Abstimmen wie in echt

Politische Prozesse erlebbar machen – das ermöglicht ein neues Angebot des Kantons Zürich für Schulklassen der Sekundarstufen I und II. Sie können für bestimmte Abstimmungen oder Wahlen Originalunterlagen bestellen und das Verfahren eins zu eins durchspielen. Ein Besuch in einer Berufsfachschule zeigt, wie.

Text: Jacqueline Olivier 

Fotos: Der Fotograf Andreas Schwaiger hat die Klasse STF 25a des Bildungszentrums Limmattal im Politikunterricht beobachtet.

Der helle Streifen auf dem Boden im ersten Stockwerk gehört nicht zur Signaletik des Bildungszentrums Limmattal (BZLT). Zeljka Nedovic hat ihn mit Klebeband vor ihrem Schulzimmer hingeklebt. Etwas später wird er eine Rolle in ihrem heutigen Unterricht spielen. Doch zuerst begrüsst sie die nach und nach eintreffenden Lernenden einzeln und namentlich mit einem fröhlichen «Guten Nachmittag!». Zeljka Nedovic ist Lehrerin für Allgemeinbildenden Unterricht (ABU). Heute erwartet die Klasse angehender Strassentransportfachleute im ersten Lehrjahr ein Stapel hellgrauer Couverts auf dem Tisch vor den Bankreihen. Darin enthalten sind kantonale Abstimmungsunterlagen für die Abstimmung vom 30. November 2025. Die Lernenden werden sich an diesem ersten Dienstagnachmittag nach den Herbstferien mit zwei Vorlagen beschäftigen und schliesslich darüber abstimmen. Allerdings nicht an der Urne, sondern als Übung. Es handelt sich um ein neues Angebot des Kantons Zürich für Schulklassen der Sekundarstufen I und II: «Politik im Unterricht: Wir stimmen ab!» Die Klasse STF 25a im BZLT gehört zu den ersten, die von diesem Angebot Gebrauch machen.

Die Lehrerin steht vor der Klasse und zeigt auf eine Notiz auf der Wandtafel.
Die Klasse STF 25a im BZLT gehört zu den ersten, die vom Angebot des Kantons Zürich Gebrauch machen. Quelle: Andreas Schwaiger

Längst nicht alle stimmen ab Politische Bildung ist Teil des ABU, dazu gehört explizit auch das Thema Abstimmungen und Wahlen. Mit einer eins zu eins durchgespielten Abstimmung werde dieses Thema für die Lernenden erlebbar, sagt Zeljka Nedovic. Aber natürlich funktioniert dies nicht aus dem Stand. Zur Einführung hat die Lehrerin deshalb noch vor den Herbstferien mit der Klasse eine Kurzgeschichte zum Thema Demokratie des kurdischstämmigen Autors Yusuf Yeşilöz gelesen. Heute sollen die 18 anwesenden Lernenden – 17 junge Männer und eine junge Frau – zu Beginn der Stunde auf Post-it-Zetteln notieren, was ihnen von dieser Lektüre in Erinnerung geblieben ist, und sich anschliessend kurz mit dem Banknachbarn – oder der Banknachbarin – darüber austauschen. 

Einige drehen den Spiess allerdings um und beginnen sofort zu diskutieren. «Etwa 40 Prozent gehen abstimmen, die anderen bleiben zu Hause», sagt ein Lernender zu seinem Kollegen. Dieser ergänzt: «Und die unter 18 dürfen gar nicht abstimmen.» Rasch notieren sie dies auf ihren Zetteln. An der Tafel werden die Notizen gesammelt. Ein weiterer Lernender etwa schreibt: «Alle müssen Steuern zahlen, aber nicht alle dürfen wählen.» Und noch ein anderer hat sich die drei Ebenen Gemeinde, Kanton, Bund sowie die beiden Kammern auf Bundesebene – Ständerat und Nationalrat – gemerkt.

