Mini-Start-up in der Primarschule

Eine 6. Klasse der Schule Kügeliloo entwickelt eine soziale Dienstleistung, die Seniorinnen und Senioren zugute kommen soll. Dabei bauen die Schülerinnen und Schüler ihre fächerübergreifenden Kompetenzen aus.

Text: Lina Giusto Fotos: Andreas Schwaiger

«Kreativität», «Ideen haben», «Planen können»: Diese unterschiedlichen Begriffe rufen die 20 Kinder der Klasse 6d der Stadtzürcher Schule Kügeliloo wild durcheinander. Sie sitzen im Kreis und reagieren auf Vanessa Tschicholds Frage, was das Begriffspaar «Design und Produktion» für sie bedeutet.

Vanessa Tschichold ist als «Corporate Volunteer» – also als Firmenvolontärin – des Programms Pintolino an diesem Mittwochmorgen zum zweiten Mal zu Besuch in der Klasse. Im Rahmen des Programms Pintolino entwickeln, gestalten und produzieren Primarschülerinnen und -schüler ihr eigenes Produkt respektive ihre eigene Dienstleistung. Das können sie im Rahmen einer Projektwoche machen oder während rund 20 Lektionen im Fachunterricht «Natur, Mensch, Gesellschaft» (NMG).

Von der Ideenfindung bis hin zur eigentlichen Verkaufsaktivität planen, organisieren und realisieren die Kinder mit Unterstützung der Lehrperson und einer Volontärin oder eines Volontärs in verschiedenen Arbeitsgruppen ihr gemeinsames Projekt.

Das Programm eignet sich für die 4. bis 6. Primarklasse. Neben einem Logbuch – einem Lehrmittel, das theoretische Grundlagen vermittelt– bekommen die Pintolino-Klassen vom Non-Profit-Verein Young Enterprise Switzerland (YES) auch ein Startkapital. Pro Schülerin oder Schüler sind es zehn Franken. Am Ende des Projekts wird das Darlehen an YES zurückbezahlt, falls mit dem Projekt ein Gewinn erzielt wird. Die Lehrperson erhält zusätzlich einen Leitfaden, der sie bei der Durchführung des Projekts im Klassenzimmer unterstützt. Zudem steht bei Fragen eine Kontaktperson von YES zur Verfügung. Der Verein kümmert sich auch um die Schulung der Firmenvolontärinnen und -volontäre, sie werden auf den Einsatz und den Umgang mit den Kindern vorbereitet. Die Projektarbeit muss neutral gestaltet sein und darf keinerlei Werbung der Firmen enthalten. Die Teilnahme der Schulen an Pintolino ist kostenlos. Die meisten Unternehmen, die sich für das Programm engagieren, stellen ihren Mitarbeitenden für ihre Tätigkeit als Volunteers Arbeitszeit zur Verfügung.

Vanessa Tschicholds Entscheid, Firmenvolontärin zu werden, war schnell gefasst. «Ich engagiere mich privat oft freiwillig. Es war naheliegend, dass ich mich für das Corporate-Volunteering-Programm meines Arbeitgebers anmeldete», sagt die 28-jährige IT-Strategieberaterin. Über den Einsatz sagt sie, es sei ein dankbarer Job: «Ich komme von ausserhalb der Schule und bin nur zeitweise in der Klasse.» Sie bringe frischen Wind ins Klassenzimmer. So liessen sich Schülerinnen und Schüler schnell für die Projektarbeit begeistern.

Eine junge Frau steht in einem Klassenzimmer am Tisch einer Gruppe aus Schülerinnen und Schüler und erklärt etwas.
Während dreier Unterrichtsstunden überlegen, diskutieren, verhandeln und entwickeln die Kinder in den einzelnen Arbeitsgruppen Ideen, wie sie die Seniorenhilfe umsetzen wollen. Dabei unterstützt sie die Volontärin Vanessa Tschichold. Quelle: Andreas Schwaiger

Erste Schritte machen

Im Verlauf der beiden vergangenen Schulwochen hat sich die Klasse 6d bereits mit der Frage befasst, was sie anbieten möchte. Bei der Ideenfindung gab es nur eine Vorgabe. Das Projekt sollte einen sozialen Mehrwert bieten oder dem Klassenverbund respektive der Schule zugutekommen. «Am Ende war es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen einem Limonaden-Verkaufsstand und einem Angebot im Bereich der Seniorenhilfe», erzählt die Klassenlehrerin Susanne Schütz. Gewonnen hat die Seniorenhilfe.

