Früh hinschauen – früh handeln

Was tun im Fall von herausfordernden Situationen in der Klasse? Die Schulkreisbehörde Uto in Zürich hat gemeinsam mit den Schulen ein Modell erarbeitet, damit diese möglichst frühzeitig reagieren können. Das Resultat ist eine Art Landkarte.

Text: Jacqueline Olivier Fotos: Marion Nitsch

Montagnachmittag in der Primarschule Sihlweid in Zürich. Nach der Mittagspause sind die Schülerinnen und Schüler zurück in ihren Klassen. Emilia* nicht –sie sitzt mit ihrer Klassenlehrerin Pauline Kirby in einem leeren Schulzimmer an einem Tisch und erzählt, wie es ihr geht. Zum Beispiel, dass sie weniger allein sei.«Die Jungs sind nicht mehr so gemein zu mir», sagt sie. Was sie ebenfalls freut: Buben und Mädchen spielen nun in den Pausen vermehrt miteinander. Und dies hat sie bewirkt: In einem früheren Gespräch mit ihrer Lehrerin hatte sie ihr Bedauern zum Ausdruck gebracht, dass Jungen und Mädchen meistens separat spielten. Pauline Kirby hatte dies anschliessend im Klassenrat eingebracht. Dort teilten viele Kinder Emilias Sicht. Seither findet nun eine stärkere Durchmischung statt.

Emilia ist in der 5. Klasse und voll bei der Sache. Wenn Pauline Kirby ihr eine Frage stellt, kommen die Antworten meistens wie aus der Pistole geschossen. «Coaching Time» nennt die junge Klassenlehrerin diese Gespräche unter vier Augen. Einmal pro Woche sitzt sie mit einem Kind aus ihrer Klasse zusammen –jeweils während einer Teamteaching-Lektion, wenn ihre Kollegin die Klasse unterrichtet. Begonnen damit hat sie im Schuljahr 2022/23 im Rahmen von Zeugnis-Gesprächen. «Ich habe gemerkt, dass solche individuellen Gespräche sehr viel bringen», erzählt sie, «es entsteht eine andere, vertrauensvollere Beziehung zu den Kindern. Zudem lassen sich Spannungen abbauen, bevor eine Situation eskaliert, oder ich erfahre von Anliegen der Schülerinnenund Schüler, von denen ich sonst vielleicht nie erfahren hätte.»

Nach den ersten positiven Erfahrungen hat die Klassenlehrerin begonnen, auch die Eltern verstärkt einzubeziehen. So hat sie einen Ablauf entwickelt, den sie in diesem Schuljahr erstmals konsequent anwendet. Auf das erste Gespräch mit der Schülerin oder dem Schüler folgt das sogenannte Entwicklungsgespräch zusammen mit den Eltern. Sowohl vom Kind als auch von den Eltern und der Lehrerin werden Ziele definiert, an denen man gemeinsam arbeiten will. Im nächsten Gespräch mit dem Kind entwickelt PaulineKirby mit diesem zusammen Strategien, wie es diese Ziele erreichen kann, und bespricht mit ihm, welche Unterstützung es dafür allenfalls benötigt. Daneben kommen kleinere und grössere Schwierigkeiten zur Sprache, die das Kind im Alltag beschäftigen.

Eine Lehrerin spricht mit einer Schülerin
Klassenlehrerin Pauline Kirby hat aus eigener Initiative eine «Coaching Time» entwickelt. Die persönlichen Gespräche mit ihren Schülerinnen und Schülern und die enge Zusammenarbeit mit den Eltern helfen ihr, eine vertrauensvolle Beziehung mit den Beteiligten aufzubauen und Schwierigkeiten frühzeitig zu erkennen. Quelle: Marion Nitsch

Integration vor Separation

Diese Form der «Coaching Time» kommt dem nahe, was in der Fachwelt «BankingTime» genannt wird. Bei dieser geht es allerdings in erster Linie darum, herausforderndes bis aggressives Verhalten einzelner Schülerinnen und Schüler zu reduzieren, indem man solchen Kindern ein oder mehrmals wöchentlich kurze Zeitfenster allein mit der Lehrperson ermöglicht. Das Kind entscheidet selbst, was es in dieser Zeit machen möchte, die Lehrperson darf es dabei nicht bewerten.

