«Krisen können nur gemeinsam bewältigt werden»

Als sich im Sommer 2022 viele Gemeinden und Städte im Kanton erstmals Gedanken über die möglichen Auswirkungen einer Energiemangellage machten, konnte die Krisenführungsorganisation der Stadt Zürich dem Stadtrat bereits ein Massnahmenpaket unterbreiten. Auch die Corona-Pandemie zwei Jahre zuvor sowie der Flüchtlingsstrom nach Ausbruch des Ukraine-Krieges trafen die Kantonshauptstadt nicht unvorbereitet. Denn sie setzt seit einigen Jahren auf ein vorausschauendes Krisenpräventions- und Resilienzmanagement.

Der Anstoss erfolgte durch den Fussball: Vor der Euro2008, die in Österreich und in vier Schweizer Städten ausgetragen wurde, verabschiedete der Zürcher Stadtrat eine Führungsstruktur für die Bewältigung von besonderen und ausserordentlichen Lagen (FIBAL). Und während Spanien im Final in Wien gegen Deutschland den Europameistertitel holte, legte die Stadt Zürich den Grundstein für ein vorausschauendes Krisenpräventions- und Resilienzmanagement.

Weitere wesentliche Erkenntnisse brachte die erste nationale Sicherheitsverbundübung (SVU) im Jahre 2014, die sich mit einem komplexen Szenario beschäftigte: einer langanhaltenden Strommangellage, überlagert von einer Grippepandemie. 

Erfolgreiche Bewältigung der letzten Krisen

Unter der Leitung von Markus Meile, Stabschef der städtischen Krisenführungsorganisation, ergriff die Stadt Zürich bereits vor zehn Jahren erste Massnahmen gegen eine drohende Energiemangellage oder einen Blackout. Parallel dazu schuf sie die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bewältigung von unerwarteten Ereignissen und die reibungslose Zusammenarbeit mit dem Kanton, der Armee und anderen Partnern in Krisensituationen.

Markus Meile analysierte Risiken, organisierte Übungen, baute sich ein Netzwerk auf und schrieb Konzepte, die ohne eine reelle Bedrohung eher am Rande wahrgenommen wurden. Dann kam Corona – und der Krisenchef und seine städtische Führungsorganisation waren parat: «Die Pandemie überraschte uns nicht unvorbereitet, wir konnten rasch reagieren.» Auch bei der drohenden Energiemangellage nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine hatte die Stadt Zürich bereits ein Massnahmenpaket auf dem Tisch, während andere Gemeinden und Städte erst anfingen, sich damit zu befassen.
 

Portraitbild Markus Meile. Er hat dunkle Haare, einen Bart und trägt ein weisses Hemd unter einer dunklen Anzugsjacke.
Der Sicherheitsexperte Markus Meile ist seit 2012 bei der Stadt Zürich und Stabschef der Krisenführungsorganisation. Quelle: Stadt Zürich

Sein ehemaliger Chef, alt-Stadtrat Richard Wolff, sagte zu Beginn der Pandemiekrise zu Markus Meile: «Ich habe mich oft gefragt, was Du genau machst, aber jetzt weiss ich es und bin froh, dass Du die nötigen Vorbereitungen getroffen hast.» Denn diese zahlten sich bei der Bewältigung der drei Krisen in den letzten vier Jahren aus. «Die vorhandenen Konzepte, regelmässiges Üben, das dabei gewonnene Vertrauen gemäss dem Grundsatz «In Krisen Köpfe und deren Kompetenzen kennen» sowie das Commitment und Engagement des Stadtrates waren wesentliche Faktoren bei der erfolgreichen Bewältigung der drei Ereignisse», bilanziert Meile.

Die Pfeiler der städtischen Krisenprävention

Die Krisenstäbe der Dienstabteilungen der Stadtverwaltung (Verkehrsbetriebe VBZ, Wasserversorgung WVZ, Elektrizitätswerk EWZ, usw.) simulieren die Bewältigung von krisenhaften Situationen regelmässig. Sie üben einzeln oder miteinander, auch mit Einbezug des Stadtrats, des Kantons oder des Bundes.

Für die Krisenvorbereitung und das Festlegen entsprechender Übungsszenarien setzt die Stadt Zürich auf drei Instrumente (siehe Grafik). Grundlage bildet eine systematische Gefährdungs- und Risikoanalyse, bei der alle fünf Jahre die bevölkerungsschutzrelevanten Risiken in Bezug auf ihre Häufigkeit und ihr Schadenausmass durchleuchtet werden. In der letzten Analyse von 2022 wurden 16 Risiken aufgeführt. Diese reichen von Naturkatastrophen wie Hochwasser, Erdbeben und neuen Bedrohungen durch den Klimawandel über technisch bedingte Gefährdungen wie eine Energiemangellage oder der Ausfall der Informations- und Kommunikationstechnologie, bis hin zu gesellschaftlichen Ereignissen wie einer Pandemie, gewalttätigen Unruhen oder einem Cyber-Angriff.

