0383

Inhaltsverzeichnis

Entscheidinstanz
Bezirksräte
Geschäftsnummer
US.2022.15
Entscheiddatum
12. Oktober 2022
Rechtsgebiet
Übriges Verwaltungsrecht
Stichworte
Hundeleinenpflicht Anleingebot Hundehaltung Neosporose Landwirtschaft Tierschutz Naherholungsgebiet Verhältnismässigkeit
Verwendete Erlasse
§ 2 HuG § 11 Abs.1 HuG Art. 6 Abs. 1 TSchG Art. 71 Abs. 1 TSchV § 9 Abs. 1 HuG § 13 HuG
Zusammenfassung (verfasst von der Staatskanzlei)
Die Stadt X. verfügte eine temporäre Hundeleinenpflicht während der Vegetationszeit zur Verhinderung der Ausbreitung des Parasiten Neospora Caninum und der Beschädi-gung von landwirtschaftlichen Kulturen. Nur an Örtlichkeiten, wo eine erhöhte Gefahr besteht, dass ohne Anleinen der Hunde Personen belästigt oder Flächen verunreinigt werden, soll es den Gemeinden erlaubt sein, durch Allgemeinverfügung ein Anleingebot zu statuieren. Die von freilaufenden Hunden ausgehende allgemeine, abstrakte Gefähr-dung genügt nicht. Die Leinenpflicht ist vorliegend unverhältnismässig, weil nicht nach-gewiesen ist, dass mildere Massnahmen nichts genützt haben.

Anonymisierter Entscheidtext (Auszug)

Sachverhalt:

Mit Beschluss vom 14. Juni 2022 ordnete der Stadtrat X während der Vegetationszeit von Anfang März bis Ende Oktober eine temporäre Hundeleinenpflicht an. Diese gelte bis Ende Oktober 2023. Dies begründete er damit, es sei heute ein allgemeines Prob-lem, dass sich viele Hundebesitzer nicht an die geltenden Regeln hielten. Das Betreten und das Laufenlassen von Hunden auf landwirtschaftlichen Nutzflächen sei während der Vegetationszeit verboten und gemäss der kommunalen Polizeiverordnung gelte eine Aufnahmepflicht von Hundekot. Das Nichteinhalten dieser Regeln führe zu Problemen für die Landwirtschaft. Zum einen seien bereits mehrere Rinder mit dem Parasit Neo-spora caninum infiziert worden und hätten Fehlgeburten erlitten. Der Parasit werde durch Hundekot übertragen, der in das Futter gelange. Zum anderen würden durch das Betreten der Nutzflächen Kulturen beschädigt. Die Stadt habe mit Flyern (an alle Hun-dehalter), Plakaten und Zeitungsbeiträgen wiederholt auf die Problematik hingewiesen. Jüngst seien Tafeln mit dem Hinweis, dass das Betreten von landwirtschaftlich genutz-ten Wiesen und Feldern verboten sei, aufgestellt worden. Leider habe sich das Verhal-ten der Hundebesitzer nicht geändert und viele Hunde würden weiterhin in die Felder und Wiesen rennen.
Erwägungen:
1. [Prozessgeschichte]
2. [Eintreten]
3. [Prozessuales]

4.1 [Ausführungen des Stadtrates]

4.2 [Ausführungen der Rekurrenten]

