An der Quelle: Unterwegs im Staatsarchiv

Daniela Saxer begleitet Lehrpersonen und ihre Klassen durchs Staatsarchiv und zeigt ihnen spannende Dokumente. So zum Beispiel Urteile von Hexereiprozessen oder politische Vorstösse zur Abschaffung von Kinderarbeit.

Text: Martina Bosshard Foto: Stephan Rappo

Unterschiedliche Lebenswelten faszinieren Daniela Saxer schon seit ihrer Jugend. Insbesondere die Frage, wie frühere Gesellschaften funktionierten. Aus diesem Grund studierte sie nach der Matur Geschichte und arbeitete lange als Historikerin in der Forschung. Zu ihren Schwerpunkten gehören die Geschichte der Wissenschaft und der Emotionen im 19. und 20. Jahrhundert sowie die Themen Arbeit und Arbeitslosigkeit in der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

«Wer sich mit der Vergangenheit befasst, kann auch Entwicklungen in der Gegenwart besser einordnen», sagt sie. Für ihre Forschung verbrachte Daniela Saxer viel Zeit in Archiven. «Das sind ideale Orte für neugierige Menschen. Man findet zwar oft nicht genau das, was man erwartet hat. Dafür entdeckt man aber immer wieder Neues», sagt sie.

«Wer sich mit der Vergangenheit befasst, kann auch Entwicklungen in der Gegenwart besser einordnen.»

Daniela Saxer, stellvertretende Abteilungsleiterin Staatsarchiv Zürich

Vor fünf Jahren begann sie, im Staatsarchiv zu arbeiten, heute ist sie dort als stellvertretende Abteilungsleiterin für den Bereich «Zugang und Vermittlung» tätig.

Wer beim Wort «Archiv» an einen verstaubten Keller denkt, liegt beim Staatsarchiv falsch. Der Besucherbereich ist einladend und hell, er umfasst neben einer Bibliothek auch Seminarräume, eine Lounge und eine Cafeteria. Der Lieblingsort von Daniela Saxer befindet sich neben einem grossen Wandgemälde der Künstlerin Katharina Grosse, das wie ein farbenfrohes Graffiti aussieht. Es bildet einen Kontrast zur schlichten modernen Architektur und zu den geordneten Bücherregalen.

In den vier Untergeschossen des Gebäudes werden die Schätze des Archivs gelagert: Dokumente aus elf Jahrhunderten sowie Fotos und Videos der jüngeren Vergangenheit. Hunderte von jungen Menschen gehen täglich am Staatsarchiv vorbei, denn es befindet sich auf dem Campus Irchel der Universität Zürich, wo momentan auch die Kantonsschule Zürich Nord untergebracht ist. Manche Schülerinnen und Schüler finden auch den Weg ins Gebäude: Daniela Saxer und ihr Team bieten Führungen und Workshops für Klassen der Sekundarstufe an. Im Rahmen des Formats «Quellenbasiertes Lernangebot für Schulen» besuchen Lehrpersonen das Archiv mit ihren Klassen. Dort sehen sie Originaldokumente und können mit den Jugendlichen über die Zeit, aus der die Quellen stammen, sprechen.

«Wir freuen uns über die Anfragen von Schulen.»

Daniela Saxer, stellvertretende Abteilungsleiterin Staatsarchiv Zürich

Zürcher Geschichte

«Zu vielen historischen Entwicklungen können wir hier eine lokale Quelle finden», sagt Daniela Saxer. Der Bezug zu einem bekannten Ort und der Fokus auf ein konkretes Beispiel machen es möglich, Themen wie Aufklärung, Armut und staatliche Fürsorge oder Industrialisierung anschaulich zu behandeln. Wenn man vor den Originaldokumenten steht, sieht man nicht nur den Inhalt, sondern ist auch mit Gebrauchsspuren am Papier oder der Tinte, den alten Schriften und der Sprache der Epoche konfrontiert.