«Man müsste die Politik schmackhafter machen - schon in der Volksschule»

René Schuler, Lernender zur Transportfachperson

Als Nächstes erklärt die Lehrerin den jungen Leuten, mit welchen Abstimmungsvorlagen sie sich heute beschäftigen werden: mit den kantonalen Volksinitiativen «Für ein Grundrecht auf digitale Integrität» und «Mehr bezahlbare Wohnungen im Kanton Zürich» sowie dem jeweiligen Gegenvorschlag des Kantonsrats. Doch zuerst geht es raus in den Korridor zum aufgeklebten Streifen vor dem Zimmer. Er dient als Meinungsbarometer. Die Lehrerin liest einige Statements zu den beiden Abstimmungsthemen vor, die Schüler positionieren sich auf einer Skala von «Ich stimme zu» bis «Ich stimme nicht zu». Meistens ergeben sich dabei klare Bilder. So stellt sich beispielsweise nur ein Lernender bei der Frage, ob der Staat für mehr bezahlbare Wohnungen sorgen soll, in die Mitte, alle anderen stimmen zu oder eher zu. Der Staat habe nicht immer die Macht, um über Wohnungen zu entscheiden, erklärt der Jugendliche, «meistens entscheiden die Hauseigentümer». Bei der Aussage «Ich fühle mich im Internet manchmal nicht sicher» ist die Verteilung ähnlich, bei der Frage, ob der Staat für mehr Sicherheit sorgen soll, stimmt hingegen nur ein Lernender zu. «Ich möchte, dass der Staat mehr tut, zum Beispiel bei Bankgeschäften», sagt er.

Couvert öffnen – gewusst wie

Zurück im Schulzimmer zeigt Zeljka Nedovic, wie man das Abstimmungscouvert mit viel Fingerspitzengefühl so öffnet, dass es nicht an der falschen Stelle reisst. Ein paar der Lernenden schauen amüsiert, merken aber schnell: Es ist tatsächlich nicht ganz einfach. Den Couverts entnehmen die jungen Leute jeweils eine kantonale Abstimmungszeitung, einen Stimmrechtsausweis, ein Stimmzettelcouvert und die Stimmzettel für die beiden Vorlagen. Alles mit einem grossen «Specimen» gekennzeichnet, denn die Unterlagen sind nur für den Unterricht zugelassen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass hier geschludert werden darf. Zum Beispiel, sagt die Lehrerin, gehöre der Stimmrechtsausweis nie mit den Stimmzetteln ins Stimmzettelcouvert. «Warum nicht?» Weil man die Adresse brauche, um das Abstimmungscouvert zurückzuschicken, vermutet jemand. Die Lehrerin antwortet: «Auch deshalb, aber ebenso, um das Abstimmungsgeheimnis zu wahren.» Ein Schüler will wissen, warum das Stimmzettelcouvert mehrere durchgehende Löcher aufweise. Auch das kann Zeljka Nedovic erklären: «Damit man bei der Auszählung sieht, dass keine Zettel mehr drin sind, das heisst, dass alle Zettel gezählt wurden.» Und dann betont sie noch, wie wichtig es sei, den Stimmrechtsausweis immer eigenständig und nie mit Bleistift zu unterschreiben. «Sonst sind die Stimmen nicht gültig.» 

Eine Lehrerin hebt das Abstimmungscouvert und dessen Inhalt hoch, um es der Klasse zu zeigen.
Als Erstes gilt es, das Abstimmungscouvert feinsäuberlich zu öffnen, danach zeigt Lehrerin Zeljka Nedovic was darin alles enthalten ist. Quelle: Andreas Schwaiger

Vor dem Ausfüllen der Stimmzettel, fährt sie fort, müsse man sich jedoch eine Meinung bilden. Dafür teilt sie die Klasse in sechs Gruppen ein, die sich mit den beiden Vorlagen, den Argumenten von Gegnern und Befürwortern sowie den Empfehlungen von Kantonsrat und Regierungsrat, beschäftigen – jede Gruppe hat eine andere Aufgabe. Für die Notizen bekommen sie Zettel in unterschiedlichen Farben. Als Hilfestellung für jene, die dies möchten, hat die ABU-Lehrerin zudem die Abstimmungsunterlagen in Leichter Sprache ausgedruckt. Alle Lernenden greifen gerne zu.

