässt sich an dieser Stelle zumindest die Frage aufwerfen, ob das sog. Corken , bei welchem sich Radfahrende ohne polizeiliche Bewilligung an Kreuzungen so auf die Fahrbahn stellen, dass die Fahr- bahn für den motorisierten Verkehr über einen längeren Zeitraum hinweg gesperrt wird und die Teilnehmenden der Critical Mass ungehindert passieren können, eine Nötigung nach Art. 181 StGB darstellen kann. Dabei wäre wohl auch zu berück- sichtigen, dass in der genannten Rechtsprechung die Meinungs- und Versammlungsfreiheit nach Art. 16 und 22 BV keinen Rechtfertigungsgrund darstellte, was umso mehr bei einer reinen Vergnügungszwecken dienenden Fahrradfahrt gelten dürfte. Da es vorliegend allerdings nicht um eine strafrechtliche Beurteilung der Critical Mass geht, sind diese Betrachtungen nicht weiter zu vertiefen. Selbstredend reicht eine oberflächliche Betrachtungsweise nicht aus, um strafrechtlich relevante Aussagen zu tätigen.
Bewilligungspflicht
39. Wie bereits ausgeführt, besteht bei gesteigertem Gemeingebrauch in der Stadt Zürich eine Bewilligungspflicht (Art. 13 Abs. 2 APV; Art. 2 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 Benutzungsordnung). Der Beschwerdegegner führt diesbezüglich sinngemäss aus, dass die Critical Mass – bei der Annahme gesteigerten Gemeingebrauchs – gestützt auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit bewilligungsfähig wäre, bis anhin aufgrund der (mangelnden) Organisationsstruktur und mangels Ansprechperson allerdings keine Bewilligung eingeholt bzw. ausgesprochen worden sei und die Critical Mass stattdessen polizeilich geduldet werde.
40. Diesbezüglich ist zunächst darauf zu verweisen, dass aus dem vorgängig genanntem Bericht des «Legal Team aka antirep Kollektiv» hervorgeht, dass monatliche Gespräche zwischen der Einsatzleitung der Stadtpolizei Zürich und mindestens einer Person aus dem «Legal Team aka antirep Kollektiv» stattfinden würden. Das Legal Team aus dem antirep Kollektiv habe sich im Februar 2021 aus der Critical Mass gebildet. Diese Angaben lassen den Schluss zu, dass – entgegen den Ausführungen des Beschwerdegegners – zumindest eine Ansprechperson vorhanden zu sein scheint, auch wenn im Protokoll festgehalten wird, dass es keinerlei Organisation oder Verantwortliche der Critical Mass gebe. Die Vorsteherin des Sicherheitsdepartements bestätigte denn auch, dass solche Gespräche informell und ohne die Erstellung eines schriftlichen Protokolls stattfinden würden.
41. Weiter ist die Feststellung des Beschwerdegegners, dass die Critical Mass bewilligungsfähig wäre, differenziert zu betrachten.
Zunächst ist korrekt, dass die Verweigerung der Bewilligung nur in Betracht fällt, wenn die Veranstaltung aufgrund der konkreten Umstände mit grosser Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte und unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt. Das Verbot einer Kundgebung stellt somit eine Ultima Ratio gegenüber milderen Mitteln (Bedingungen, Auflagen) dar (Basler Kommentar, a.a.O., Hertig, N 23 zu Art. 22 BV).
Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass ein unbedingter Anspruch auf Erteilung einer Bewilligung besteht. Im Bewilligungsverfahren sind nämlich nicht nur Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit einer Kundgebung, sondern ebenso sehr die Randbedingungen, allfällige Auflagen und eventuelle Alternativen zu prüfen. Die Veranstalter können daher nicht verlangen, eine Kundgebung an einem bestimmten Ort, zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter selbst bestimmten Randbedingungen durchzuführen; hingegen haben sie Anspruch darauf, dass der von ihnen beabsichtigten Appellwirkung Rechnung getragen wird (BGE 132 I 256 E. 3; Urteile des Bundesgerichts 1C_322/2011 vom 19. Dezember 2011 E. 2 und 1C_485/2013 vom 3. Dezember 2013 E. 2.1).