In der Resilienzanalyse werden die Fragen gestellt «Wie widerstandfähig ist die Stadt Zürich gegenüber diesen potenziellen Gefährdungen» und vor allem «Welche Massnahmen machen sie noch resilienter?» In über einem Dutzend Workshops mit rund 50 städtischen Fachpersonen wurden so Bereiche wie die Trinkwasserversorgung, Mobilität, öffentliche Sicherheit, Abwasser, Entsorgung und Energieversorgung vertieft unter die Lupe genommen.

Im Rahmen des kontinuierlichen Resilienzmanagements werden auf der operativen Seite jedes Jahr die Handlungen für die erkannten Defizite festgelegt, die Mittel dafür budgetiert und die entsprechenden Massnahmen umgesetzt. 

Die Grafik erklärt das Resilienzmanagement der Stadt Zürich. Auf strategischer Seite findet alle fünf Jahre eine Gefährdungs-, eine Risiko- und eine Resilienzanalyse statt. Im operativen Bereich werden jährliche Massnahmen definiert.
Zur Krisenprävention setzt die Stadt Zürich auf ein systematisches Resilienzmanagement. Quelle: Stadt Zürich

Wichtige Partner in der Krise

Dafür befindet sich Krisenmanager Markus Meile permanent in einem aktiven Dialog mit allen Beteiligten, nicht nur stadtintern. Denn, wie er sagt: «Krisen können nur gemeinsam bewältigt werden.» Das habe die Situation im vergangenen Winter sehr deutlich gezeigt. «Eine Energiekrise können wir als Stadt nicht allein lösen. Die gegenseitige Information und Abstimmung mit unseren Partnern, allen voran dem Kanton, aber auch den Gemeinden und anderen Städten, hat sehr gut funktioniert. Das war für mich eine der grossen Errungenschaften dieser Energiemangellage», erklärt Markus Meile.

Zentral ist für den Sicherheitsexperten in diesem Gefüge die Rolle der «kleinsten Einheit», der einzelnen Bürgerin, des einzelnen Bürgers: «Die Bevölkerung ist genauso ein Partner bei der Lösungsfindung – sie ist Teil der Lösung.» Die Krisenbewältigung in den Jahren 2020 bis 2023 habe gezeigt, dass die Menschen Massnahmen und allfällige Einschränken nur mittragen, wenn sie umfassend informiert und aufgeklärt seien. «Nur so können wir verhindern, dass sich in der Bevölkerung eine Unzufriedenheit aufbaut, die sicherheitsrelevant werden könnte», sagt Meile.

Da Städte mit ihrer hohen Bevölkerungsdichte davon besonders betroffen sind, hat Markus Meile vor einem halben Jahr ein Projekt zur Steigerung der gesellschaftlichen Widerstandsfähigkeit initiiert: «Das vorsorgeplanerische Risiko- und Krisenmanagement reicht allein nicht mehr aus. Es gilt nun auch in der Gesellschaft ein Bewusstsein und die Fähigkeiten im Umgang mit Krisen zu entwickeln.» Neben der Vertiefung von Austausch und Dialog mit der Bevölkerung sollen unter anderem die Nachbarschaftshilfe gefördert werden oder Jugendliche als Katalysatoren und Übersetzer von Informationen für ihre Eltern und Grosseltern gewonnen werden.
 

3 Tipps zur Krisenvorbereitung für Gemeinden und Städte

Jede Exekutive einer Gemeinde oder einer Stadt sollte sich mit der Krisenvorbereitung beschäftigen. Denn Krisen werden künftig häufiger und in kürzeren Abständen auftreten, ist Markus Meile, Stabschef städtische Krisenführungsorganisation im Sicherheitsdepartement der Stadt Zürich, überzeugt. Seine drei wichtigsten Tipps:

  1. Verantwortlichkeit bestimmen: Eine Person, vorzugsweise aus der Abteilung Sicherheit, sollte als «Verantwortliche oder Verantwortlicher für Krisenmanagement» bezeichnet werden, und diese Funktion muss in der Verwaltung bekannt sein.
  2. Die oder der Verantwortliche für Krisenmanagement braucht einen direkten und regelmässigen Zugang zur Exekutive der Gemeinde oder Stadt, um Szenarien aufzuzeigen, Massnahmen vorzuschlagen und Mittel dafür zu beantragen.
  3. Wichtig ist auch der Aufbau eines Netzwerks: Der oder die Verantwortliche für Krisenmanagement steht mit den internen und externen Hauptpartnern in Krisenlagen in einem ständigen Austausch und sollte entsprechende Übungen planen und durchführen.