Zwei Vorlagen, sechs Zettel

Die einen vertiefen sich sofort in die Unterlagen und fangen an, zu diskutieren und Stichworte auf ihren Zetteln festzuhalten. Andere hingegen blicken erst einmal etwas ratlos auf das viele Gedruckte, bevor sie sich einen Ruck geben und versuchen, sich auf die Texte einzulassen. Zeljka Nedovic geht von Gruppe zu Gruppe, beantwortet Fragen, unterstützt, wenn sie merkt, jemand weiss nicht
weiter oder ist auf einem falschen Pfad. Schliesslich pinnen alle ihre Zettel an die grosse Pinnwand und dürfen erst einmal eine fünfminütige Pause einschalten.

Bei der nachfolgenden Präsentation fassen die Lernenden gruppenweise ihre wichtigsten Erkenntnisse zusammen. Eine solche Erkenntnis lautet zum Beispiel: Die Abstimmungsempfehlungen von Kantonsrat und Regierungsrat sind nicht immer deckungsgleich. Da und dort hakt die Lehrerin fragend nach, wenn sie das Gefühl hat, etwas sei nicht ganz verstanden worden. Dann erklärt sie, wie man die Stimmzettel ausfüllt: «Gültig sind nur Ja oder Nein, keine Häkchen, Kreuzchen oder sonstige Zeichen.» Erschwert wird die Sache dadurch, dass es für beide Vorlagen je drei Stimmzettel gibt: einen für die Initiative, einen für den Gegenvorschlag und dann noch einen für die Stichfrage: Sollten sowohl die Initiative als auch der Gegenvorschlag angenommen werden, welchen der beiden Vorschläge bevorzugt man dann? 

Drei Jugendliche stehen vor einer Pinnwand und präsentieren etwas der Klasse.
Bei den Präsentationen fassen die Lernenden gruppenweise ihre wichtigsten Erkenntnisse zusammen. Quelle: Andreas Schwaiger

Für Erstabstimmende sicher nicht die einfachste Ausgangslage. Einige der Lernenden sind jedoch bereits stimmberechtigt. Sie gehen sichtbar routiniert ans Werk, setzen ihre Antworten auf die Stimmzettel, schieben diese in das Stimmzettelcouvert, unterschreiben den Stimmrechtsausweis – mit Kugelschreiber oder Füller –, stecken ihn mitsamt dem Stimmzettelcouvert in den grossen Umschlag, prüfen, ob im Sichtfenster auch wirklich die Adresse des Wahlbüros und nicht die eigene zu lesen ist, und verschliessen den Umschlag. Doch auch die anderen schaffen es – teilweise mithilfe der Lehrerin oder des Banknachbars –, alles korrekt auszufüllen und zusammenzustellen. Für die Auszählung reicht es heute nicht mehr. Zeljka Nedovic wird mit den Lernenden in 14 Tagen ein Wahlbüro inszenieren. Manche Lernende scheinen über diesen Aufschub nicht unglücklich – der Nachmittag war anstrengend.

Politik schmackhafter machen

Für René Schuler hingegen war das heute «nichts Neues». Er ist 22 Jahre alt und erklärt, er gehe immer wählen und abstimmen. Zu den beiden im Unterricht behandelten Vorlagen wird er allerdings seine Stimme nicht abgeben können – er ist im Kanton Schwyz zu Hause. Auch seine Eltern nähmen immer an Wahlen und Abstimmungen teil. «Ich habe aber meistens eine ganz andere Meinung als sie.»
Um sich zu informieren, schaut er regelmässig Fernsehen: «SRF – ‹Arena›, ‹Hashtag SRF global› und so.» Die 16-jährige Laura Faliti ist noch nicht stimmberechtigt und informiert sich auch nicht aktiv über politische Themen. «Manchmal bekomme ich aber etwas mit, wenn meine Eltern Radio hören oder miteinander diskutieren.» Sie kann sich vorstellen, später von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen, fände es aber positiv, wenn in der Schule mehr über Politik geredet würde. «Man müsste die Politik schmackhafter machen – schon in der Volksschule», nimmt René Schuler den Faden sogleich auf. Die Idee mit den Abstimmungsunterlagen im Unterricht findet er gut. Solche Angebote für die Schulen müsste es mehr geben, meint er, man könne Politik ja in verschiedenen Fächern einbauen. Doch trotz seines Interesses daran, mitzureden – sich selbst politisch zu engagieren, kommt für ihn nicht infrage. Ein Kollege sei Mitglied in einer Jungpartei. «Wie man da zum Teil angefeindet wird – nein danke!» 