Dass die 6d nun erste Erfahrungen im Unternehmertum sammeln kann, ist Susanne Schütz zu verdanken. Sie hat Pintolino ins Klassenzimmer gebracht. Über ein Mailing hat sie vom Angebot von YES erfahren. «Mit dieser ersten grösseren Projektarbeitserfahrung möchte ich die Schülerinnen und Schüler auf das selbstorganisierte Lernen im letzten Quintal des Schuljahrs vorbereiten», sagt die Lehrerin. «Pintolino fördert das fächerübergreifende Lernen, das vernetzte Denken, das verantwortungsbewusste Handeln, die Sozialkompetenzen und die Persönlichkeitsentwicklung.»

Schülerinnen und Schüler stehen an der Wandtafel und tragen ihre Namen in drei Gruppen ein.
Die Schülerinnen und Schüler der Schule Kügeliloo teilen sich im Rahmen des Pintolino-Projekts selbstständig in die drei Arbeitsgruppen Design und Produktion, Marketing und Werbung und Finanzen und Verkauf ein. Quelle: Andreas Schwaiger

Einteilung nach Stärken

In der Zwischenzeit haben die Kinder mit der Volontärin nochmals zwei Begriffspaare, nämlich Marketing und Vertrieb sowie Finanzen und Verkauf, besprochen. Das Resultat der Diskussion wird im Logbuch festgehalten: Wer sich für Design und Produktion interessiert, sollte kreativ sein, viele Ideen haben sowie gern organisieren und planen. Im Marketing und Vertrieb braucht es Verkaufstalente und Schülerinnen und Schüler, die gern reden und zeichnen, aber auch auf Menschen zugehen können. Wer gern plant und rechnet, ist beim Thema Finanzen und Verkauf gut aufgehoben.

In diese drei Arbeitsgruppen teilen sich die Kinder anschliessend selbstständig ein. In den folgenden zwei Schulstunden wird in den einzelnen Arbeitsgruppen überlegt, diskutiert, vorgeschlagen, verworfen, weiterentwickelt und verhandelt. Nach drei Unterrichtsstunden sollen erste Vorschläge auf dem Tisch liegen, wie man Seniorinnen und Senioren helfen will und wie man diese Dienstleistung bekannt machen kann. Mit der Zeit beginnen die Gruppen sich auszutauschen und zu verhandeln.

Die Gruppenchefin «Marketingund Vertrieb» macht eine Budgetanfrage bei «Finanzen und Verkauf». Und die Schülerinnen und Schüler der Gruppe «Design und Produktion» wollen bei der Gestaltung des Flyers mit reden, die bei «Marketing und Vertrieb» gerade diskutiert wird. Die Vernetzung geschieht sponta

Susanne Schütz beobachtet die Szene und sagt: «Seit wir mit dem Projekt gestartet sind, bin ich von meinen Schülerinnen und Schülern immer wieder aufs Neue überrascht.» Ab und zu muss sie Leitplanken setzen. Die Euphorie, welche die Idee, T-Shirts zu produzieren, auslöst, dämpft sie mit Fragen nach dem Budget und den Anforderungen an die Herstellung. «Wir müssen auch auf den sozialen und den nachhaltigen Aspekt achten.»

Währenddessen machen sich die Kinder Gedanken über die Zielgruppe. «Finden wir Leute, die unser Angebot auch wollen?», fragt sich Anna. Kollegin Alessia ergänzt: «Wird man uns ernst nehmen? Wir sind ja keine Seniorenhilfe-Profis.» Trotz kritischer Überlegungen bleibt die Klasse aber überzeugt von ihrem Vorhaben und hat Spass am ungewohnten Unterricht. «Wir diskutieren und suchen gemeinsam nach Lösungen», meint Anthony, das gefalle ihm bislang am besten. Darlyne erklärt: «Wir sind ein Team und machen alle etwas zusammen.» Yousif erklärt begeistert: «Das Projekt ist von A bis Z einfach cool.»

