Lernen mit Einhörnern und Eisbären

Sechsmal besucht eine Schulklasse aus Winterthur zwischen August 2025 und Februar 2026 die Bibliothek ihres Quartiers. Die Kinder finden dort nicht nur gute Bücher, sondern auch Freude an Geschichten.

Zwei Kinder sitzen auf einem goldenen Sessel im Ecken der Bibliothek. Die Gesichter sind hinter zwei Büchern versteckt.
Auf einem schönen Sessel macht das Lesen besonders Spass. Quelle: Andreas Schwaiger

Text: Martina Bosshard Fotos: Andreas Schwaiger

Lesen können noch nicht alle Kinder, die an einem Montagmorgen kurz vor den Herbstferien in der Bibliothek Seen zu Besuch sind. Den Apparat zur Selbstausleihe bedienen sie hingegen schon wie die Profis. Die Winterthurer Schulklasse ist bereits zum dritten Mal mit ihrer Lehrerin in der Quartierbibliothek. Die eine Hälfte der Kinder hat im August mit der Schule begonnen, die andere ist schon im zweiten Jahr. 

Ein Mädchen scannt den Barcode des farbenfrohen Bilderbuchs «Sternenschweif ». Warum will es gerade dieses Buch mit nach Hause nehmen? «Ich mag halt Einhörner.» Ein Klassenkamerad hat sich für einen Band der «Drei Fragezeichen » entschieden. Die Serie kennt er bereits als Hörbuch. «Dieses Buch passt nicht in meinen Rucksack, kann ich es trotzdem ausleihen?», fragt ein anderer Junge. Zum Glück hat Muriel Ehrbar, seine Lehrerin, vorgesorgt. In ihrer grossen blauen Tasche hat sie Platz für das Werk, in dem 80 Rätsel zu finden sind. Zur gleichen Zeit diskutiert eine Gruppe von Jungs vor dem Regal mit Star-Wars-Büchern. Ein Kind weiss nicht so recht, wo es mit der Suche anfangen soll. Iris Leibundgut kommt zu Hilfe; sie ist in der Bibliothek für die Vermittlung zuständig. Wofür es sich denn interessiere, fragt sie. Tiere, lautet die Antwort. Iris Leibundgut zeigt, wo die entsprechenden Sachbücher stehen. Das Rennen macht schliesslich ein Buch über Eisbären.

Die Bibliothekrain unterstützt die Kinder am Ausleihautomaten der Bibliothek.
Die Bibliothekarin Iris Leibundgut bespricht mit den Kindern die Ausleihe. Quelle: Andreas Schwaiger

Ein Ort für die Freizeit

Das Angebot der Winterthurer Bibliotheken findet bei Lehrpersonen und Schulkindern der Region regen Anklang. Die Kinder kommen während eines Semesters etwa einmal pro Monat mit der Klasse in die Bibliothek, die sich am nächsten bei ihrem Schulhaus befindet. Dadurch wird die Quartierbibliothek zu einem Ort auf der persönlichen Landkarte der Kinder, zu dem sie in der Freizeit mit ihrer Familie oder allein kommen können. Die Ausleihkarte können ihre Eltern für acht Franken beziehen. «Es ist super, dass hier mit Iris Leibundgut eine weitere Person den Kindern die Begeisterung für Bücher nahebringt», sagt Muriel Ehrbar. Die Lehrerin informiert die Eltern jeweils über die einzelnen Bibliotheksbesuche und weist sie gleichzeitig darauf hin, wie wichtig das Lesetraining ist.

Während des Besuchs der Klasse erzählt Iris Leibundgut auch eine Geschichte aus einem Bilderbuch. Die Illustrationen werden in einem grossen Raum an die Wand projiziert. Es geht um einen Bären, der die Stadt besucht. Spoiler: Der Besuch läuft nicht ganz reibungslos ab. Die Kinder leiden bei schwierigen Situationen mit und freuen sich, wenn dem Bären etwas gelingt. Als der Bär einem Habicht begegnet, fragt Iris Leibundgut in die Runde, was denn genau ein Habicht sei. Einige halten die Hand hoch. Viele wissen auch, was es mit den Buchstaben auf dem Umschlag des Buchs auf sich hat. Nämlich, dass sie Auskunft über den Titel und den Autor geben. Nach der Erzählung setzen sich die Kinder an grosse Tische und malen ein eigenes Coverbild in ihr Heft, das sie bereits beim ersten Besuch erhalten haben.

