Ein Besuch im Epizentrum der Demokratie

30 junge Delegierte der Stadtzürcher Schule Bühl waren im Käfigturm in Bern unterwegs. Im ehemaligen Gefängnis erfuhren die Kinder viel über die Demokratie und praktizierten sie anschliessend in einer Parlamentssitzung gleich selbst.

Text: Andreas Minder Fotos: Andreas Schwaiger

In den dicken Mauern des Berner Käfigturms prallen Gegensätze aufeinander. Es gibt knarrende Treppen, ein über 300-jähriges, etwas zu langsam tickendes Uhrwerk und eine Kerkertür, die daran erinnert, dass hier einst Menschen inhaftiert, verhört und der Folter zugeführt worden sind. Auf den fünf Stockwerken finden sich aber auch viele Bildschirme, modernes Mobiliar, Schautafeln und Flipcharts. Sie zeigen, dass das ehemalige Gefängnis heute einem anderen Zweck dient als zu Zeiten der gnädigen Herren von Bern – der Demokratie.

Darüber wollten die Delegierten des Schülerinnen- und Schülerparlaments, kurz Schparl («je parle»), der Stadtzürcher Schule Bühl mehr erfahren. Die 30 Kinder, zwei pro Klasse vom zweiten bis zum sechsten Schuljahr, sind am Morgen des 11. Septembers dieses Jahres im Zug nach Bern gereist. Begleitet wurden sie von Lehrpersonen – und einem riesig grossen Plüsch-Globi. «Er ist unser Maskottchen», sagt Schulleiterin Moria Zürrer. Die Figur sei unter den Kindern höchst beliebt, ein richtiger Popstar. Das hatte sie vor ein paar Jahren auf die Idee gebracht, ihn zum Demokratie-Botschafter zu machen. Zürrer initiierte das Sachbuch «Globi und die Demokratie», in dem das blaue Schnabelwesen auf einer Reise durch die Schweiz erfährt, wie hier die Demokratie funktioniert. Die Delegierten des Schparl kennen das Buch natürlich. Und deshalb war es klar, dass die Fahrt nach Bern nicht ohne Globi stattfinden konnte. Kommt dazu, dass er noch weitere Qualitäten hat: «Er kann Trost spenden und sorgt für gute Stimmung», sagt Zürrer.

Zwei Schülerinnen unterhalten sich mit einer Lehreperson-
In Bern beschäftigen sich die Schülerinnen und Schüler während eines OL im Käfigturm mit Fragen zur Demokratie. Quelle: Andreas Schwaiger

Grundfragen der Partizipation

Tom Berger, der Geschäftsführer des Polit-Forums Bern, das den «Demokratie-Turm», wie das Forum den Käfigturm nennt, betreibt, nimmt die Schülerinnen und Schüler in Empfang. Er erklärt ihnen, wie der Demokratie-OL funktioniert, den sie gleich absolvieren werden. Auf Zetteln sind Aufgaben notiert, die mithilfe von Informationen gelöst werden können, die im ganzen Turm verteilt sind. Es geht immer um Spielarten der drei Grundfragen: Wer darf alles mitentscheiden? Wie kommen Themen auf den Tisch? Wie läuft der Entscheidungsprozess ab?

Die Delegierten schnappen sich einen Zettel und schwärmen aus. Schon auf dem Weg nach Bern haben sie altersdurchmischte Gruppen gebildet. Jede hat den Namen eines Kantons bekommen. Die Aufgabe, die sich Repräsentantinnen und Repräsentanten des Kantons Zürich vorgenommen haben, führt sie zu einem speziellen Flipperkasten. Bei diesem Gerät geht es nicht darum, mit einer Kugel möglichst viele Punkte zu sammeln, sondern es veranschaulicht, wie es eine Stimme an die Urne schafft – oder nicht. Die Kinder merken schnell, was für sie gilt: Sie sind zu jung, um mitzutun, nur ihre Lehrpersonen sind stimmberechtigt. Und sie erfahren auch, dass die Kinder nicht die grösste Gruppe sind, die in der Schweiz nicht wählen und abstimmen dürfen. Fast ein Viertel der Bevölkerung ist ausgeschlossen, weil sie keinen Schweizer Pass hat.

«Ihr habt alle schon eine Stimme, egal welchen Pass ihr habt, egal wie alt ihr seid.»

