Offene Zellentüren in der Untersuchungshaft

Nach medienwirksamer Kritik an menschenrechtswidrigen Bedingungen in der Untersuchungshaft wurde das Gefängnis Pfäffikon ab März 2018 komplett reorganisiert.

Wiedereingliederung beginnt bei der Verhaftung

Das Gefängnis Pfäffikon gilt heute als Vorzeigebetrieb für offenen und humanen Vollzug in der Untersuchungshaft – auch im Hochsicherheitsbereich. Wie wurde eine solch tiefgreifende Veränderung innerhalb von drei Jahren möglich? Ein Besuch in Pfäffikon und ein Gespräch mit Gefängnisleiter Simon Miethlich schaffen Einblicke.

Grafik - Marienkäfer unter der Lupe
Die Untersuchung der Verdächtigen

Vor der Reorganisation waren die Zellentüren in der Untersuchungshaft im Gefängnis Pfäffikon für den Grossteil der inhaftierten Personen 23 Stunden am Tag geschlossen. Pro Tag durften sie für eine Stunde in den Hof, überwacht von einem Aufseher, der in der Überwachungskanzel sass, einer Art Schleuse zum Hof hinaus. Mahlzeiten, Medikamente, Bücher und Einkäufe wurden von den Mitarbeitenden zur Zelle gebracht und durch die kleine Luke in der Tür gereicht. Geraucht wurde in den Zellen. Duschen war zwei Mal pro Woche für zehn Minuten möglich. Der Fitnessraum konnte – wenn überhaupt – gerade einmal in der Woche genutzt werden.

Die Untersuchungshaft ist bekannt als die härteste und rigideste Haftform. In Untersuchungshaft sind Personen, gegen die nach ihrer Verhaftung eine Strafuntersuchung läuft. Diese kann von ein paar Tagen bis hin zu mehreren Jahren dauern. Für alle Personen in Untersuchungshaft gilt die Unschuldsvermutung. Als Simon Miethlich 2018 seine Stelle als Gefängnisleiter antrat, war ihm klar, dass die Bedingungen nicht zu der Situation passen, in der sich die Personen in Untersuchungshaft befinden. Veränderungen mussten her.

Normalisieren und Fördern

Heute sind die Zellentüren offen – bis zu neun Stunden am Tag (inklusive Arbeiten in Zellen). Die inhaftierten Männer bewegen sich auf den Gängen, spazieren und spielen Pingpong oder Basketball im Hof. Die Besucherin wird freundlich gegrüsst. Es ist ruhig. Nicht nur die Lautstärke – auch die Stimmung.

Der Gruppenvollzug macht es den inhaftierten Personen möglich, den langen Tag im Gefängnis zu strukturieren. Für viele beginnt der Tag damit, sobald die Türen um 7 Uhr geöffnet werden, zum Rauchen in den Hof zu gehen. In den Zellen ist Rauchen nicht mehr erlaubt und durch die Öffnung auch nicht mehr nötig. Danach holen sie selbständig Medikamente im Stockbüro ab und gehen zum Morgenessen in den Speisesaal. Der Tag wird gefüllt mit Arbeit in der Küche oder der Kreativwerkstatt, mit Renovations- und Verpackungsarbeiten, mit Gesprächen mit Sozialarbeitenden, Seelsorgenden oder dem Imam, die sich frei im Gruppenvollzug bewegen, mit Besuchen in der Bibliothek und beim Coiffeur, mit Einkaufen im gefängniseigenen Supermarkt und mit Sport im Fitnessraum oder im Hof. Auch Unterricht gehört zur Tagesstruktur – als erstes Untersuchungsgefängnis bietet das Gefängnis Pfäffikon Bildung im Strafvollzug an. Besuche von Angehörigen sind hier an Werktagen nicht nur tagsüber, sondern auch abends möglich – und neu auch am Wochenende.

Diese Veränderungen folgen dem Prinzip der Normalisierung und Förderung. Der Alltag der inhaftierten Personen soll möglichst nah an ein Leben draussen kommen und ihnen kleine soziale Lernfelder bieten. Sie müssen selber aktiv werden, um ihr Leben im Gefängnis angenehmer zu gestalten. Sie können sich ablenken und ihre Ressourcen stärken oder neue aufbauen.

Und das funktioniert.