«Die Handschriften sind zum Teil nicht ganz einfach zu entziffern. Deshalb arbeiten wir immer mit Dokumenten, für die wir Abschriften zur Verfügung stellen können», erklärt Daniela Saxer. Mit etwas Unterstützung sei die Sprache in der Regel verständlich für die Schülerinnen und Schüler. Lehrerinnen und Lehrer können für ihren Unterricht auf Material des Staatsarchivs zurückgreifen. «Wir freuen uns über Anfragen von Schulen, machen gern Vorschläge für Workshops und führen die Klassen in unsere Archivwelt ein», sagt Daniela Saxer.

Für die Durchführung des fachlichen Teils sind die Lehrpersonen verantwortlich. Oft haben sie bereits eine Vorstellung, welches Thema sie mit ihren Schülerinnen und Schülern anschauen wollen. Zum Beispiel sprach in diesem Frühling ein Gymilehrer mit seiner Klasse vor Ort über das Thema «Verfassungsgeschichte ». Danach erarbeiteten die Jugendlichen Vorträge. «Ich war beeindruckt, wie gut sie zu diesem anspruchsvollen Thema referierten».

Daniela Saxer Abteilungsleiterin Staatsarchiv
Spannendes aus elf Jahrhunderten: Daniela Saxer zeigt Schulklassen Zürcher Quellen aus dem Staatsarchiv. Quelle: Stephan Rappo

Hexerei und Kinderarbeit

Besonders anschaulich für Klassen seien zum Beispiel die Hexereiprozesse in Zürich in der frühen Neuzeit. Das Staatsarchiv verfügt über Gerichtsurteile, die einen Einblick in die damalige Rechtsprechung sowie in Leben und Glauben der Menschen geben. Bei den Verfahren ging es um Anklagen wie Schadenszauber oder «Hingabe an den Teufel». Die Protokolle machen die individuellen Schicksale der Angeklagten, meist Frauen, fassbar und zeigen, mit welcher Brutalität die Verantwortlichen vorgingen

Sie widerspiegeln die Haltung der damals Herrschenden. Angeklagte wurden mit Folter dazu gebracht, belastende Aussagen zu machen. Die Urteile eignen sich, um das kritische Hinterfragen von Quellen zu üben – eine Kompetenz, die auch in der heutigen Zeit gefragt ist. Ein anderes Thema, das sich gut für Workshops eignet, ist Kinderarbeit. Im Staatsarchiv lagern politische Vorstösse, die nach der Einführung des Volksschulgesetzes vom Jahr 1832 eingereicht wurden.

Das Gesetz weitete die Schulpflicht aus und löste eine Diskussion zur Kinderarbeit aus. «Es war damals nicht unüblich, dass bereits 10-jährige Mädchen und Knaben in Fabriken angestellt waren. Sie standen vor fünf Uhr auf, gingen zu Fuss zur Fabrik und arbeiteten elf Stunden täglich oder mehr – von Montag bis Samstag. Unterricht erhielten sie höchstens ein paar Stunden pro Woche», erklärt Daniela Saxer. Die Petitionen zeigen, dass manche Bürger die Kinderarbeit ganz abschaffen wollten. Andere wehrten sich dagegen. Auch die betroffenen Familien wollten keine strenge Regelung; sie lebten in Armut und waren auf den Lohn der Kinder angewiesen. Aus den Quellen werden die verschiedenen Perspektiven und Argumente ersichtlich.

«Ich schätze die Begegnungen und die Vielfalt an Themen bei meiner Arbeit.»

Daniela Saxer, stellvertretende Abteilungsleiterin Staatsarchiv Zürich

Daniela Saxer unterstützt, gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen, neben Lehrpersonen auch Forschende und weitere Interessierte bei ihren Vorhaben. Manchmal wird das Staatsarchiv auch von Schülerinnen und Schülern kontaktiert, die im Rahmen einer Matur- oder Projektarbeit recherchieren. Zwar kann man im Archivkatalog selbst eine Suche starten. Es ist aber nicht ganz einfach, sich in der Fülle an Material zurechtzufinden.

Oft braucht es ein paar Tipps, bevor man loslegen kann. «Ich schätze die Begegnungen und die Vielfalt an Themen bei meiner Arbeit », sagt die Historikerin. Sie freut sich, wenn sie «die Menschen hinter den Dokumenten» sichtbar machen kann.

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