Beratung und Unterstützung - eine Teamaufgabe
Schulblatt 26.09.2025
An einigen Berufsfachschulen sind seit ein paar Jahren Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter der Fachstelle Kabel tätig. An der Allgemeinen Berufsschule Zürich hat sich dieses Angebot als wichtiger Baustein eines umfassenden Beratungs- und Begleitungssystems etabliert.
Text: Jacqueline Olivier Foto: Dieter Seeger
Verlockende Düfte von Gebratenem, Gekochtem oder Gebackenem, die durch die Korridore wehen – sie sind sozusagen das Aushängeschild der Allgemeinen Berufsschule Zürich (ABZH). Diverse Gastronomie- und Hotellerieberufe bilden einen Schwerpunkt des hiesigen Ausbildungsangebots. Daneben besuchen auch Drogisten, Orthopädistinnen, Zahntechniker, Bühnentänzerinnen oder Oberflächenbeschichter den Unterricht an der ABZH. Insgesamt gehen an der Schule wöchentlich zwischen 2200 und 2600 Lernende ein und aus.
Seit 2021 hat Julian Roldan hier seinen Arbeitsplatz. Der 36-Jährige ist Sozialarbeiter. Sein Arbeitszimmer liegt im Erdgeschoss. In der Regel ist er von Mittwoch bis Freitag anwesend, Montag und Dienstag übernimmt seine Kollegin Petra Züsli. 2021, das war mitten in der Coronapandemie. Tatsächlich sei dieses Angebot in jener Zeit entstanden, aber nicht als Folge der Pandemie, betont Rektorin Meta Studinger. Schon lange zuvor habe man ein internes SOS-Team gegründet, bestehend aus jeweils vier bis fünf speziell geschulten Lehrpersonen, erklärt sie weiter. «Wir haben aber gemerkt, dass dieses Angebot nicht reicht, weil diese Lehrpersonen allein nicht die Ressourcen haben, Jugendliche in schwierigen Situationen längerfristig zu begleiten und zu unterstützen.»
«Diese Partnerschaft ist für uns ein klares Erfolgsprojekt.»
Meta Studinger, Rektorin ABZH
Angebote, die sich ergänzen
Julian Roldan und Petra Züsli können genau dies leisten. Sie gehören zum Team der unabhängigen Fachstelle Kabel, die von der katholischen und der reformierten Kirche im Kanton Zürich getragen wird. Seit ihrem Start im Jahr 1991 hat sie ein breites Beratungs- und Unterstützungsangebot rund um die Berufslehre aufgebaut (siehe Kasten). Und seit mehr als zehn Jahren bietet sie eine Partnerschaft für Berufsfachschulen an, um vor Ort die Sozialarbeit zu übernehmen. Von dieser Möglichkeit profitiert auch die ABZH. «Diese Partnerschaft ist für uns ein klares Erfolgsprojekt», sagt Meta Studinger. «Das SOS-Team und die Mitarbeitenden von Kabel haben von Beginn weg gut zusammengearbeitet.»
Dem kann Markus Koller, Mitglied des SOS-Teams, voll und ganz zustimmen. «Es lief von Anfang an gut, weil wir uns optimal ergänzen.» Als Lehrpersonen seien sie näher an schulischen Themen wie etwa Unter- oder Überforderung oder mangelhafte respektive fehlende Lerntechniken. Die Fachleute von Kabel hingegen könnten professionell auf persönliche oder gesundheitliche Schwierigkeiten der Lernenden eingehen.
An Kabel übertragen könne man unter anderem auch Probleme, die mit den Ausbildungsbetrieben zu tun hätten, ergänzt die Rektorin. Dadurch würden die Lehrpersonen entlastet. «Die Berufsfachschulen sind Partner der Betriebe, deshalb besteht das Risiko, dass eine Lehrperson in gewissen Fällen in eine Konfliktsituation zwischen Schule und Betrieb geraten kann. Die Mitarbeitenden von Kabel hingegen können neutral und unabhängig agieren.» Diese Unabhängigkeit und damit verbunden die Vertraulichkeit, die sowohl die Sozialarbeiterinnen und -arbeiter als auch das SOS-Team garantierten, seien für ein solches Angebot unabdingbar.