Tom Berger, Geschäftsführer des Polit-Forums

Ein Stockwerk höher haben sich die Glarnerinnen und Glarner auf Sitzkissen hingefläzt. Sie hören dem Journalisten Fredy Gsteiger zu, der auf einem Bildschirm über die Demokratie spricht. Daneben schauen die Schwyzerinnen und Schwyzer aus dem Fenster. Ihre Aufgabe: Sie sollen zeichnen, was sie draussen sehen. Bald nehmen die Kuppeln und das Giebelfeld des Bundeshauses Kontur an. Unten auf dem gleichen Zettel haben sie die Frage beantwortet, was sie verändern möchten: «Kein Hunger/Durst. Kein Krieg. Kein Plastik. Weniger Natur zerstören.» Der Kanton Nidwalden, der die gleiche Aufgabe gefasst hat, wünscht sich ganz andere Dinge: «Keine Nachmittagsschule.» Und: «Dass das Schwimmen im Schulhaus ist.»

Reise mit Symbolkraft

Schulleiterin Moria Zürrer ist das Thema Demokratie ein Herzensanliegen. Sie ist Vizepräsidentin der Neuen Helvetischen Gesellschaft, die sich die Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen auf die Fahne geschrieben hat. «Wir hatten im Käfigturm mal eine Führung, und ich fand das einen guten Ort, um mit den Kindern hinzukommen», sagt sie. Zum einen, weil sie hier Dinge lernen, die im Lehrplan vermerkt sind. Politik, Demokratie und Menschenrechte sind fächerübergreifende Themen, und im Fachbereich Natur, Menschen, Gesellschaft sind mehrere einschlägige Kompetenzen aufgeführt. Zum anderen geht es Zürrer um die Symbolkraft der Reise nach Bern. «Es macht den Kindern klar, dass sie als Delegierte eine besondere Rolle haben. Dass wir gemeinsam ins schweizerische Epizentrum der Demokratie gereist sind, wird ihnen in Erinnerung bleiben.» Das verleihe der Partizipation Gewicht. Ganz im Sinne von Gotthelf: Im (Schul)haus muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland. In der Primarschule Bühl ist der Klassenrat die Keimzelle der Mitwirkung. Hier wird alles diskutiert, was die Schülerinnen und Schüler beschäftigt. Die Anliegen der Klasse tragen die Delegierten danach ins Schparl. «Das sind Gefässe, in denen Kinder auf einer Ebene Mitsprache erleben, die ihnen entspricht», sagt Zürrer. Sie findet dies umso wichtiger, als sie den Eindruck hat, dass das Diskutieren am Küchentisch zu Hause in vielen Familien aus Zeitgründen wegfalle.

Zwei Schüler lesen gemeinsam etwas von einem Klemmbrett ab.
Die Delegierten schnappen sich einen Zettel und schwärmen aus. Quelle: Andreas Schwaiger

Der Programmpunkt, der auf den Orientierungslauf im Käfigturm folgt, ist ein selbstständiger Ausflug der Schülerinnen und Schüler in die nähere Umgebung. Mit dem Auftrag, darauf zu achten, was denn in der Stadt Bern etwas mit Demokratie zu tun habe. Eine halbe Stunde später sind die Kantonalgruppen zurück. Das Bundeshaus haben natürlich alle gesehen. Das Luzerner Trio hat zudem vor dem Bundeshaus eine Limousine mit zwei Männern im Anzug entdeckt. Die beiden erzählten den Kindern, sie warteten auf eine Botschafterin, die im Bundeshaus zu tun habe. Internationale Politik also. Den drei Angehörigen der Schwyzer Gruppe fiel etwas anderes auf: Das Parlamentsgebäude ist von Banken umzingelt. Die Schweizerische Nationalbank ist da, die UBS, die Berner Kantonalbank und die Valiant Bank. Zufall? Oder hat auch das etwas mit Demokratie, Macht und Politik zu tun?

Gegen Mittag verabschiedet sich Tom Berger und will von den Gästen noch wissen, was sie im Demokratieturm überrascht habe. Gleich mehrere Kinder sagen, es habe sie erstaunt, wie aufwendig es sei, den Schweizer Pass zu bekommen, sogar für Personen, die im Land geboren wurden. Berger nickt und fügt an, dass es viele Bereiche gebe, in denen alle mitreden und mitbestimmen könnten: in der Familie, im Verein in der Schule. «Ihr habt alle schon eine Stimme, egal welchen Pass ihr habt, egal wie alt ihr seid.»