Schülerinnen und Schüler, die regelmässig Grenzen überschritten, gebe es immer mehr – so lautete der Tenor der Schulleiterinnen und Schulleiter aus dem Schulkreis Uto, zu dem auch die Schule Sihlweid gehört, an einer Retraite vor gut drei Jahren. Bettina Aeschbacher, Leiterin des Fachbereichs Schulentwicklung, sagt: «Die Zunahme schwieriger Situationen in den Klassen hat zur Folge, dass Situationen öfter eskalieren und Lehrpersonen ausbrennen.» Dies sei an der Retraite deutlich zum Ausdruck gekommen. Und ebenso der Wunsch nach Unterstützung, wenn die «rote Linie» überschritten sei. Zwar führt der Schulkreis Uto seit gut 15 Jahren ein Angebot namens «Time-Win», allerdings nur für die Oberstufe. Und: Es handelt sich dabei um ein zwölfwöchiges Timeout, in dem Schülerinnen und Schüler extern in kleinen Gruppen beschult werden. Eine solche Lösung ist für die Fachbereichsleiterin aber nur dann angezeigt, wenn es anders nicht mehr geht, denn grundsätzlich gilt: Integration vor Separation.

Für Jacqueline Peter, Präsidentin der Kreisschulbehörde, machte die Retraite dennoch klar: Es besteht Handlungsbedarf. Also gab sie Bettina Aeschbacher, deren Mitarbeiterin und Projektleiterin Martina Keller sowie Tanja Werner, der Leiterin des Fachbereichs Sonderpädagogik, den Auftrag, einen partizipativen Prozess zu starten. Die drei Fachfrauen bildeten zusammen mit Vertreterinnen und Vertretern von Lehrpersonen, Schulleitungen, Leitungen und Teams Betreuung, Schulpsychologischem Dienst und Heilpädagogik eine Kerngruppe. Um deren Diskussionen und Vorschläge zu spiegeln, wurde zudem eine Echo-Gruppeins Leben gerufen. Meilensteine präsentierte man regelmässig an der Schulleiterkonferenz.

Eine Schülerin malt einen Baum aus
Auf einem sogenannten Jelly Baby Tree malt die Fünftklässlerin Emilia (Name geändert) ein Jelly Baby aus, das mit anderen spielt. Beim letzten Gespräch hatte sie noch eines gewählt, das allein auf einer Schaukel sitzt. So können die Kinder jeweils zu Beginn der Coaching-Stunde ihre Gemütslage ausdrücken. Quelle: Marion Nitsch

Fokus liegt auf der Prävention

Als Erstes habe man eine gemeinsame Sprache finden müssen, erklärt Bettina Aeschbacher: «Was heisst zum Beispiel ‹Verhaltensauffälligkeit›?» Auch eine gemeinsame Haltung zum Umgang mit dem Thema musste entwickelt werden. Viel zu reden habe zudem der Begriff der «roten Linie» gegeben. «Irgendwann haben wir festgestellt, dass sie sich gar nicht klar definieren lässt, weil sie sehr individuell wahrgenommen wird.»

Nach rund einem Jahr intensiver Arbeit lässt sich das Resultat nun im wahrsten Sinne des Wortes sehen, denn entstanden ist die Website www.tragfaehigeschulen.ch, deren Kernstück eine Art Landkarte darstellt. Unter dem Titel «Prävention und Intervention» befindet sich links der «Schulinterne Wirkungsbereich». Bei diesem geht es um Massnahmen, Angebote und Instrumente, die von jeder Schule selbst aufgebaut und genutzt werden sollen. Rechts ist der «Ergänzende Wirkungsbereich» angesiedelt, der Angebote umfasst, die von den Schulen zur Entlastung oder Lösungsfindung zusätzlich in Anspruch genommen werden können.

Irgendwo zwischen den beiden Bereichen liegt die «rote Linie». Zuerst habe man sie in der Mitte gezogen, erzählt Bettina Aeschbacher. «Während wir an der Karte arbeiteten, rutschte sie aber immer weiter nach rechts, weil wir merkten: Wir müssen den Fokus stark auf die Prävention richten, damit die Schulen möglichst viele Schwierigkeiten selbst bewältigen können.» Die rote Linie verläuft auch nicht gerade, sondern schlängelt sich längs durch die Karte. Dies trägt der bereits angesprochenen individuellen Empfindung Rechnung, wie Martina Keller erklärt: «Je nach Person und Situation ist die Grenze zur Überforderung früher oder später erreicht.» Zudem sei dies nicht immer nur vom Verhalten des Schülers oder der Schülerin abhängig. «Wenn eine Lehrperson beispielsweise privat stark belastet ist, gerät sie in der Schule schneller ans Limit.» Auch Disharmonie im Team oder herausfordernde Eltern könnten einen Einfluss auf die persönliche rote Linie haben.