4.3
Nach § 2 des Hundegesetzes vom 14. April 2008 (HuG; LS 554.5) sind die Gemeinden zuständig für den Vollzug dieses Gesetzes (Abs. 1). Sie können Orte signalisieren, die von Hunden nicht oder nur an der Leine betreten werden dürfen. Sie können hunde-freundliche Zonen signalisieren (Abs. 1 lit. d und e). Hunde sind anzuleinen in öffentlich zugänglichen Gebäuden, an verkehrsreichen Strassen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, an Bahnhöfen und an Haltestellen sowie an Orten, die von den zuständigen Behörden entsprechend signalisiert wurden (§ 11 Abs. 1 HuG).
Zu beachten ist auch die eidgenössische Tierschutzgesetzgebung. Wer Tiere hält oder betreut, muss sie angemessen nähren, pflegen, ihnen die für ihr Wohlergehen notwen-dige Beschäftigung und Bewegungsfreiheit sowie soweit nötig Unterkunft gewähren (Art. 6 Abs. 1 des Tierschutzgesetzes vom 16. Dezember 2005 [TSchG; SR 455]). Hunde müssen täglich im Freien und entsprechend ihrem Bedürfnis ausgeführt werden. Soweit möglich sollen sie sich dabei auch unangeleint bewegen können (Art. 71 Abs. 1 der Tierschutzverordnung vom 23. April 2008 [TSchV; SR 455.1]).
Anordnungen betreffend die Art und Weise der Haltung von Hunden fallen nicht in den Schutzbereich von Grundrechten jener Personen, an die sie sich richten. Auch wenn sich die Adressaten solcher Anordnungen (die Halter) nicht auf den Schutz von Grund-rechten berufen können, müssen solche Anordnungen auf gesetzlicher Grundlage be-ruhen, im öffentlichen Interesse liegen, den Grundsatz der Verhältnismässigkeit wahren und dem Willkürverbot standhalten. Denn diese Grundsätze sind auch ausserhalb des Anwendungsbereichs der einzelnen Grundrechte zu beachten.
Den Gemeinden ist es nicht verwehrt, durch Allgemeinverfügungen einen Leinenzwang für Örtlichkeiten einzuführen, die im kantonalen Hundegesetz nicht erwähnt sind. Sol-che Allgemeinverfügungen müssen aber einen Bezug zu den übrigen Verhaltensvor-schriften im Hundegesetz aufweisen. Im vorliegenden Zusammenhang fällt diesbezüg-lich vorab § 9 Abs. 1 HuG in Betracht, wonach Hunde so zu halten, zu führen und zu beaufsichtigen sind, dass sie weder Mensch noch Tier gefährden, belästigen oder in der bestimmungsgemässen und sicheren Nutzung des frei zugänglichen Raumes beein-trächtigen und die Umwelt nicht gefährden. Sodann ist § 13 HuG zu beachten, wonach, wer einen Hund ausführt, diesen so beaufsichtigen muss, dass Kulturland und Freizeit-flächen nicht durch Kot beschmutzt werden; Kot ist in Siedlungs- und Landwirtschafts-gebieten sowie auf Strassen und Wegen korrekt zu beseitigen. Die Beaufsichtigungs-pflicht kann je nach den örtlichen Verhältnissen und übrigen Umständen auch die Pflicht enthalten, den Hund an die Leine zu nehmen. Nur an Örtlichkeiten, wo eine erhöhte Gefahr besteht, dass ohne Anleinen der Hunde Personen belästigt oder Flächen verun-reinigt werden, soll es den Gemeinden erlaubt sein, durch Allgemeinverfügung ein An-leingebot zu statuieren. Die von freilaufenden Hunden ausgehende allgemeine, abstrak-te Gefährdung genügt nicht; dieser wird bereits mit der Beaufsichtigungspflicht des Hal-ters Rechnung getragen. Ein öffentliches Interesse an einer Leinenpflicht ist nur an Ört-lichkeiten zu bejahen, an denen in erhöhtem Mass mit Belästigungen und Verschmut-zungen zu rechnen ist.
Dem öffentlichen Interesse an der Vermeidung von Belästigungen und Verschmutzun-gen sind die privaten Interessen der Hundehalter, ihre Vierbeiner ohne andauerndes Anleinen mitführen zu können, gegenüberzustellen. Dabei geht es primär und die Inte-ressen jener zahlreichen Hundehalter, die ihrer Beaufsichtigungspflicht hinreichend nachkommen (zum Ganzen das Urteil des Verwaltungsgerichts VB.2001.00153 vom 13. Juli 2001, E. 2.d-g).
Als unverhältnismässig betrachtete das Verwaltungsgericht eine durchgehende Leinen-pflicht auf einem Wanderweg von regionaler Bedeutung für die gesamte auf dem Ge-biet einer Gemeinde liegenden Wegstrecke. Verhältnismässig wäre hingegen ein An-leingebot im Bereich von Badestellen, die im Sommer besonders rege aufgesucht wer-den (Urteil des Verwaltungsgerichts VB.2001.00153 vom 13. Juli 2001, E. 2.g). Ebenso hielt es einen Leinenzwang im eng begrenzten Bereich eines Kindergartens, einer Pri-marschulanlage und einer Sportanlage für zulässig (Urteil des Verwaltungsgerichts VB.2007.00391 vom 6. Dezember 2007, E. 5).