Mehrfachbelastete Jugendliche
Die Lehrerinnen und Lehrer – nicht nur die des SOS-Teams – spielen aber weiterhin eine wichtige Rolle, wie Julian Roldan betont: «Viele Jugendliche haben einen guten Draht zu ihren Lehrpersonen und umgekehrt. Oft schicken Lehrpersonen die Lernenden mit ihren Anliegen zu mir oder kommen sogar mit.» Manchmal geht der Sozialarbeiter auch selbst auf Lernende zu, wenn er von einer Lehrperson erfahren hat, dass der oder die entsprechende Jugendliche Probleme hat. Oder er begleitet Lernende in den Betrieb, wenn es dort Schwierigkeiten gibt. «In den Betrieben geht es oft um Absenzen oder um Konflikte mit Ausbildnerinnen und Ausbildnern oder mit Mitarbeitenden. Immer wieder möchten Lernende auch den Betrieb wechseln, weil sie sich im aktuellen nicht wohlfühlen.» Das weiss auch Markus Koller: «Immer wieder fühlen sich Lernende im Betrieb ausgenützt, beklagen sich über mangelnde Wertschätzung.»
Viele Lernende der ABZH, erklärt Meta Studinger, insbesondere im Gastro-Bereich, seien oft mehrfachbelastet. Nicht wenige kämen aus schwierigen Familienverhältnissen. «Gewalt und Alkohol im Elternhaus spielen eine Rolle, auch Ängste, die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde könnte eingreifen. Wenn dann noch Probleme im Lehrbetrieb dazukommen, haben solche Jugendliche einen enorm schweren Rucksack zu tragen. Und oft sind es gerade die Vulnerablen, die im Betrieb auf Schwierigkeiten stossen.» Viele ihrer Lernenden seien zudem eher lernschwach und hätten erhebliche Defizite im Sprachbereich. «Ihre aktuelle Berufswahl ist für solche Jugendliche oft mehr Notlösung als Wunschberuf. Den anspruchsvollen Bedingungen im Lehrbetrieb sind nicht alle gewachsen.»
«Die ganze Situation hat mich sehr belastet, denn ich wusste nicht, dass ich den Betrieb wechseln könnte. Ich dachte, ich müsste das irgendwie durchziehen»
Rahima Khatoon, Lernende im zweiten Lehrjahr als Systemgastronomiefachfrau
Ein Verbund mehrerer Schulen
In den letzten Jahren hat die Rektorin deshalb gemeinsam mit ihrem Team ein engmaschiges und fein austariertes Beratungsangebot und -konzept entwickelt. Es stützt sich schulintern auf das dreistufige System Lehrperson, SOS-Team, Kabel. Ein Schulleitungsmitglied ist zudem ausschliesslich für alle Belange der Lernenden zuständig. Als vierte Stufe kommen je nach Bedarf externe Beratungsstellen hinzu, die Triage hierfür obliegt dem Sozialarbeiter, der Sozialarbeiterin. «Für gewisse Fälle ist aber immer die Schulleitung zuständig, etwa wenn es um sexuellen Missbrauch geht», fährt Meta Studinger fort. Oft brauche es in solchen Fällen schnelle und unkonventionelle Lösungen, um die Lernenden möglichst rasch aus dem System zu holen und professionell zu unterstützen und zu begleiten. «Auch hier hat sich die Zusammenarbeit mit Kabel als sehr wertvoll erwiesen, denn dort ist für uns im Notfall immer jemand erreichbar.» Und noch etwas macht sie klar: «Es ist sehr wichtig, dass wir das Beratungs- und Unterstützungsangebot im Haus haben, denn wenn die Lernenden mit ihren Ängsten und Sorgen allein bleiben oder einen längeren Weg auf sich nehmen müssen, drohen wir sie zu verlieren.»
Mittlerweile hat die ABZH mit mehreren Berufsfachschulen in der Umgebung einen Verbund ins Leben gerufen: mit der Baugewerblichen Berufsschule, der Schule für Mode und Gestaltung, der Schule für Gestaltung und der Berufsschule für Detailhandel und Pharmazie. Während an Letzterer eine Kabel-Mitarbeiterin mit einem 60-Prozent-Pensum präsent ist, ist die Sozialarbeit an der ABZH mit Julian Roldan und Petra Züsli an jedem Schultag voll besetzt. Zu dritt decken sie alle fünf Schulen ab. Das Prinzip der SOS-Lehrpersonen kennt man in unterschiedlicher Form überdies auch an den anderen Verbundschulen. Nun soll die Zusammenarbeit unter den SOS-Lehrpersonen sowie mit den Sozialarbeiterinnen und -arbeitern mit regelmässigen Treffen und Absprachen gestärkt werden. Julian Roldan findet den Verbund eine gute Lösung, weil für kleinere Schulen eine eigene Sozialarbeit nicht möglich sei. Gleichzeitig schätzt er es, dass er und seine Kollegin an der ABZH tagtäglich vor Ort und für Lehrpersonen und Lernende jederzeit ansprechbar sind.