Die Bewilligungsbehörde kann unter Vornahme einer umfassenden Interessenabwägung und Beachtung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit eine Bewilligung unter Auflagen erteilen oder eine Kundgebung an einem anderen Ort oder zu einem anderen Zeitpunkt bewilligen. Bezüglich der Örtlichkeit kann sie eine andere Route oder für eine Platzdemonstration einen anderen Ort oder eine Platzdemonstration anstelle eines Umzugs vorsehen (Urteil des Verwaltungsgerichts VB.2019.00453 vom 27.08.2019 E. 5.1).
42. In Anbetracht dieser Rechtsprechung lässt sich feststellen, dass die Critical Mass als Demonstration zwar wohl bewilligungsfähig wäre – aber nicht in der heute praktizierten Form ohne örtliche und zeitliche Beschränkung. Die Durchführung an jedem letzten Freitag im Monat ohne Rücksichtnahme auf allfällige andere stattfindende (Gross-) Veranstaltungen zu diesem Zeitpunkt, mit freier Routenwahl und beliebiger Dauer, wodurch der weitere Verkehr, Zufussgehende und Anwohnende in unvorhersehbarer Weise tangiert werden, hält einer umfassenden Interessenabwägung nicht stand. Je nach Route (die auch mehrfach über neuralgische Verkehrspunkte führen kann) wird insbesondere der private und öffentliche Verkehr punktuell oder auch grossflächig über einen längeren Zeitpunkt zum Erliegen gebracht, ohne dass die Polizei – und die stark störungsanfälligen öffentlichen Verkehrsmittel – entsprechende Vorkehren treffen und Umleitungen organisieren können. Gerade der Bus- und Trambetrieb kann aufgrund der aufeinander abgestimmten Verbindungen schon durch eine kurzfristige Unterbrechung einer Linie langfristig beeinträchtigt werden. Weiter erschwert die Unberechenbarkeit der Routenwahl ohne vorgängige Absperrungen die Aufrechterhaltung der Sicherheit für alle Ver- kehrsteilnehmenden (inklusive der Radfahrenden), wie beispielsweise auch fraglich ist, ob die Durchfahrt für die Blaulichtfahrzeuge so gewährleistet werden kann. Sodann verursacht die Critical Mass Lärmimmissionen, wie auch Abfall durch Littering ein Thema sein dürfte. Ganz generell werden die Freiheitsrechte unbeteiligter Dritter tangiert, wobei insbesondere die persönliche Freiheit, die Wirtschafts-freiheit oder die Eigentumsgarantie relevant sind (vgl. BGE 127 I 164 E. 3b; BGE 100 Ia 392 E. 5, BGE 138 I 274 E. 2.2.2). Geht der Beschwerdegegner ohne Weiteres von einer uneingeschränkten Bewilligungsfähigkeit der Critical Mass aus, ohne die entgegenstehenden Interessen nach objektiven Gesichtspunkten gegeneinander abzuwägen, kommt er seinem pflichtgemässen Ermessen beim Entscheid nicht nach. Zur Vornahme einer umfassenden Interessenabwägung gehört auch die Prüfung von Auflagen und Bedingungen, von alternativen Durchführungsorten oder einer (zeitlichen) Verschiebung (Urteil des Bundesgerichts 1P.53/2001, E. 5b vom 20. September 2001). Das Bewilligungsverfahren dient gerade der Koordination von unterschiedlichen Nutzungsansprüchen. Wäre bei einer Interessenkollision der verschiedenen Nutzungsarten des öffentlichen Raums der Ausübung der Kommunikationsgrundrechte uneingeschränkt Vorrang zu geben, bräuchte es kein Bewilligungsverfahren, durch welches eine sorgfältige Abwägung zwischen den entgegenstehenden öffentlichen Interessen garantiert wird.
Es ist erneut explizit darauf hinzuweisen, dass der Veranstalter einer Kundgebung zwar einen bedingten Anspruch darauf hat, dass ihm öffentliches Areal zur Durchführung seiner Kundgebung zur Verfügung gestellt wird. Er hat jedoch kein Recht auf Durchführung an einem ganz bestimmten Ort (Urteil des Verwaltungsgerichts VB.2019.00453 vom 27.08.2019 E. 6.2 mit Hinweis auf BGE 124 I 267 E. 3d).
