Forschung & Entwicklung zum Thema Rückfallrisiko

Wird das Rückfallrisiko in Gutachten genauer eingeschätzt als in Therapieberichten?

Einblick in die Forschungstätigkeit

Einschätzungen des Rückfallrisikos sind im Strafrecht an der Tagesordnung. Besonders bedeutsam sind dabei Gutachten und Therapieberichte. Gutachten wird regelmässig der höhere Beweiswert zugemessen. Gibt es Gründe für diese Bevorzugung oder muss man die Praxis überdenken? Ein kleiner Einblick in ein Thema aus unserer Forschungstätigkeit.

Mit Risikoeinschätzungen wird beurteilt, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Person ein Delikt begehen wird und von welcher Schwere die zu erwartenden Taten sein werden. Diese Einschätzung spielt in Strafverfahren, bei der Festlegung der Strafe in einem Gerichtsurteil oder bei der Bestimmung von Lockerungen oder Verschärfungen im Vollzug eine zentrale Rolle. Zwei wichtige Quellen solcher Einschätzungen sind Therapieberichte und Gutachten.

Therapieberichte und Gutachten

Therapeutinnen und Therapeuten arbeiten mit straffälligen Personen intensiv und oft über lange Zeit im Rahmen der deliktpräventiven Therapie zusammen. Ziel der Therapie ist es, die Wiederholung eines Delikts zu verhindern. In den Berichten über den Therapieverlauf schätzen die Behandelnden deshalb auch das Rückfallrisiko ein. Damit können sie darlegen, ob die bisherigen Therapiebemühungen erfolgreich verlaufen sind, stagnieren oder ob gar Rückschritte erfolgt sind.

Grafik - Fernrohr auf Sternenbild gerichtet
Einschätzung der Zukunft

Risikoeinschätzungen werden aber auch von Gutachterinnen und Gutachtern erstellt. Sie sind Expertinnen und Experten, meist Fachärztinnen und Fachärzte oder Rechtspsychologinnen und Rechtspsychologen. Sie werden vom Gericht oder der Vollzugsbehörde beauftragt. Für ihre Beurteilung führen sie Gespräche mit der begutachteten Person, sprechen mit Drittpersonen wie Angehörigen, studieren die bereits vorhandenen fachkundigen Beurteilungen und Berichte und leiten daraus ihre Risikoeinschätzung ab.

Wenn es nun darum geht, in einem Verfahren beispielsweise über Vollzugslockerungen oder eine bedingte Entlassung zu entscheiden, wird regelmässig das Gutachten höher gewichtet als ein anderslautender Therapiebericht. Ob diese Praxis auf tragfähigem Boden steht, wurde von JuWe-Mitarbeitenden aus Forschung und Entwicklung, den Bewährungs- und Vollzugsdiensten, dem Psychiatrisch-Psychologischen Dienst sowie Kolleginnen und Kollegen der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und der Universitären Psychiatrischen Klinik Basel analysiert. Sie behandelten in einer wissenschaftlichen Publikation1 die Frage, welchen Beweiswert Therapieberichte im Vergleich zu Gutachten haben.

Grafik - Reagenzglas mit blubbernder Flüssigkeit
Reagenzglas mit blubbernder Flüssigkeit

Dogma: Therapeutinnen und Therapeuten im Rollenkonflikt

Eines der prominentesten Argumente für die Überlegenheit von Gutachten ist die Annahme, dass Therapeutinnen und Therapeuten nicht neutral sind, wenn es um ihre Klientinnen und Klienten geht. Sie könnten sich in einem Rollenkonflikt befinden, wenn sie in einem Verfahren eine Person beurteilen, die sie auch behandeln. Gutachterinnen und Gutachter hingegen hätten als externe Expertinnen und Experten eine objektive Aussensicht. Doch so einfach ist es nicht.

