Wenn Studierende die Schule übernehmen
Schulblatt 13.06.2025
Eine Woche lang haben an einer Primarschule in Dietlikon Studierende das Ruder übernommen – Schulleitung inklusive. Einblick in eine ungewöhnliche Praxiserfahrung.
Ein sonniger Donnerstagmorgen Mitte April. Kurz vor Unterrichtsbeginn herrscht auf dem Pausenplatz der Primarschule Dorf in Dietlikon geschäftiges Treiben. Einige Kinder sind noch in ihren Fussballmatch vertieft, andere strömen bereits in den Schulflur zu ihren Klassenräumen. Das laute Stimmengewirr ebbt erst mit Ertönen des Gongs langsam ab. Nach aussen hin schulischer Normalbetrieb. Dabei ist in dieser Woche vieles anders im Primarschulhaus Dietlikon Dorf. Statt der angestammten Lehrpersonen haben 41 angehende Lehrerinnen und Lehrer den Schulbetrieb übernommen.
Während einer Woche unterrichten sie die insgesamt zwölf Primarschul- und vier Kindergartenklassen jeweils zu zweit im Team-Teaching. Und sorgen dafür, dass es am Ende für die Kinder eine «andere, aber irgendwie auch ganz gewöhnliche Schulwoche» wird, wie Studentin und Co-Schulleiterin auf Zeit Katie Lorenz erklärt. Katie Lorenz und ihre Mitstudentinnen und -studenten werden im Sommer ihre Ausbildung am Institut Unterstrass abschliessen.

«Echter Schulalltag eben»
Im Rahmen dieser Woche,die fester Bestandteil des letztes Ausbildungsjahres ist, können die angehenden Lehrpersonen Berufserfahrungen sammeln, die ihnen ein klassisches Praktikum kaum bieten kann. Denn nach Monaten sorgfältiger Vorbereitung stemmen sie während dieser fünf Tage den kompletten Schulbetrieb in Eigenregie – auch wenn das reguläre Team der Primarschule im Ernstfall nur einen Telefonanruf entfernt ist. Kurz nach Unterrichtsbeginn geht am Donnerstag im Büro der Schulleitung ein Anruf ein.
Das Telefon beantwortet Studentin Sarina Hutter, aktuell mit Katie Lorenz in der Rolle der Co-Schulleiterin. Eine Lehrperson vermisst noch einen Schüler im Klassenzimmer. Nun heisst es, umgehend dessen Eltern zu kontaktieren. Wenige Minuten später aufatmen: Der Zweitklässler hat sich lediglich einige Minuten verspätet. Echter Schulalltag eben – wie bereits der Fehlalarm eines Feuermelders an Tag eins der Projektwoche. «Auf eine solche Situation waren wir zwar vorbereitet und konnten das Problem rasch lösen», schildert Sarina Hutter die Situation, «meinen Puls hat es trotzdem für einen Moment in die Höhe gejagt.»


Französisch mit Knetmonstern
Im Klassenzimmer neben dem Leitungsbüro startet Klasse 5b derweil in die erste Lektion des Tages. Französisch steht auf dem Stundenplan. Die beiden Nachwuchslehrer Raphael Pfister und Noam Renfer haben sich vorab mit dem eigentlichen Lehrpersonenteam abgesprochen, damit die Schülerinnen und Schüler während der Woche am gewohnten Unterrichtsstoff weiterarbeiten können.
Heute lernen sie mit der Übung «La naissance d’un petit monstre» ihre Volkabelkenntnisse praktisch anzuwenden. Die Kinder beschreiben auf Französisch eine Fantasiefigur, die ihre Banknachbarin oder ihr Banknachbar aus Knetmasse modellieren soll. Anfangs braucht es etwas Starthilfe. Die zwei studentischen Lehrpersonen sowie die ebenfalls studentische Klassenassistentin Rahel Heuberger gehen von Tisch zu Tisch und unterstützen die Kinder.
«Nehmt euch einen Moment Zeit. Ihr müsst euch gleichzeitig überlegen, wie eure Knetfiguren aussehen sollen und wie ihr deren Eigenschaften auf Französisch beschreibt, das ist gar nicht so einfach», erklärt Raphael Pfister. Einige Zeit spätersind die Schülerinnen und Schüler in rege Gespräche über die unterschiedlichen Eigenschaften ihrer kleinen Monster vertieft. Zur Freude von Raphael Pfister: «Wenn sie ins Diskutieren kommen, merke ich, dass es eine lässige Aufgabe für sie ist und sie ihr Wissen gerne einbringen.» Am Schluss der Stunde stehen einige bunte Knetfiguren auf den Tischen.
Zum Schluss rollen die Murmeln
Die Schulübernahme, sagt Pfister später, sei für ihn eine wertvolle Erfahrung. «Eine Woche ist allerdings kurz; ich freue mich schon auf die Arbeit mit meiner zukünftigen eigenen Klasse.» Für die Schülerinnen und Schüler der 5b geht es nach dem Französischunterricht einmal quer über den Pausenplatz in die geräumige Bibliothek. Eine Unterrichtsstunde lang können sie individuell Bücher auswählen und allein oder in kleinen Gruppen lesen. Dabei werden sie von den beiden angehenden Lehrern und der Klassenassistentin eng begleitet.
Während einige Mädchen zielstrebig die Regale und danach eine ruhige Ecke zum Lesen ansteuern, machen es sich ein paar Jungen mit ihrer Buchauswahl gemeinsam auf einer grossen Couch gemütlich. Die Frage, ob ihnen die Schulübernahme gefalle, beantworten sie mit Kopfnicken und verlegenem Schmunzeln. «Es ist anders, aber es ist auch gut. Diese Woche haben wir auch kein Textiles und Technisches Gestalten, das fehlt mir jetzt nicht wirklich», sagt der elfjährige Luka lachend. Er freue sich aber schon aufs Wiedersehen mit seinen «richtigen» Lehrpersonen.