43. Als Zwischenfazit ist somit festzuhalten, dass die Critical Mass aufgrund des gesteigerten Gemeingebrauchs und ihres politischen Zwecks bei der Stadtpolizei Zürich ein Gesuch um Bewilligung einer politischen Veranstaltung einzureichen hätte. Im Bewilligungsverfahren wäre es sodann die Pflicht der Stadtpolizei, die Verkehrs- und Sicherheitsaspekte zu klären und eine umfassende Abwägung sämtlicher von einer solchen Veranstaltung tangierten Interessen vorzunehmen und die Critical Mass gegebenenfalls unter Auflagen und Bedingungen insbesondere in Bezug auf die Route zu bewilligen. Möglich wäre auch, die Demonstrationsveranstalter zu verpflichten, einen Verkehrs- und Ordnungsdienst zu organisieren, um die Einhaltung der Demonstrationsroute zu gewähren.
44. Eine mangelnde Organisationsstruktur mit Verantwortlichen sowie das Selbstverständnis als Verkehr (was vorliegend mit schlichtem Gemeingebrauch gleichzusetzen ist) rechtfertigen keine Umgehung dieser durch Gesetz und Rechtsprechung verankerten Vorgehensweise. Es kann von den Teilnehmenden der Critical Mass verlangt werden, dass sie ihrer Mitwirkungspflicht nachkommen und eine verantwortliche Person bestimmen, welche das notwendige Gesuch einreicht und auf welche die Bewilligung ausgestellt werden kann. Wenn toleriert wird, dass es im Eigenermessen der Demonstrationsteilnehmenden liegt, ob sie einen Verantwortlichen bezeichnen und ob um Bewilligungserteilung ersucht oder die Demonstration unbewilligt durchgeführt wird, wird der Sinn des Bewilligungsverfahrens ausgehebelt und dieses letztlich obsolet. Diese Vorgehensweise entspricht denn auch nicht dem Erfordernis der rechtsgleichen Behandlung.
45. Art. 8 Abs. 1 BV garantiert die rechtsgleiche Behandlung aller Personen durch die Behörden. Er gebietet den Behörden einerseits, Gleiches nach Massgabe seiner Gleichheit gleich, und andererseits, Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln. Der allgemeine Gleichheitssatz stellt mit anderen Worten darauf ab, ob Gesetzgeber und rechtsanwendende Behörden die Grundrechtsträger in Übereinstimmung mit den tatsächlichen Verhältnissen behandeln. Er verbietet ihnen, Personen, die sich in der gleichen Lage befinden, ohne sachlichen Grund ungleich zu behandeln bzw. von einer unterschiedlichen Behandlung abzusehen, obwohl sich diese aufgrund der tatsächlichen Unterschiede aufdrängen würde (Belser/Waldmann, Grundrechte I, Allgemeine Grundrechtslehren, 2. Aufl., 2021, S. 259 N 14).
46. Sodann ist festzuhalten, dass für die die Zulassung bzw. Einschränkung von Versammlungen nicht massgebend sein darf, ob ihr Ziel den zuständigen Behörden mehr oder weniger wertvoll erscheint (BGE 132 I 256 E. 3; BGE 127 I 164 E. 3b S. 171).
Polizeiliche Massnahmen
47. Fraglich ist nun, welche Konsequenz sich aus der Tatsache, dass es sich bei der Critical Mass um eine unbewilligte Demonstration handelt, ergibt. Der Beschwerdegegner führt diesbezüglich aus, dass die Entscheidung, ob und wann bei einer bewilligten oder unbewilligten Demonstration polizeilich interveniert werde, bei der verantwortlichen einsatzleitenden Person liege und von den jeweiligen, anlassbezogenen Umständen und der sicherheitspolizeilichen Lagebeurteilung abhänge. Der Stadtpolizei stehe bei der Beseitigung von Störungen ein Ermessensspielraum zu. Eine Velokolonne mit einem Eingreifen der Polizei mit Zwangsmitteln zu verhindern, sei schwierig und kaum möglich, ohne gleichzeitig auch die Bevölkerung, die übrigen Radfahrenden und den allgemeinen Verkehr nicht noch mehr zu beeinträchtigen. Ein solcher Einsatz wäre nicht verhältnismässig, da auch bei einem Einsatz von polizeilichen Zwangsmitteln die Gefahr von verletzten Radfahrenden bestehe und zu einem Nachteil führe, der in einem erkennbaren Missverhältnis zum verfolgten Zweck sei (vgl. § 10 Abs. 2 und 3 PolG).