Eigenes Angebot aufbauen

Was die Schülerinnen und Schüler betrifft, sagt Tanja Werner: «Es gibt kein Verhalten ohne Grund, darum ist es wichtig,frühzeitig genau hinzuschauen, wenn sich ein Kind auffällig benimmt.» Auf der Karte geht es deshalb auch um Themen wie die gemeinsame Haltung und Sprache im Umgang mit verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern innerhalb der Schule oder um die Förderung der überfachlichen Kompetenzen, von denen viele eine direkte Auswirkung auf das Verhalten der Kinder haben.

Unter dem Stichwort «Handlungsansätze» werden zudem Massnahmen oder Angebote gelistet, die in einer schwierigen Situation entlastend wirken. Ein solches Angebot ist zum Beispiel die «Banking Time», ein anderes nennt sich «Familienklassenzimmer». In diesem besuchen mehrere Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit ihren Eltern während mehrerer Wochen jeweils an einem Nachmittag oder Abend die sogenannte Familienklasse. Es geht um gemeinsame Zielsetzungen, Beobachtungsaufträge für Eltern, aber auch um sogenannte Elternrunden oder gemeinsame gestalterische Aufträge für Eltern und Kind.

Bei der Liste der Angebote handelt es sich lediglich um Optionen, sie ist auch nicht abschliessend. Wie die Schulen das Konzept der «Tragfähigen Schulen» umsetzen und welche Instrumente sie implementieren wollen, bleibt letztlich ihnen überlassen. Dies war und ist allen Beteiligten sehr wichtig. Denn die Schulen sehen sich mit ganz unterschiedlichen Belastungen konfrontiert und sind auch nicht alle gleich weit in der Auseinandersetzung mit der Thematik. «Einige haben schon ein gewisses Angebot, das sie jetzt ausbauen können», sagt Bettina Aeschbacher,«andere befinden sich noch am Anfang.»

Bis in vier Jahren – also bis zum Schuljahr 2027/28 – sollen aber alle Schulen ein auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes Konzept erstellt und ein entsprechendes Angebot aufgebaut haben. Die Kreisschulbehörde unterstützt sie dabei nicht nur fachlich, sondern auch mithilfe einer Teilfinanzierung der Angebote. Zurzeit bietet sie zudem zahlreiche Workshops zu verschiedenen Themen an. Und sie hat drei sogenannte Schulsupporterinnen mit je einem 50-Prozent-Pensum angestellt – Sozialpädagoginnen, die bei Bedarf für eine begrenzte Zeit von maximal zwölf Wochen vor Ort zu einer Entlastung und Entspannung beitragen. «Währendd es Supports braucht es an der Schule eine Person, die für die Fallführung zuständig ist und weiss, wie es danach weitergehen kann. Das ist ganz wichtig», erklärt Tanja Werner. Die Schulsupporterinnen seien sehr begehrt, jedoch nur als Übergangslösung gedacht, bis jede Schule über ein eigenes Angebot verfüge, sagt Bettina Aeschbacher.

Eine Gruppe von Schülerinnen macht zusammen ein Selfie
Zusammenhalt ist wichtig: Eine Gruppe von Schülerinnen steht auf dem Pausenplatz zusammen und macht ein Selfie. Quelle: Marion Nitsch

Ein Gewinn für alle

In der Schule Sihlweid hat Pauline Kirby mit ihrer «Coaching Time» etwas ins Rollen gebracht, das sie als «grossen Gewinn für alle» bezeichnet. Nicht nur für sie und die Kinder, sondern ebenso für die Eltern. «Auch mit ihnen kann ich so viel enger zusammenarbeiten und es ziehen alle am selben Strang.» Das sei für sie eine enorme Entlastung. Gleichzeitig schätzt sie die persönlichen Gespräche mit den Kindern sehr. «Hier erzählen sie mir oft ganz andere Dinge als sonst. Eher verschlossene Kinder öffnen sich plötzlich, andere reden von Anfang an drauflos.»