«Es war ein schönes Erlebnis, und die Schülerinnen und Schüler konnten echte Entscheidungen treffen. »

Moria Zürrer, Schulleiterin der Schule Bühl

Keinerlei Politikverdrossenheit

Berger erzählt den Kindern aus Zürich damit nichts Neues. Schliesslich hat er Delegierte vor sich, die es gewohnt sind, die Interessen ihrer Klassen zu vertreten. So wie sie es gleich auch im Demokratieturm tun werden. Denn zum ersten Mal findet eine Sitzung des Schparl in Bern statt, in nächster Nähe des Bundeshauses. Vorne am Tisch sitzen Nils, der Präsident des Schparl, zu seiner Rechten sein Waibel Eric, zu seiner Linken Schulleiterin Zürrer und neben ihr Globi. Nils führt durch die Traktanden. Zuerst werden die Delegierten der 2. Klassen mit Applaus willkommen geheissen. Für sie ist es die erste Parlamentssitzung.

Drei Kinder schauen in die Kamera und halten violette Karten in den Händen.
Im Anschluss an den OL praktizieren die Kinder Demokratie gleich selbst. Quelle: Andreas Schwaiger

Dann gibt Moria Zürrer bekannt, dass das Vizepräsidium des Schparl vakant ist und neu besetzt werden muss. «Wer will?» Mehr als die Hälfte der Delegierten strecken auf. Die Schulleiterin erklärt ihnen, dass sie für die Wahl in ein paar Tagen eine Bewerbung präsentieren müssen. Die Kinder der Schule Bühl werden danach aus einem breiten Kandidatenfeld auswählen können, von Politikverdrossenheit keine Spur.

Das lässt sich auch an der Laufbahn des aktuellen Präsidenten Nils ablesen. Der Sechstklässler wurde letztes Jahr gewählt, im dritten Anlauf. Seit er als Drittklässler Delegierter wurde, hat er jedes Jahr fürs höchste Amt kandidiert. Er fabrizierte Wahlplakate, sprach mit vielen seiner Gspändli und ging in die Klassen, um sein Wahlprogramm zu präsentieren. Letztes Jahr versprach er einen grüneren Pausenplatz und einen Basketballkorb. Was hat ihn motiviert? «Ich wollte es austesten», sagt er. «Und ich dachte, dass ich es gut kann.» Misst man ihn daran, wie er seine Versprechungen einlöste, hat er richtig gedacht. «Alle Ziele erreicht», zieht er nach einem Jahr stolz Bilanz. Dass der Pausenplatz grüner wird, liegt zwar nicht nur an ihm. Aber er war es, der das Plenum der Schule Bühl vorbereitete und leitete, das über zwei Varianten eines grüneren Pausenplatzes abstimmte. «Es war ein schönes Erlebnis, und die Schülerinnen und Schüler konnten eine echte Entscheidung treffen», erinnert sich Moria Zürrer an die «Bühlgemeinde».

Die Kinder halten violette Karten in die Luft. Ein Schüler steht hinter seinem Tisch und zählt die Zettel.
Geleitet wird die Parlamentssitzung vom engagierten Präsidenten Nils. Quelle: Andreas Schwaiger

Im Käfigturm beschäftigt sich das Schparl mit vielfältigen Anliegen und Fragen aus dem Schulalltag. Sollen Hühner angeschafft werden? Soll der traditionelle Verkleidungstag wieder durchgeführt werden? Oder doch lieber eine Talentshow? Braucht das Schparl ein Logo? Alle diese Fragen werden differenziert diskutiert, Vor- und Nachteile abgewogen, Ideen angepasst – und schliesslich entschieden: Der Hühnerentscheid wird vertagt, es gibt eine Talentshow und ganz klar, das Schparl braucht ein Logo.

Nach einer Stunde schliesst Präsident Nils die Versammlung. Ein langer Vormittag im Zeichen der Demokratie ist um. Die Delegierten sammeln ihre Siebensachen zusammen und machen sich auf den Weg zum Bahnhof. Mit dabei: Ein Kopf voller Eindrücke und Bilder. Und natürlich Globi.

Der Demokratie-Turm

Das Polit-Forum Bern fördert im Käfigturm die Auseinandersetzung mit der Demokratie mit Veranstaltungen, Ausstellungen und Bildungsmodulen. Schulklassen können neben dem Demokratie-OL eine breite Palette an Angeboten nutzen. [ami] www.polit-forum-bern.ch