Eine Fachstelle für viele Fragen und Anliegen
Seit 1991 ist die unabhängige Fachstelle Kabel Anlaufstelle im Kanton Zürich für Beratung, Begleitung und Unterstützung rund um die Berufslehre. Ihr
kostenloses Angebot richtet sich in erster Linie an Lernende sowie an Personen, die nach Umwegen den Einstieg in die Lehre suchen. Auch Eltern, Ausbildungsverantwortliche und Berufsbildner, Bezugspersonen, Lehrpersonen sowie bildungspolitisch interessierte Organisationen können sich mit ihren Anliegen an Kabel wenden. Getragen wird die Fachstelle von der reformierten und der katholischen Kirche im Kanton Zürich. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben alle selbst ursprünglich eine Berufslehre absolviert und sich später im sozialen Bereich weitergebildet. Aktuell hat Kabel zwölf Standorte, die Mehrheit davon befindet
sich an Schulen. Dort übernimmt Kabel die Rolle der Schulsozialarbeit. Mit Einführung der Schulsozialarbeit auf Sekundarstufe II im Kanton Zürich können die Berufsfachschulen wählen, ob sie (weiterhin) mit einer externen Stelle zusammenarbeiten oder selbst Fachpersonen aus der Schulsozialarbeit anstellen wollen.
An der Allgemeinen Berufsschule Zürich und ihren Verbundschulen hält man an der Partnerschaft mit Kabel fest. [jo]
www.kabel-berufslehre.ch
Erfolgreicher Betriebswechsel
Eine junge Frau, die von diesem Angebot Gebrauch gemacht hat, ist Rahima Khatoon. Die 23-Jährige ist im zweiten Lehrjahr als Systemgastronomiefachfrau. Es ist ihre zweite Ausbildung, zuvor hat sie Bekleidungsnäherin gelernt und ein eidgenössisches Berufsattest erworben. Danach war sie drei Jahre lang in der Gastronomie tätig, was sie auf die Idee einer weiteren Ausbildung brachte. Doch in ihrem Lehrbetrieb – einem Spital – kam es immer wieder zu Spannungen mit dem Berufsbildner. «Das hat mich sehr belastet, denn ich wusste nicht, dass ich den Betrieb wechseln könnte. Ich dachte, ich müsste das irgendwie durchziehen.»
Dank der in allen Klassenzimmern der ABZH hängenden Informationen über Kabel sowie des Rats ihrer Klassenlehrerin wandte sie sich schliesslich an die Fachleute. Dort erfuhr sie, dass sie nach einer Vertragsauflösung drei Monate Zeit habe, um einen neuen Lehrbetrieb zu finden, und währenddessen trotzdem die Schule besuchen könne. «Das hat mich etwas beruhigt.» Julian Roldan unterstützte sie auch bei der Stellensuche und beim Schreiben von Bewerbungen. Mit Erfolg: Inzwischen setzt Rahima Khatoon ihre Ausbildung in einem Coop-Restaurant fort und fühlt sich dort sehr wohl. «Ohne diese Unterstützung wäre es für mich viel schwieriger gewesen, den Betrieb zu wechseln», sagt sie. «Jetzt kann ich mir vorstellen, dass ich meine Ausbildung abschliessen kann – ohne Stress und ohne Angst vor der Prüfung.»
Ein hauseigenes CAS
An der ABZH geht man derweil bereits einen Schritt weiter: Gemeinsam mit der Berufsschule für Detailhandel und Pharmazie wurde ein neues Projekt lanciert: «Neue Rollen der Lehrpersonen». Kernstück ist eine zusammen mit der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) entwickelte Weiterbildung. Während vier Jahren durchlaufen alle Lehrerinnen und Lehrer der beiden Schulen gewisse obligatorische Grundmodule zu den Themen lösungsfokussiertes Coaching, Differenzierung/Heterogenität sowie formatives Prüfen und Bewerten. Hinzu kommen Zusatzmodule, welche die Lehrpersonen freiwillig belegen können, etwa zu psychischer Gesundheit oder Konfliktmanagement. Wer genügend Module belegt, die Lernnachweise erbringt und die erforderlichen ECTS-Punkte gesammelt hat, kann mit einem «Certificate of Advanced Studies» (CAS) abschliessen.
Erste Module, erzählt Meta Studinger, hätten bereits im Dezember 2024 sowie während der Wochen des Qualifikationsverfahrens stattgefunden. Die Rektorin ist überzeugt, dass mit dem Weiterbildungsangebot eine wichtige Lücke geschlossen werden kann: «Wir können nicht nur das Angebot weiterentwickeln, sondern müssen den Lehrpersonen auch das nötige Werkzeug in die Hand geben.» Für Lehrpersonen, die bereits über ein CAS in Beratung verfügen, ist eine Spezialschulung geplant: «Mit ihnen bauen wir ein internes, professionelles Supervisionsteam auf.»