Realität: Jede Einschätzungssituation hat ihre Neutralitätsrisiken

Zwar stimmt es, dass Therapeutinnen und Therapeuten eine empathische Grundhaltung zu ihren Klientinnen und Klienten einnehmen. Sie bauen eine therapeutische Beziehung zu ihnen auf. Diese Beziehung ist das Fundament der therapeutischen Arbeit. Ohne sie sind Fortschritte fast nicht möglich. Daraus kann aber auch eine zu grosse Nähe entstehen, die eine einseitige Einschätzung begünstigt. Ebenso kann der Berufsstolz dazu führen, dass Fortschritte gesehen werden, wo keine sind. Solche Einflüsse auf eine Beurteilung sind durchaus möglich und dürfen nicht ausser Acht gelassen werden. Werden diese Themen – wie auch die therapeutische Beziehung – von Therapeutinnen und Therapeuten im Rahmen ihres professionellen Handelns bewusst reflektiert und mit Vorgesetzten und in Supervisionen besprochen, lassen sich diese Gefahren jedoch deutlich abmildern.

Grafik - Waage mit Therapieberichten in einer Waagschale, Gutachten in der anderen
Therapieberichte vs. Gutachten

Hinzu kommt: Auch bei einer Begutachtung braucht es eine empathische Grundhaltung, um die Person, die es zu beurteilen gilt, in ihrem Erleben und Verhalten zu erfassen. Insofern kann auch hier die Gefahr einer Überidentifikation entstehen. Und auch Gutachterinnen und Gutachter haben ihren Berufsstolz und könnten sich mit ihrer Expertise überidentifizieren. Dass Gutachterinnen und Gutachter neutral und Therapeutinnen und Therapeuten immer befangen sind, lässt sich also nicht pauschal sagen. Vielmehr bergen beide Einschätzungssituationen ihre eigenen Risiken für Verzerrungseffekte. Ohnehin ist zu bedenken, dass sowohl Gutachterinnen und Gutachter als auch Therapeutinnen und Therapeuten es sich gut überlegen, bevor sie eine positive Bewertung abgeben, die zu Vollzugslockerungen für eine Person führen kann. Wenn nämlich nach einer falschen Positivbeurteilung ein Delikt geschieht, drohen sowohl Gutachterinnen und Gutachter als auch Therapeutinnen und Therapeuten Zeitungsschlagzeilen und Strafverfolgung. Dasselbe gilt umgekehrt, wenn falsche Negativbeurteilungen erstellt werden. Diese Faktoren und die Berufsethik geben beiden Professionen somit genügend Anreize, um bei der von ihnen wahrgenommenen Wahrheit zu bleiben. Es überzeugt daher nicht, wenn einem Gutachten automatisch der höhere Beweiswert eingeräumt wird.

Fazit: Der Einzelfall zählt.

Die Argumente, aus denen abgeleitet wird, dass Gutachten Therapieberichten als Beweismittel generell überlegen sind, stehen auf wackligem Boden. Der Bericht kommt zum Schluss, dass nicht von einer grundsätzlichen Überlegenheit von Gutachten als Beweismittel zur Einschätzung des Rückfallrisikos ausgegangen werden kann. Vielmehr muss im Einzelfall geprüft werden, welche Quelle überzeugender ist. Wer Interesse an diesem Thema gefunden hat und sich informieren möchte, welche weiteren Aspekte für und gegen das geschilderte Dogma sprechen, kann dies im wissenschaftlichen Beitrag «Der Beweiswert von Therapieberichten gegenüber Gutachten» nachlesen.

Quellenverzeichnis

1 Thierry Urwyler / Silja Bürgi / Henning Hachtel / Marc Graf / Tanya Kochuparackal / Elmar Habermeyer / Friederike Höfer / Stefan Schmalbach / Matthias Stürm / Jérôme Endrass / Thomas Noll, Der Beweiswert von Therapieberichten gegenüber Gutachten, in: Jusletter 22. März 2021.

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