Häufigere Krisen in kürzeren Abständen

Zu Krisen, davon ist der Sicherheitsexperte überzeugt, wird es künftig immer häufiger und in immer kürzeren Abständen kommen. Als hoch stuft er zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit eines grossflächigen Ausfalls der Informations- und Kommunikationstechnologie ein. «Auch die Auswirkungen des Klimawandels werden in der Stadt Zürich zu spüren sein mit Hitzewellen, Starkregen oder zusätzlichen Flüchtlingsströmen. Und es wäre naiv, uns nicht darauf vorzubereiten», sagt Markus Meile.

Um auch künftig schnell und umfassend auf potenzielle Gefährdungen reagieren zu können, setzt die Stadt Zürich zudem auf die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse. Dafür ist sie kürzlich eine Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Krisenkompetenz der Universität Zürich eingegangen und profitiert so von der interdisziplinären Forschung der Expertinnen und Experten aller sieben Fakultäten zur Bewältigung von Krisen aller Art.

Ein weiterer Baustein, der die Stadt Zürich zu einem Kompetenzzentrum für Krisenbewältigung mit europäischer Strahlkraft macht, ist das im Sommer 2023 eingeweihte Bildungszentrum Blaulicht in Opfikon. Es ist die erste Ausbildungsstätte in der Schweiz, die Rettungsdiensten, Berufs- und Milizfeuerwehren, Polizei sowie Zivilschutz und Führungsstäben für die Bewältigung von Grossereignissen unter einem Dach aus- und weiterbildet. 

6'100'000 Kilowatt eingespart

Im Vordergrund sieht man im Halbdunkel die Reiterstatutre von Hans Waldmann, Teile der Münsterbrücke sowie das unbeleuchtete  Grossmünster.
Die Stadt Zürich traf freiwillige Sparmassnahmen und reduzierte zum Beispiel die Beleuchtung öffentlicher Gebäude. Quelle: Stadt Zürich, Departement der Industriellen Betriebe

Die Stadt Zürich reagierte beispielhaft auf die drohende Energiemangellage im Winter 2022/2023. Durch die etablierte Krisenvorbereitung konnte sie unmittelbar nach den ersten Warnungen im Frühsommer 2022 handeln und mit den städtischen Grossverbrauchern Massnahmen zur Energiekontingentierung evaluieren.

Zur stadtinternen Identifikation, Koordination, Information und Evaluation der Massnahmen wurde eine Taskforce Energie unter der Leitung der Energiebeauftragten Silvia Banfi Frost gebildet. Bereits im September 2022 beschloss der Stadtrat ein Paket aus Sofort- und weitergehenden Massnahmen. «Damit wollte die Stadt Zürich ihren Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten, aber auch die Mitarbeitenden, Bevölkerung und Wirtschaft für die Bedeutung des Energiesparens sensibilisieren und mit gutem Vorbild vorangehen», erklärt Silvia Banfi Frost.

Prognosen übertroffen

Die Bilanz der umgesetzten freiwilligen Energiesparmassnahmen ist beeindruckend. In den Bereichen öffentliche Gebäude und Anlagen, öffentlicher Raum, öffentlicher Verkehr und Dienstfahrzeuge der Stadtverwaltung konnten 6'100’000 kWh Energie eingespart werden. Damit wurden die Prognosen von 4’500’000 kWh deutlich übertroffen. Die Temperaturreduktionen in den Hallenbädern (-1.7 Mio. kWh), in den Trams (-1.65 Mio. kWh) und in Verwaltungsgebäuden (-1.01 Mio. kWh) trugen dazu über die Hälfte bei. Gespart wurde auch mit der Reduktion der Beleuchtung in öffentlichen Gebäuden (-442'000 kWh), ihren Fassaden (-6'000 kWh) sowie der Festbeleuchtung (-204'000 kWh). Der interne Arbeitsaufwand betrug etwa 2'500 Arbeitsstunden statt der geschätzten 7'300. «Grundsätzlich haben die Mitarbeitenden, Bevölkerung und Wirtschaft viel Verständnis für die Massnahmen gezeigt», resümiert Silvia Banfi Frost.

Für den Winter 2023/2024 sah die Stadt Zürich keine Massnahmen vor. «Allerdings haben wir die Massnahmen, die im vergangenen Winter zu einer Effizienzsteigerung ohne Beeinträchtigung der Dienstleistungen oder des Komfortniveaus geführt hatten, beibehalten», erklärt Silvia Banfi Frost. So zum Beispiel die Temperaturreduktion in den Trams oder die Anpassung der Beleuchtung in öffentlichen Gebäuden.

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