Zwei Schülerinnen sitzen auf Stühlen und haben ein Heft auf den Beinen. Darin notieren sie etwas.
Im Logbuch des Projekts Pintolino werden theoretische Grundlagen vermittelt. Schülerinnen und Schüler notieren darin Diskussionsergebnisse und beantworten Fragen. Quelle: Andreas Schwaiger

Projekt realisieren

Bereits in den nächsten NMG-Stunden wird die 6d ihre Planung fertig stellen und eine der Ideen auswählen, wie sie Seniorinnen und Senioren unterstützen kann. Laut «Design und Produktion» sind derzeit im Rennen: einkaufen gehen, kochen, putzen, spazieren gehen, Gesellschaftsspiele organisieren. Mit der schuleigenen Plaketten-Maschine will «Marketing und Vertrieb» Logo-Buttons für die Seniorenhilfe produzieren.

Auch Flyer möchte die Gruppe selber herstellen, um auf das neue Angebot aufmerksam zu machen.

«Budget brauchen wir dafür also keines», sagt Nesrine bei der Präsentation. Die Zuständigen für Finanzen und Verkauf haben berechnet, wie lange jede Schülerin und jeder Schüler Seniorenhilfe leisten muss für den Wunsch-Umsatz von 800 Franken. Davon gehen die 200 Franken Startkapital an den Verein YES zurück. Mit dem Gewinn von 600 Franken will die Klasse einen Ausflug machen.

Damit sie dieses Ziel erreicht, müsse sie für die Seniorenhilfe zehn Franken pro Stunde verlangen. Das bedeutet, dass jedes Kind insgesamt vier Stunden Seniorenhilfe leisten muss. In den nächsten Schulwochen wird die Klasse die konkrete Umsetzung der Dienstleistung und die Produktion der Werbematerialien in Angriff nehmen.

Susanne Schütz möchte das Projekt bis Ende April abschliessen. Das Pintolino-Projekt ist auch für die Klassenlehrerin Neuland. Wie viel Aufwand bedeutet die Umsetzung effektiv? «Auf diese Frage werde ich nach Abschluss des Projekt seine Antwort haben.» Die Volontärin hat den Vormittag mit den Schülerinnen und Schülern sichtlich genossen. Das Unterrichtsszenario ist für Vanessa Tschichold nicht neu. Im Rahmen der ETH-Initiative «Informatikunterricht in Zeiten der Digitalisierung» hat sie bereits während ihres Studiums an Primarschulen Informatik unterrichtet. Bevor sie sich auf den Weg ins Büro macht, ruft sie noch ins Schulzimmer: «Viel Erfolg! Ich freue mich schon auf eure Abschlusspräsentation.» 

Die Angebote von Young Enterprise Switzerland

Die Non-Profit-Organisation YES (Young Enterprise Switzerland) setzt sich seit 1999 für praxisorientierten Wirtschaftsunterricht und Meinungsbildung an Schweizer Schulen ein. Im Schuljahr 2022/23 nutzten mehr als 9000 Kinder und Jugendliche, 700 Lehrpersonen und 800 Firmenvolontärinnen und -volontäre die sechs Programme «Unsere Gemeinde» und «Pintolino» (beide für Primarstufen), «Fit für die Wirtschaft» (für die Sekundarstufe I), «Jugend debattiert»(für die Sekundarstufe I und II) sowie das «Company Programme» und die Wirtschafts-Olympiade (für die Sekundarstufe II). [lg]

www.yes.swiss

Eine Gruppe von Schülerinnen und Schüler sitzen gemeinsam am Laptop und notieren etwas.
Die Schülerin und Schüler der Gruppe "Finanzen und Verkauf" machen eine grobe Budgetplanung für das Projekt der Seniorenhilfe. Quelle: Andreas Schwaiger

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