Die ebenfalls elfjährige Mara blättert eine Ecke weiter im Buch «Lotta-Leben»: «Am besten gefällt mir, dass wir gemeinsam eine grosse Kugelbahn bauen. Das macht Spass», erzählt sie. Tatsächlich haben die Kinder aller Klassen aus langen Bambusstangen, PET-Flaschen, Karton, Klebeband und anderen Utensilien spektakuläre Kugelbahnen errichtet, eine nimmt fast den ganzen Kellerraum ein. Freitagmorgen, am letzten Tag der Schulübernahme-Woche, werden alle Klassen ihre Kugelbahn-Konstruktionen draussen oder im grossen Treppenhaus der Schule aufstellen und die Murmeln rollen lassen.
Ein besonderer Moment für die Kinder und ihre derzeitigen Lehrpersonen. «Von den Kleinsten bis zu den Sechstklässlerinnen und -klässlern – es waren einfach alle begeistert dabei und haben mitgebaut», erzählt Sarina Hutter mit spürbarer Freude. Bald werden die beiden vorübergehenden Schulleiterinnen wieder ans Institut Unterstrass, ihre Ausbildungsstätte, zurückkehren. Welches Gefühl bleibt? «Für uns war diese Woche eine Übung», fasst Katie Lorenz zusammen. «Für die Kinder aber war es echt – und es lief rund, wir haben gemeinsam Schule gemacht!»
«Auch für viele Lehrpersonenteams ist das eine einmalige Gelegenheit.»
Cornelia Maccabiani, Studiengangsleiterin am Institut Unterstrass
Auch Co-Schulleiterin Sarina Hutter zieht eine positive Bilanz der Projektwoche. «Die Kinder haben uns herzlich und neugierig aufgenommen, der Schulbetrieb läuft bisher ohne Zwischenfälle, und auch als Team haben wir uns gut eingespielt», sagt sie nicht ohne Stolz. Sie und ihre Mitstudentin sind dankbar für das Vertrauen des Schulteams.
«Ich verstehe jetzt noch besser, was der Lehrberuf alles mit sich bringt. Diese Erfahrung hat meine Wertschätzung für das, was hier täglich geleistet wird, erhöht», sagt Katie Lorenz.
Ermöglicht hat dieser Einblick das Leitungsduo der Primarschule Dietlikon Dorf, Felix Steger und Sandra Michel. Während der ungewohnten Auszeit drücken die beiden gemeinsam mit ihrem rund vierzigköpfigen Lehrpersonen-Team in den Räumlichkeiten des Instituts Unterstrass selbst die Schulbank: In einem Workshop planen sie die Zukunft ihrer Schule.

Der Rollenwechsel braucht Mut
«Die Schule aus der Hand zu geben, erforderte von allen Beteiligten, insbesondere von unserem Lehrpersonenteam, viel Mut», erklärt Schulleiter Felix Steger. Doch die Offenheit werde gleich mehrfach belohnt: «Wir konnten eine Woche lang intensiv unsere Weiterentwicklung als Schule und Team vorantreiben. Unterdessen hatten die Studentinnen und Studenten alles im Griff und gewannen an Selbstsicherheit. Und für die Kinder war diese Woche eine willkommene Abwechslung.»
Cornelia Maccabiani, Studiengangsleiterin und Verantwortliche für die «Schulübernahme» am Institut Unterstrass, hat die Projektwoche mit Studierenden bereits mehrfach erfolgreich durchgeführt. Die Rückmeldungen der angehenden Lehrerinnen und Lehrer auf das Studienelement seien positiv: «Sie können gemeinsam den Unterricht umsetzen,den sie im Rahmen ihrer Ausbildung zusammen erarbeitet haben.» Auch die bisher beteiligten Schulhausteams schätzten die Möglichkeit, eine Woche vertieft an aktuellen Themen und der Schulentwicklung zu arbeiten. «Das ist für viele Lehrpersonenteams eine einmalige Gelegenheit.»
Das Institut Unterstrass in Zürich bildet Lehrpersonen für den Kindergarten und die Primarstufe aus. Die Ausbildung umfasst auch mehrere besondere Studienelemente. Eines davon ist die Übernahme einer Schule im letzten Studienjahr.
Während einer Woche übernehmen die Studierenden eine gesamte Schuleinheit. Dies soll ihnen ermöglichen, Verantwortung für den Schulbetrieb zu übernehmen und die Zusammenarbeit im Team zu üben.
Die Auswahl der Schulen erfolgt auch in Abhängigkeit von Lage und Grösse des Schulhauses. Aktuell führt das Institut Unterstrass eine Warteliste. Vorbereitungen für die Übernahmewoche beginnen rund 7-8 Monate vorher.