48. Zum besseren Verständnis sind zunächst die Grundlagen im Polizeigesetz wie auch der Begriff des Ermessens kurz darzulegen:
49. Im kantonalen Polizeigesetz ist festgehalten, dass die Polizei bei der Erfüllung ihrer Aufgaben an die Rechtsordnung gebunden ist (§ 8 Abs. 1 PolG). Sie achtet die verfassungsmässigen Rechte und die Menschenwürde der Einzelnen (§ 8 Abs. 2 PolG).
Polizeiliches Handeln muss zur Erfüllung der polizeilichen Aufgaben notwendig und geeignet sein (§ 10 Abs.1 § PolG). Unter mehreren geeigneten Massnahmen sind jene zu ergreifen, welche die betroffenen Personen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigen (§ 10 Abs. 2 PolG). Die Massnahmen dürfen nicht zu einem Nachteil führen, der in einem erkennbaren Missverhältnis zum verfolgten Zweck steht (§ 10 Abs. 3 PolG).
Diese Bestimmungen entsprechen den Grundsätzen rechtsstaatlichen Handelns nach Art. 5 BV.
50. Gemäss § 3 Abs. 1 PolG trägt die Polizei durch Information, Beratung, sichtbare Präsenz und andere geeignete Massnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bei.
51. Im 4. Abschnitt des Polizeigesetzes (§§ 18–44 PolG) sind sodann die einzelnen polizeilichen Massnahmen normiert – sie bilden den Schwerpunkt des Gesetzes. Der Katalog der polizeilichen Massnahmen ist als nicht abschliessend zu verstehen (Donatsch/Jaag/Zimmerlin, Kommentar zum Polizeigesetz des Kantons Zürich, Jaag, S. 200 N 4). Die polizeilichen Aktivitäten im Rahmen der Strafverfolgung richten sich nach der Strafprozessordnung (StPO).
52. Unter Ermessen versteht man einen gesetzlich eingeräumten Handlungsspiel- raum, der typischerweise dadurch gekennzeichnet ist, dass die Festlegung des «Ob» und/oder «Wie» den rechtsanwendenden Behörden überlassen wird (Rechtsfolgeermessen). Darüber hinaus kann sich Ermessen auch auf den Tatbestand beziehen (Tatbestandsermessen; Waldmann/Wiederkehr, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2019, S. 256).
53. Beim Entschliessungsermessen geht es um das «Ob», d.h. um die Frage, ob ein bestimmter Tatbestand im konkreten Fall überhaupt eine Rechtsfolge auslösen soll. Der Entschluss dazu (die «Entschliessung») liegt im Ermessen der Behörde. Beim Auswahlermessen geht es um das «Was». Hier stellt sich nicht die Frage, ob ein Tatbestand eine bestimmte Rechtsfolge auslösen soll, sondern welche von mehreren möglichen Rechtsfolgen er auslöst. Der Gesetzgeber gibt den rechtsanwendenden Organen eine bestimmte Auswahl; es liegt im Ermessen der Behörde, zwischen den verschiedenen Optionen zu wählen (Alain Griffel [nachfolgend: Griffel], Allgemeines Verwaltungsrecht im Spiegel der Rechtsprechung, 2022, S. 162 N 265 und 266).
54. Das Ermessen ist grundsätzlich «pflichtgemäss» auszuüben. Die Verwaltung hat die für den Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte zu prüfen und die erforderlichen Abklärungen sorgfältig sowie umfassend vorzunehmen. Sie darf nicht schematisch ohne Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls entscheiden. Zudem hat sie immer auch Sinn und Zweck der gesetzlichen Ordnung mitzuberücksichtigen (Waldmann/Wiederkehr, a.a.O., S. 258 N 37).