Eine Lehrperson sitzt an einem kleinen schwarzen Tisch und liest mit einem Jungen ein Buch. Sie befinden sich in der Bibliothek. Die Fenster sind rhombusförmig.
Für Muriel Ehrbar ist der Besuch einer Quartierbibliothek eines von vielen Puzzlestücken bei ihrem Einsatz für die Leseförderung. Quelle: Andreas Schwaiger

«Die Programme passen wir altersgerecht an», erklärt Iris Leibundgut. Grössere Kinder können zum Beispiel an einem Quiz teilnehmen und Aussagen wie «Das schottische Nationaltier ist ein Schaf» in «Fake» oder «Fact» einteilen. Nach dem Quiz recherchieren die Schülerinnen und Schüler online und überprüfen ihre Einschätzung. Auch das Thema «Harry Potter » kommt bei Mittelstufen-Kindern gut an, viele haben die Bücher gelesen und noch mehr die Filme gesehen. Die Inhalte und Anregungen für Bibliotheksbesuche werden in den sogenannten «Biblioheften» für verschiedene Schulstufen festgehalten. Diese sind von den Winterthurer Bibliotheken erarbeitet worden, die digitalen Ausgaben können von allen Bibliotheken und Lehrpersonen im Kanton Zürich genutzt werden.

«Fürs Lesen brauchen die Kinder nicht nur guten Lesestoff, sondern auch Raum und Zeit»

Muriel Ehrbar, Primarlehrerin aus Winterthur

Lesende Vorbilder

Leseförderung ist heute wichtiger denn je. In der Freizeit hat das Lesen starke Konkurrenz durch Netflix, Nintendo, YouTube und Co. erhalten. In der Öffentlichkeit und allenfalls auch in der Familie sehen Kinder und Jugendliche nicht mehr viele Personen mit einem Buch oder einer Zeitung in der Hand. Dies hat einen Einfluss, denn die Jungen orientieren sich am Verhalten der Erwachsenen. Wenn Bücher weniger sichtbar sind, fällt dieser Weg der Inspiration weg.

In Bibliotheken trifft der Blick dafür gleich auf ein Meer von Büchern. Aber nicht alle Erwachsenen und Kinder finden – wie die Klasse aus Winterthur – den Weg in eine der rund 250 Bibliotheken des Kantons. Ein Fünftel der Zürcher Bevölkerung nutzt eine Bibliothek aktiv. Damit ist gemeint, dass die Personen mindestens einmal pro Jahr etwas ausleihen oder sich für ein Angebot anmelden. Die Anzahl Besuche ist höher, denn für viele Leistungen muss man weder Mitglied sein noch sich registrieren. Im Kanton Zürich verzeichnen die Bibliotheken jährlich rund 10,8 Millionen Eintritte.

Gerne möchte Franziska Baetcke, Leiterin der Winterthurer Bibliotheken, noch mehr Personen motivieren, in die Bibliothek zu kommen. «Viele Leute wissen gar nicht, dass sich Bibliotheken auch eignen, um in Ruhe zu arbeiten, Freunde zu treffen oder einen Film auszuleihen.» Bei Veranstaltungen können Teilnehmende auch basteln, an einer Schreibwerkstatt mitmachen oder kaputte Gegenstände zum Reparieren bringen.