Zu letzteren gehört auch Emilia. Ihr gefällt es in der Coaching-Stunde. «Ich erzähle gern anderen Leuten meine Gefühle», sagt sie, «weil mir das auch hilft.» Zwar rede sie zu Hause viel mit ihren Eltern: «Sie fragen mich immer, wie mein Tag war.» Dennoch findet sie es gut, in der Person ihrer Lehrerin eine weitere Vertrauensperson zu haben – ausserhalb der Familie. «Wenn ich mit ihr über meine Probleme spreche, können sie auch ein Ende nehmen.» Etwa die Sache mit den beiden Jungs, die sie immer «genervt» hätten. Auch ihr Wunsch, dass Buben und Mädchen zusammen spielten, habe sich so erfüllt.

Immer wieder komme es vor, dass in den Gesprächen mehrere Kinder das gleiche Problem ansprächen, sagt Pauline Kirby. Dann sei dies etwas, was die ganze Klasse angehe, und sie könne es dort entsprechend aufnehmen und lösen. Die Namen der zwei Buben beispielsweise, von denen Emilia sprach, seien auch von mehreren anderen Kindern genannt worden. Ihr selbst seien die beiden im Unterricht nicht negativ aufgefallen.

«Aufbauend unterwegs»

Auf die «Coaching Time» ist die Klassenlehrerin in einem Buch über die «Neue Autorität» gestossen, ein Konzept, das auf Transparenz und Beziehungsgestaltung setzt. Die Schulleitung hatte mehrere Exemplare dieses Buchs kommentarlos ins Teamzimmer gelegt, weil sie sich mit dem Gedanken trug, ein entsprechendes Projekt zu starten. So erzählt es Schulleiter Sandro Croci Maspoli. «Die Bücher waren im Nu verschwunden.»

Dass Pauline Kirby aus eigener Initiative eine Idee daraus aufgegriffen hat, begrüsst er. Mittlerweile setzt der Lehrer der Parallelklasse ebenfalls auf die «Coaching Time». Und die Schulleitung hat vor einem Jahr das Projekt gestartet, um die Neue Autoritätin der Schule zu verankern. Damit sollen die «Coaching» respektive «Banking Time» wie auch ein Lerncoaching flächendeckend eingeführt werden.

Einige andere Angebote sind bereits fester Bestandteil der Schule und bewährt. Im Lerncenter beispielsweise können Kinder, begleitet von einer Fachperson, an fachlichen und überfachlichen Kompetenzen und am eigenen Verhaltenarbeiten. Unter Einbezug der Klassenlehrpersonen und der Eltern entstehen entsprechende Ziel-Vereinbarungen. In Zukunft soll zusätzlich eine Sozialpädagogin im Lerncenter gezielt die überfachlichen Kompetenzen der Kinder fördern. Im sogenannten Baghira-Training wiederum lernen Mittelstufenschülerinnen und -schüler mit oppositionellem oder aggressivem Verhalten in kleinen Gruppen, mit Wut und Frustration umzugehen.

Das Konzept «Tragfähige Schulen», sagt Sandro Croci Maspoli, bestätige die Schulleitung in dem, was man bereits umgesetzt habe, und sei eine willkommene Ergänzung dazu. «Ich finde es sehr gut, dass man sich als Schulkreis gemeinsam auf den Weg gemacht hat.» Auch in seiner Schule sei man mit dem ganzen Team«aufbauend unterwegs». So habe man eine eigene Präventions- und Interventionskarte erstellt und ebenso eine Karte der möglichen Eskalationsstufen. Diese soll nun aber durch ein Deeskalationsmodell ersetzt werden.

Denn für den Schulleiter ist klar: Ein Kind von der Schule auszuschliessen, bedeute immer einen Beziehungsbruch, und dies sei fatal. Solche Kinder würden danach oft von einem Ort zum nächsten weitergereicht. Ein Deeskalationsmodell helfe, früh dieF ühler auszustrecken, früh zu handeln und ohne Scheu in Kontakt zu treten mit dem Kind und den Eltern. «Letztlich geht es um die Stärkung der Schule und der Lehrpersonen – und natürlich um das Wohl der Kinder.»

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