Pflichtgemässes Ermessen charakterisiert sich dadurch, dass der Vorgang und das Resultat der Ermessensausübung mit dem Gesetzeszweck konform sind und dass die grundlegenden Verfassungsprinzipien – namentlich Rechtsgleichheit, Verhältnismässigkeit, öffentliches Interesse, Treu und Glauben sowie das Willkürverbot – gewahrt bleiben. Dies sind Rechtmässigkeitsvoraussetzungen der Ermessensausübung (Nula Frei, Ermessen und unbestimmte Rechtsbegriffe im Verwaltungsrecht, ius.full 2021, S. 134).
55. Handhabt die Behörde das ihr eingeräumte Ermessen unsachgemäss (unzweckmässig), ohne dass bereits die Schwelle zu einem qualifizierten Ermessensfehler überschritten ist, spricht man von einem fehlerhaften Gebrauch des «einfachen», «schlichten» oder «gewöhnlichen» Ermessens. Solche normalen Ermessensfehler werden als Unangemessenheit bezeichnet (Griffel, a.a.O., S. 163 N 270). Die Behörde handelt zwar innerhalb des rechtlich eingeräumten Ermessensspielraums, übt dieses Ermessen jedoch in einer Weise aus, die die Umstände des Einzel- falls nicht hinreichend berücksichtigt und deshalb unzweckmässig, aber noch rechtmässig ist. Eine Rechtsverletzung liegt demnach nicht vor (Waldmann/Wiederkehr, a.a.O., S. 258 N 38). Als qualifizierte Ermessensfehler sind hin- gegen die Ermessensüberschreitung, die Ermessensunterschreitung und der Ermessensmissbrauch zu nennen, wobei es sich um Rechtsverletzungen handelt.
56. Ermessensüberschreitung liegt vor, wenn eine Behörde Ermessen walten lässt, wo ihr kein Ermessen eingeräumt wird (Waldmann/Wiederkehr, a.a.O., S. 259 N 40).
Von Ermessensunterschreitung spricht man dann, wenn die Behörde einen Ermessensspielraum nicht ausschöpft oder ihn auf unnötig schematisierende Weise handhabt; sie verzichtet von vornherein auf die Ermessensausübung oder wähnt sich gebunden, obwohl ihr das Gesetz Ermessen einräumt (Tschannen/Müller/Kern, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl., 2022, S. 232). Wo der Gesetz- oder Verordnungsgeber einen Handlungsspielraum einräumt, erwartet dieser von den Verwaltungsbehörden, dass sie diesen ausüben (Waldmann/Wiederkehr, a.a.O., S. 259 f. N 41).
Bei einem Ermessensmissbrauch hält sich die Behörde zwar formell an die gesetzlichen Schranken, übt das Ermessen aber in einer Weise aus, dass die getroffene Anordnung dem Zweck der gesetzlichen Ordnung widerspricht oder Verfassungsgrundsätze des Verwaltungsrechts verletzt. Sachfremde, unverhältnismässige, rechtsungleiche, auch willkürliche oder treuwidrige Handhabung des Ermessens gehören hierher (Tschannen/Müller/Kern, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl., 2022, S. 234).