Sicherheit durch Beziehung

Wie ist diese Öffnung plötzlich möglich? Wie können als hochgradig gefährlich eingestufte Männer mit Sportgeräten, Werkzeugen oder Küchenutensilien zusammen mit anderen potentiell gefährlichen Männern sich selber überlassen werden – und doch ist die Sicherheit gewährleistet?

Die Antwort liegt in den unterschiedlichen Arten von Sicherheit. Das Setting vor 2018 baute auf die prozedurale und passive Sicherheit. Dabei wird durch präzise vorgegebene Abläufe und aufwändige Infrastruktur auch die kleinste Eventualität einer gefährdenden Handlung im Voraus ausgeschlossen. Das bedeutet geschlossene Zellen, kleinstmögliche Zeitfenster für Tätigkeiten, die nicht absolut kontrollierbar sind wie beispielsweise Duschen, möglichst wenig Kontakt zu anderen inhaftierten Personen und zu den Mitarbeitenden. Eine Gewähr oder eine Garantie zur Vermeidung von Zwischenfällen gab es dennoch nicht.

Das offene Setting ermöglicht eine andere Art der Sicherheit – die soziale bzw. dynamische Sicherheit. Sie entsteht durch die professionelle Beziehungsgestaltung der Mitarbeitenden mit den inhaftierten Personen. Ein wertschätzender, wohlwollender und empathischer Umgang – immer unter Berücksichtigung der notwendigen Nähe und Distanz. Im Gruppenvollzug ist mehr Zeit für Gespräche miteinander. Die inhaftierten Personen werden gesehen und gehört, sie fühlen sich wahrgenommen. Sie können ihre Anliegen und Sorgen mitteilen, ohne laut oder aggressiv zu werden. Negative Veränderungen und Krisen können früher wahrgenommen und aufgefangen werden, was dazu führt, dass weniger kritische Situationen entstehen.

Veränderungen für die Mitarbeitenden

Diese Beziehungsarbeit stellt hohe Anforderungen an die Mitarbeitenden – und ganz andere als vorher. Sie wurden von Aufsehenden zu Betreuenden. Dafür war ein schrittweises Vorgehen wichtig, angefangen mit kleinen Korridorabschnitten, auf denen sich zehn inhaftierte Personen für mehrere Stunden am Tag frei bewegen konnten. Für die Mitarbeitenden war das ein erstes Lernfeld dafür, ansprechbar zu sein. Ein Aufwärmen für die heutige Situation. 

Auch die Personalstruktur wurde angepasst. Um mehr dringend benötigte Ressourcen für betreuende Funktionen zu gewinnen, hat Simon Miethlich die Stelle seines Stellvertreters nach dessen Abgang umorganisiert, die Stellvertretung als Zusatzfunktion vergeben und die Arbeiten breit gefächert auf die Geschäftsleitung aufgeteilt. Die gewonnenen 100 Stellenprozent hat er dem operativen Tagesgeschäft abgetreten. In Betreuungsfunktionen gab es vorher kein weibliches Personal. Heute sind es vier Mitarbeiterinnen, welche die inhaftierten Personen betreuen.

Kreative Raumnutzung

Für die angepassten Haftbedingungen braucht es auch mehr Platz. Mit Kreativität und Flexibilität wurde Raum gefunden und geschaffen: Eine Werkstatt für Personal wurde zum Supermarkt. Das Effektenlager wurde zum Speisesaal umfunktioniert. Ein Wäschelager wurde zum Büro und zur Medikamentenabgabe umgenutzt. In einer Nische im Vorraum des Gesundheitsdienstes wurde der Barbershop eröffnet. Im Schulzimmer wurde die begehbare Bibliothek integriert. Eine Viererzelle wurde zum Fitnessraum umgebaut. Und in einer ehemaligen Zelle ist heute der Sozialdienst stationiert – mittendrin und zugänglich.

Ein tiefgreifender Wille zur Veränderung, viel Offenheit und Flexibilität von den Mitarbeitenden und ein Verständnis von Sicherheit, das die Menschen und ihre Beziehungen ins Zentrum setzt, haben es also möglich gemacht, die Untersuchungshaft im Gefängnis Pfäffikon von Grund auf neu zu gestalten. Und Simon Miethlich hat noch mehr vor – Schritt für Schritt im Eiltempo.

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Justizvollzug und Wiedereingliederung

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