4.4.1 Mit Schreiben vom 6. Oktober 2020 wandten sich zwei Familien an den Stadtrat. Seit Jahresbeginn hätten in ihrem Kuhstall schon vier Kühe abortiert. Aufgrund der Tier-seuchenverordnung sei im August ein Fötus am Tierspital Zürich untersucht worden. Das Resultat habe einen deutlichen Befall durch Neospora caninum gezeigt, der via Hundekot über das Futter durch die Kühe aufgenommen werde. Drei Tiere verschiede-ner Zuchtlinien seien mittlerweile positiv getestet worden, trügen den Erreger ein Leben lang in sich und vererbten ihn an das Kalb weiter. Eine Zucht, wie sie sie betrieben, werde somit verunmöglicht. Der Schaden, der daraus entstehe, sei für sie wirtschaftlich und emotional enorm. Des Weiteren seien ihre Hühner durch unkontrolliert freilaufende Hunde diesen Sommer schon zweimal angefallen worden. In einem Fall seien drei Hühner von Hunden aufgefressen worden. Immer wieder beobachteten sie, wie Hun-dehalter am Feldrand ein Gespräch hielten, während sich ihre Lieblinge auf dem frisch angesäten Acker austobten. In eingesäten Freiflächen von Weizenfeldern sollte eine Brutstätte für Feldlerchen zur Verfügung gestellt werden. Leider würden ihre Bemühun-gen zur Förderung der Biodiversität durch freilaufende Hunde zunichtegemacht. Auch müssten mausende Katzen Hetzjagden von Hunden über sich ergehen lassen. Der Hundetourismus habe leider infolge der Attraktivität ihres Erholungsraumes dermassen zugenommen, dass ein dringender Handlungsbedarf bestehe. Deshalb schlügen sie vor, dass auf dem ganzen Gebiet eine generelle Leinen- und Hundekotaufnahmepflicht ein-geführt werden müsse.
In einem E-Mail vom 7. Juli 2022 bestätigte Prof. Dr. med. vet. Y, Vetsuisse-Fakultät Zürich, dass die beiden Betriebe in den letzten 20 Jahren von ihnen gelegentlich nach-gewiesene Neospora-Aborte gehabt hätten. Bei Z habe es vermehrt Abortprobleme 2018/19 gegeben, was zu einer Bestandessanierung, respektive Untersuchung auf Ne-ospora caninum geführt habe, um Abortrisikotiere ansprechen zu können.
4.4.2 Der Parasit Neospora caninum gilt bei Rindern weltweit als einer der häufigsten Erreger von Fehlgeburten. Der Lebenszyklus ist komplex und umfasst Stadien im Rind (Zwischenwirt) und im Hund (Endwirt). Hunde, die die einzigen bekannten Endwirte in Europa darstellen, infizieren sich durch die Aufnahme infizierten Gewebes, insbesonde-re durch den Verzehr der Nachgeburt oder von rohem Rindfleisch, das infektionsfähige Parasitenstadien enthält. Selten können stark infizierte Hunde schwere neuromuskuläre Symptome entwickeln. In den meisten Fällen zeigen sie jedoch keine Symptome. Infi-zierte Hunde scheiden während zwei bis drei Wochen Parasiteneier mit dem Kot aus, die sich in der Umgebung zu infektiösen Eiern entwickeln. Diese können dann Wochen bis Monate im Futter oder Wasser überleben. Der Eintrag des Parasiten in eine Rinder-herde erfolgt durch die Aufnahme dieser infektiösen Eier über verunreinigtes Wasser oder Futter. Hierbei spielen hauptsächlich Hofhunde oder Nachbarhunde, die ähnliche Möglichkeiten zum Betreten des Hofes besitzen, eine entscheidende Rolle. Aussenste-hende (fremde) Hunde, zum Beispiel Stadthunde, sind in aller Regel von diesem Infek-tionsgeschehen ausgeschlossen, da sie meist Dosenfutter erhalten. Es gibt aber auch Studien, die zeigen, dass Betriebe in Agglomerationen bzw. mit regem Hundeverkehr ein höheres Abortrisiko aufweisen als Betriebe, welche sich fernab von Wohnsiedlungen befinden. Insgesamt wird davon ausgegangen, dass ca. 10 % der Ansteckungen durch mit Hundekot verschmutztes Futter erfolgen.
90 % der Ansteckungen erfolgt dagegen im Mutterleib, d.h. die Übertragung erfolgt von der infizierten Kuh vor der Geburt auf das ungeborene Kalb. Bereits infizierte Zuchtlinien bleiben dauerhaft infiziert. In den meisten Fällen führt die Übertragung des Erregers im Mutterleib zur Geburt infizierter, aber gesunder Kälber. Seltener sind die Folgen einer Infektion Fehl- oder Totgeburten oder Geburten lebensschwacher Kälber. Rinder kön-nen sich auch durch das Fressen einer infektiösen Nachgeburt anstecken. Betroffene Rinder bleiben lebenslang infiziert. Auch können symptomlos infizierte Rinder durch Zukauf in den Stall gelangen und dort die Erreger verbreiten bzw. für Kuhfamilien sor-gen, die immer wieder abortieren.