57. In Bezug auf Demonstrationen bedeutet dies Folgendes:
Sowohl bei bewilligten wie auch bei unbewilligten Demonstrationen ist das Opportunitätsprinzip von zentraler Bedeutung, wonach die Polizeibehörden im Bereich der Gefahrenabwehr zu polizeilichem Handeln ermächtigt, jedoch nicht verpflichtet sind. Sie verfügen über ein Entschliessungsermessen in Bezug auf die Frage, ob überhaupt eingegriffen werden soll und ein Auswahlermessen hinsichtlich der Frage, auf welche Art und Weise ein allfälliger Eingriff erfolgen soll. Es handelt sich dabei nicht um ein freies, sondern um ein pflichtgemässes Ermessen (Christine Gander [nachfolgend: Gander], Sicherheit und Demonstrationen - Grenzen eines Grundrechts, Sicherheit & Recht 2/2008 S. 67 ff., 74 f.). Das sog. Opportunitätsprinzip stellt eine polizeispezifische Ausprägung des Verhältnismässigkeitsprinzips dar. Dieses Prinzip ermöglicht es den zuständigen Polizeibehörden, bei gleichzeitig auftretenden Gefahren oder Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung den begrenzt verfügbaren personellen und sachlichen Ressourcen Rechnung zu tragen, die Einsatzdoktrin den Verhältnissen anzupassen und gegebenenfalls Prioritäten zu setzen. Demnach ist es hinzunehmen, wenn die Polizei in gewissen Situationen nicht eingreift, obschon polizeiliche Schutzgüter verletzt werden. Jedoch steht diese Befugnis nicht einzugreifen der Polizei nur zu, wenn ihr die notwendigen Ressourcen zum Eingreifen fehlen (vgl. Kantonale Polizeihoheit, Eine systematische Darstellung des kantonalen Polizeirechts anhand des Schaffhauser Polizeigesetzes, 2016, Jürg Marcel Tiefenthal [nachfolgend: Tiefenthal], Art. 18 N 15 f.)
58. Eine Demonstration, die nicht vorgängig bewilligt worden ist, fällt nicht automatisch aus dem Schutzbereich der Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit. Greifen die Behörden zu Sanktionen bei unbewilligten Demonstrationen, so müssen diese verhältnismässig sein; insbesondere wenn die Demonstrierenden sich friedlich verhalten, müssen die Behörden ein bestimmtes Mass an Toleranz zei- gen. So wäre es etwa unverhältnismässig, eine Versammlung, die sich spontan gebildet hat und friedlich verläuft, nur deswegen aufzulösen, weil vorgängig keine Bewilligung eingeholt worden ist (Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr, a.a.O., S. 164; vgl. auch § 10 PolG).
59. Diesbezüglich ist mit Bezug zur Critical Mass allerdings zunächst festzustellen, dass bei dieser die Veranstaltungsdaten, Treffpunkt und Versammlungszeit festgelegt sind und kein Aktualitätsbezug vorliegt, womit es sich um einen vorhersehbaren Anlass handelt und nicht um eine Spontandemonstration, welche als unmittelbare Reaktion auf ein Ereignis stattfindet und ohne Bewilligung zulässig sein muss. Das Durchlaufen des ordentlichen Bewilligungsverfahrens wäre ohne Weite- res zumutbar (vgl. Zumsteg, a.a.O., S. 95 N 278).
60. Weiter kann als auslegungsbedürftig angesehen werden, ob eine Demonstration, die unter Missachtung der Strassenverkehrsregeln den Verkehr teilweise stilllegt, überhaupt noch als friedlich zu verstehen ist. Dabei sind diese Rechtsbrüche nicht nebensächlich, sondern geradezu Sinn und Zweck der Critical Mass, wird damit doch die geballte Macht der Radfahrenden ausgedrückt und insbesondere dem motorisierten Verkehr Überlegenheit demonstriert. Einzuräumen ist jedoch, dass vorliegend gewalttätige Ausschreitungen kein Thema sind.
61. Führt der Beschwerdegegner sodann aus, dass eine Auflösung nur wegen einer fehlenden Bewilligung, ohne Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, unverhältnismässig sei, so ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung als Oberbegriff für die polizeilichen Schutzgüter verwendet wird. Dabei umfasst die öffentliche Sicherheit die Unverletzlichkeit der objektiven Rechtsordnung (also aller Rechtsnormen des Staates), die Rechtsgüter einzelner Personen (Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum usw.) und die staatlichen Institutionen (Donatsch/Jaag/Zimmerlin, a.a.O., Schindler/Widmer, S. 60 N 10; Gander, a.a.O, S. 70). In Anbetracht dieses weiten Inhalts der öffentlichen Sicherheit ist somit vorliegend nicht nur das konkrete Gefahrenpotenzial durch die Critical Mass in Bezug auf die Sicherheit der Verkehrsteilnehmenden, mithin die Gefahr von Unfällen mit Personen- und/oder Sachschaden, relevant, sondern beispielsweise auch die Verletzung der Freiheitsrechte der von der Demonstration betroffener Dritten wie wohl selbst die Rechtsgleichheit als Teil der Rechtsordnung. Es ist somit bei der Critical Mass von einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auszugehen.