Eine Jugendliche und ein Jugendlicher
Einige Jugendliche vertiefen sich sofort in die Unterlagen und fangen an, zu diskutieren und Stichworte auf ihren Zetteln festzuhalten. Quelle: Andreas Schwaiger

Zwei Wochen später: Das «Wahlbüro» ist geschlossen, die Stimmen sind ausgezählt. Die Lernenden haben alle Vorlagen angenommen und in der Stichfrage jeweils den Gegenvorschlag des Kantonsrats. Jenen zur Wohnungsinitiative allerdings denkbar knapp mit nur einer Ja-Stimme mehr. Auch bei dieser Auszählung setzte Zeljka Nedovic auf ein möglichst realistisches Szenario. «Als Stimmenzählerin oder Stimmenzähler übernimmt man grosse Verantwortung. Es gilt das Vier-Augen-Prinzip, es gibt Stichproben, bei Ungereimtheiten wird nachgezählt.» Um zu sehen, wie gut die Lernenden die Vorgänge verstanden haben, hat sie ihnen sogar extra zwei falsche, sprich ungültige Stimmrechtsausweise untergejubelt: Der eine war mit Bleistift, der andere gar nicht unterschrieben. «Ich war erstaunt, wie viel die Lernenden zwei Wochen später noch wussten.» Mit gleich zwei Vorlagen mit je einem Gegenvorschlag sei es für die jungen Leute teilweise sehr anspruchsvoll gewesen. Sie habe sich deshalb einen Moment lang gefragt, ob sie das Vorgehen bei einem nächsten Mal noch weiter vereinfachen solle, ist aber zum Schluss gekommen: «Ambitionierter Unterricht traut den Schülerinnen und Schülern etwas zu.» Bei einer Abstimmung müsse man halt immer viel lesen, selbst wenn man die Unterlagen in Leichter Sprache nutze. «Dieses Bewusstsein zu vermitteln, finde ich wichtig.» Rückblickend ist sie mit ihren Lernenden sehr zufrieden. Und natürlich wird sie mit ihnen nach der tatsächlichen Abstimmung die Ergebnisse anschauen, damit sie einschätzen können, wo sie selbst im politischen Spektrum stehen.

Politische Bildung – Angebote für Schulklassen

Mit dem Angebot «Politik im Unterricht: Wir stimmen ab!» stellt der Kanton Zürich den Zürcher Schulen der Sekundarstufen I und II periodisch und kostenlos Abstimmungs- und Wahlunterlagen zur Verfügung. Damit kann der Abstimmungsprozess in der Klasse thematisiert und geübt werden. Die Unterlagen werden mit Blick auf ausgewählte offizielle Abstimmungs- und Wahlsonntage bereitgestellt und sind so gekennzeichnet, dass sie nicht für reale Abstimmungen verwendet werden können. In Zusammenarbeit mit easyvote, einem Angebot des Dachverbands Schweizer Jugendparlamente, stellt die Bildungsdirektion den Lehrpersonen zudem didaktisches Material für den Unterricht zur Verfügung. Neu führt der Zürcher Kantonsrat zudem eine eigene Website, auf der weitere vielseitige Angebote für die Politische Bildung im Kanton Zürich vorgestellt und verlinkt werden – vom Politik-Lexikon «Von A wie Abstimmen bis Z wie Zuweisung» über das interaktive Planspiel «Wir sind Parlament» bis hin zum Wettbewerb «CinéCivic», der im Kanton Zürich im Schuljahr 2025/26 zum ersten Mal stattfindet. Bei diesem Wettbewerb können Schulklassen einen Film, ein Plakat oder eine Aktion einreichen mit dem Ziel, andere junge Menschen dazu zu motivieren, sich politisch zu engagieren. [jo]  www.politikvermittlung.ch