Ein seuchenhafter Verlauf der Aborte innerhalb einer kurzen Zeit deutet eher auf eine Infektion durch Hundekot hin. Immer wieder auftretende Abortfälle, verteilt über eine längere Zeit, lassen mehr auf eine Infektion im Mutterleib schliessen.
4.4.3 Die genannten wissenschaftlichen Studien zeigen die statistische Häufigkeit der verschiedenen Ansteckungswege auf. Zwar erfolgen offenbar nur ca. 10 % der Anste-ckungen durch mit Hundekot verschmutztes Futter; in Agglomerationen ist aber das Risiko einer Ansteckung höher. Die Folgen einer Ansteckung sind gravierend: Eine Se-rie von Aborten, wie sie auf dem Hof der beiden Familien vorkam, ist für die Betroffe-nen wirtschaftlich und emotional sehr belastend. Wie aus den Akten hervorgeht, musste denn auch der Bestand der Familien bereits einer Sanierung durch die Vetsuisse Fakul-tät Zürich unterzogen werden.
4.4.4 Fraglich ist, ob eine Leinenpflicht erforderlich ist, oder ob mildere Massnahmen ausreichen würden. In diesem Zusammenhang bleibt insbesondere unklar, ob sich die generelle Situation seit den von den beiden Familien am 6. Oktober 2020 geschilderten Vorfällen gebessert hat oder nicht.
Im März 2021 versandte die Stadt ein Merkblatt an alle Hundehalter, in welchem auf die Problematik von Neospora caninum hingewiesen wurde und die Hundehalter gebeten wurden, den Hundekot konsequent aufzunehmen und ihre Hunde während der Vegeta-tionszeit von landwirtschaftlich genutzten Wiesen und Äckern fernzuhalten. Sodann wurde 2021 und 2022 ein entsprechendes Plakat aufgehängt. Am 25. März 2021 er-schien im Stadt-Anzeiger ein grosser Artikel zur Problematik. Im April 2022 wurden an allen Einfallachsen des Gebiets Tafeln aufgestellt.
Die Darstellung des Stadtrates, dass sich die Situation seit dieser Informationskampag-ne in keiner Weise gebessert habe, ist durch nichts belegt. So findet sich in den Akten beispielsweise kein Bericht von Polizeikontrollen neueren Datums, oder ein Schreiben der Landwirte, in denen neuere Vorfälle bzw. Beobachtungen geschildert würden. Un-bekannt ist auch, ob fehlbare Hundehalter gebüsst wurden. Insofern ist fraglich, ob eine Leinenpflicht als einschneidende Massnahme, welche auch diejenigen Hundehalter be-trifft, welche ihrer Beaufsichtigungspflicht hinreichend nachkommen, überhaupt erfor-derlich und damit verhältnismässig ist, oder ob die Weiterführung der Informationskam-pagne und vermehrte Polizeikontrollen ausreichen würden.
4.4.5 Insgesamt erweist sich damit die mit dem angefochtenen Beschluss angeordnete, für die Jahre 2022 und 2023 geltende Leinenpflicht als unverhältnismässig und ist daher aufzuheben. Durch vermehre Polizeikontrollen ist sicherzustellen, dass auch fehlbare Hundebesitzer ihrer Aufsichtsplicht nachkommen und im Rahmen der bereits heute zur Verfügung stehenden Gesetze (Polizeiverordnung, Hundegesetz) belangt werden.
4.5 Allgemein führt die intensive Freizeitnutzung in Agglomerationsgebieten zu Konflik-ten mit der Landwirtschaft und damit der Lebensmittelproduktion als auch dem Natur-schutz und dem Erhalt der Biodiversität. Insbesondere die Themen Littering und wildes Parkieren seien ebenfalls erwähnt. […] Unbestrittenermassen ist Handlungsbedarf ge-geben, die Situation zeitnah für alle Betroffenen einer Besserung zuzuführen. Gemäss dem Stadtrat wird denn auch auf das Jahr 2023 hin ein koordiniertes Vorgehen mit den umliegenden Gemeinden angestrebt, das sowohl die Leinenpflicht auf landwirtschaftli-chen Nutzflächen wie auch am Waldrand und im Wald regelt. In diesem Rahmen wird die Möglichkeit bestehen, eine Lösung zu finden, welche auf einem sorgfältig erhobe-nen Sachverhalt beruht und die Interessen aller Nutzerinnen und Nutzer dieses Gebiets berücksichtigt. Sodann wurde im Gemeinderat ein Vorschlag eingereicht, der die Ein-führung von Hundefreilaufzonen forderte. Solche Zonen könnten bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit einer Leinenpflicht ebenfalls eine Bedeutung haben.

© 2022 Staatskanzlei des Kantons Zürich

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