62. Weiter ist dem Beschwerdegegner grundsätzlich zuzustimmen, dass der Stadtpolizei ein Ermessen zukommt, ob sie bei der unbewilligten Durchführung der Critical Mass interveniert («Entschliessungsermessen») und wie sie dabei vorgeht («Aus- wahlermessen»). Dieses Ermessen hat sie allerdings pflichtgemäss auszuüben, namentlich hat sie im Einzelfall eine Verhältnismässigkeitsprüfung vorzunehmen. Sie hat die tangierten Interessen gegeneinander abzuwägen, bevor sie sich für oder gegen ein konkretes Vorgehen entschliesst; dabei darf ihr Entscheid zum Handeln oder Nichthandeln niemals willkürlich erfolgen, sondern hat namentlich die Art des Polizeiguts, die Schwere der Gefahr, die verfügbaren Mittel sowie die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (vgl. auch Tiefenthal, a.a.O., N 15 f. zu Art. 18).
63. Schaut man die Einsatzkonzepte und die Journaleinträge der Stadtpolizei Zürich in Bezug auf die Critical Mass 2022 an, so verdeutlicht sich die diesbezügliche Grundsatzhaltung, nicht zu intervenieren, aber präsent zu sein. Den Einsatzkonzepten ist jeweils als Handlungsrichtlinie zu entnehmen, dass die Besammlung und der Veloumzug durch die Polizei nicht unterbunden würden, solange keine wesentlichen Gefahrensituationen für Teilnehmende und Dritte entstünden. So- dann werde auf flächendeckende Verzeigungen bei SVG-Übertretungen verzichtet, ausgenommen im Rahmen der Auflösung von Blockaden. Vorsätzliche, längerdauernde Strassenblockaden mit Kundgebungscharakter seien zu unterbinden («eigener Auftrag»). Den Journaleinträgen zu den jeweiligen Polizeieinsätzen an der Critical Mass im Jahr 2022 ist dementsprechend zu entnehmen, dass während der Durchführung der Critical Mass seitens der Polizei insbesondere Dialogteams zum Einsatz gelangten und die Veranstaltung ansonsten vor allem begleitet und (auch für den Fall einer Eskalation) beobachtet wurde. Weiter wurden bei Bedarf jeweils die Autobahnzufahrten polizeilich gesperrt, was auch den jeweiligen Einsatzkonzepten der Stadtpolizei Zürich entspricht. Ein direktes polizeiliches Ein- schreiten fand ansonsten nur im Rahmen der jeweiligen (ebenfalls unbewilligten) Schlussparty im Nachgang zur Critical Mass statt. Letztere wurde jeweils innert relativ kurzer Frist polizeilich unterbunden und für die Einhaltung der Lärmvorschriften gesorgt. Diesbezüglich gilt es nichts zu beanstanden. Konkrete Hinweise auf die Verhinderung von Blockaden (Corken) oder aber auf Personenkontrollen, Wegweisungen, Verzeigungen etc. während der Critical Mass finden sich in den Journaleinträgen hingegen keine. Zusammengefasst bestätigt sich somit, dass die unbewilligte Durchführung der Critical Mass – mit der Einschränkung der unmittelbaren Gefahrenabwehr – prinzipiell hingenommen wird. Diese gefestigte Haltung brachte die Stadtpolizei Zürich denn auch immer klar zum Ausdruck und entsprechend hat sich mittlerweile eine monatelange bzw. jahrelange Praxis der Toleranz der Critical Mass in der Stadt Zürich etabliert – was auch den interessierten Rad- fahrenden bekannt ist und zur steigenden Attraktivität der Teilnahme beitragen dürfte. Es ist nicht anzunehmen, dass bei einer umfassenden und unmissverständlichen gegenteiligen Kommunikation derselbe Zulauf zu registrieren wäre, ist doch die Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration strafbar, was eine gewisse Abschreckungswirkung haben dürfte. Generell gilt es zu beachten, dass die Polizei ein grosses Massnahmenspektrum (inkl. kommunikativer Methoden) kennt und nicht ohne Weiteres davon auszugehen ist, dass die Verhinderung einer Velokolonne mit einem Eingreifen der Polizei (mit oder ohne Zwangsmittel) schwierig oder kaum möglich ist, wie es der Beschwerdegegner geltend macht. Diese Haltung ist stark verallgemeinernd und nimmt keinen Bezug auf die Gesamtheit der konkreten Umstände und Verhältnisse. Die Polizei hat augenscheinlich noch nie eine (Mindest-) Massnahme, um die nicht gesetzeskonforme Durchführung der Critical Mass zu verhindern, in Betracht gezogen oder getroffen. Etwa sah sie bis- lang davon ab, beim Versammlungstreffpunkt mit Lautsprecherdurchsagen darauf hinzuweisen, dass es sich um eine unbewilligte Demonstration handle und den Teilnehmenden die Möglichkeit einer freiwilligen Auflösung einzuräumen. Eine Auflösung kann nämlich – gerade bei gewaltfernen Teilnehmenden – durchaus eskalationsfrei ablaufen.