Wirkungsmessung von Bibliotheken

Traditionell wird die Qualität von Bibliotheken an ihrem Medienbestand und den Zahlen zu Ausleihen und Eintritten gemessen. Für die Winterthurer Bibliotheken, die Regionalbibliothek Adliswil und die Pestalozzi-Bibliothek Zürich greift diese Beurteilung jedoch zu kurz, sie wollten neben diesen quantitativen Informationen auch die Qualität der Leistungen und des Angebots überprüfen lassen – und dabei auch mehr über die Wahrnehmung der Nutzerinnen und Nutzer erfahren. Sie gaben eine Studie zur Wirkungsmessung in Auftrag, die vom Kanton Zürich mitfinanziert wurde. Im Zentrum standen die Themenfelder «Gemeinschaft», «Wohlbefinden», «Kreativität» und «Wissen».

Die Studie zeigt, dass die vielfältigen Leistungen der Bibliotheken bei der Zürcher Bevölkerung und den Nutzerinnen und Nutzern gut ankommen. Viele der befragten Personen gaben an, dass sie die Bibliothek als «Ort des Wohlfühlens» erleben. Sie schätzen die Möglichkeiten, die Medien und die Räume zu nutzen, die Beratung der Mitarbeitenden und die Veranstaltungen. 

Leseförderung ist ein Schwerpunkt der Winterthurer Bibliotheken, für Kinder und Erwachsene. «Lesen ist schliesslich eine Grundkompetenz, nicht einfach eine Pflicht», meint Franziska Baetcke. Sie hält es insbesondere für wichtig, dass wir alle das sogenannte «Deep Reading» lernen und beibehalten. Das heisst: nicht einfach Texte zu überfliegen, um die wichtigsten Informationen herauszufiltern, sondern uns über eine längere Strecke auf eine Erzählung oder einen Sachtext einzulassen. «Diese Art von Lektüre führt dazu, dass wir uns einen Moment vergessen und die Welt aus anderen Augen betrachten», sagt sie. «Wir kommen so nicht nur zu Wissen, sondern allenfalls auch zu neuen Impulsen, Unterhaltung, Entspannung, Empathie oder Trost.»

Für die Lehrerin Muriel Ehrbar ist der Besuch der Quartierbibliothek eines von vielen Puzzlestücken bei ihrem Einsatz für die Leseförderung. «Jeden Tag lese ich meiner Klasse zehn Minuten aus einem Buch
vor», sagt sie. Momentan sei es jeweils ein Kapitel über eine unbekannte Tierart. Auch die Bibliothek im Schulhaus schätzt sie sehr. Dort haben die Kinder viel Zeit zum Schmökern und benötigen keine Ausleihkarte, um Bücher mitzunehmen. Im Schulzimmer hat Muriel Ehrbar eine gemütliche Leseecke mit Kissen, Decken und einer kleinen Auswahl Büchern eingerichtet. «Fürs Lesen brauchen die Kinder nicht nur guten Lesestoff, sondern auch Raum und Zeit», sagt die engagierte Lehrerin. Das Vorlesen, die Bücher in Reich- und Sichtweite sowie die Bibliotheksbesuche sorgen dafür, dass das Lesen im Schulalltag der Kinder fest verankert ist. Die Freude bei der Ausleihe in der Quartierbibliothek zeigt, dass die Schülerinnen und Schüler in der Welt der Bücher angekommen sind.

Die Kinder stehen in einer Schlange vor den Bücherregal. Ein Kind holt daraus ein Buch hervor.
Das Angebot der Winterthurer Bibliotheken findet bei Lehrpersonen und Schulkindern der Region regen Anklang. Quelle: Andreas Schwaiger

Infos und Tipps für Lehrpersonen

– Auf der Website des Amts für Jugend und Berufsberatung sind viele Informationen zu Bibliotheken und zur Zusammenarbeit von Schulen und Bibliotheken zu finden. Auch können dort die «Bibliohefte» und die Studie «Wirkungsmessung Bibliotheken Zürich» heruntergeladen werden: www.zh.ch/bibliotheken

– Tipps zur Leseförderung und zu Klassenlektüren gibt das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM): www.sikjm.ch > Lesen fördern > Material > Bibliothek und Schule

– Infos zum Angebot der Winterthurer Bibliotheken: www.winbib.ch