Zusammengefasst ist erneut festzuhalten, dass der Entscheid darüber, welche konkreten Massnahmen verhältnismässig sind, von einer Lagebeurteilung im Einzelfall bzw. den konkreten Umständen abhängig zu machen wäre. Dabei hätte die Polizei zwingend auch die Interessen der betroffenen Dritten in die Interessenabwägung miteinzubeziehen. Keiner pflichtgemässen Ermessensausübung entspricht es hingegen, wenn die Auflösung einer zu erheblichen Verkehrseinschränkungen führenden, monatlich stattfindenden unbewilligten Demonstration generell als unmöglich erachtet und die Durchführung somit vorbehaltlos toleriert wird. Die Stadtpolizei Zürich unterschreitet damit ihren Ermessensspielraum und begeht somit eine Rechtsverletzung.
Ergänzend ist hinsichtlich der polizeilichen Präsenz vor Ort, die beispielsweise in der Sperrung der Einfahrten zu Nationalstrassen Wirkung zeigt, darauf zu verweisen, dass der Polizei dort, wo die Sicherheit von Personen in Gefahr ist, kein Entschliessungsermessen zukommt. Sie ist zwingend zur Gefahrenabwehr verpflichtet, wenn keine anderweitigen dringlichen Aufgaben bestehen und mehrere Abwehrpflichten kollidieren (vgl. Tiefenthal, a.a.O., N 15 f. zu Art. 18). Die sicherheitspolizeilichen Aufgaben der Polizei umfassen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, Ruhe und Ordnung durch Abwehr von Gefahren und Beseitigung von Störungen (§ 9 Polizeiorganisationsgesetz POG; vgl. zudem der allgemeine Auftrag nach § 3 Abs. 1 Polizeigesetz). Die Polizei hat – unabhängig davon, ob ei- ne Demonstration bewilligt ist oder nicht – immer darum besorgt zu sein, dass die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmenden gewährleistet bleibt, damit es nicht zu Unfällen mit Personen- oder Sachschaden kommt und Kollateralschäden (sic Beschwerdegegner) vermieden werden können. Im Bewilligungsverfahren könnten allerdings mögliche Gefährdungen nicht nur im Voraus erkannt werden, sondern es könnte ihnen in der Folge gezielt mit entsprechenden Massnahmen – z.B. mittels Festlegung einer Route, Absperrungen und Umleitungen – bestmöglich begegnet und somit weitreichende Sicherheit gewährt werden.
64. Aufgrund des Ausgeführten wird der Aufsichtsbeschwerde teilweise im Sinne der Erwägungen Folge gegeben.
65. Es wird festgestellt, dass die Critical Mass gesteigerter Gemeingebrauch darstellt und somit der Bewilligungspflicht unterliegt.
Sollte die Critical Mass ohne Bewilligung durchgeführt werden, so hat die Stadtpolizei Zürich im Sinne der Erwägungen nach pflichtgemässem Ermessen Mass- nahmen zu ergreifen.
66. Es werden keine Gebühren erhoben.
67. [Rechtsmittelbelehrung]
68. [Mitteilungssatz]
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