Lernende finden einen Klimakonsens

Im Dezember 2023 fanden gleichzeitig zwei Klimakonferenzen statt: die offizielle in Dubai und eine für Lernende in Winterthur. An beiden Orten wurde um Formulierungen gerungen und eine Resolution verabschiedet. Neben Gemeinsamkeiten gab es viele Unterschiede zwischen den beiden Veranstaltungen.

Text: Andreas Minder Fotos: Andreas Schwaiger

Um 15 Uhr wird es laut in der Aula der Berufsbildungsschule Winterthur (BBW). Maskierte Jugendliche unterbrechen die Verhandlungen der Klimakonferenz und marschieren mit Mikrofon und Transparenten auf die Bühne. «Make Love not CO2», «Be part of the solution not the pollution», «Scheiss Kapitalismus» und Ähnliches mehr steht auf bunten Plakaten. Nach zwei, drei Minuten ist der Spuk vorbei, die Klimaaktivistinnen und -aktivisten ziehen ab.

Da ist schon ein erster Unterschied zur UN-Klimakonferenz in Dubai auszumachen: Im autoritär geführten Golfstaat hatten Protestaktionen einen schweren Stand. An früheren UN-Klimakonferenzen waren Demonstrationen hingegen gang und gäbe. Bis in die Konferenzräume kamen die Protestierenden jedoch nie.

In Winterthur gelang ihnen das nicht nur, sie wurden sogar freundlich begrüsst. Auf den Gesichtern vieler Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer war ein breites Grinsen zu sehen. Nicht nur, weil sie zu einer willkommenen Pause im Verhandlungsmarathon kamen, sondern auch, weil sie das eine oder andere Gesicht hinter den Masken erkannten. Es waren die Lernenden einer Berufsmaturitätsklasse aus dem Schulhaus, welche die Rolle der Unruhestifter übernommen hatten.

Die sechs Konferenzdelegationen wurden ihrerseits von BM-Klassen der BBW und einer Klasse des Gymnasiums Büelrain gebildet. Sie spielten Indien, die USA, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), China, die EU und Äthiopien. Um 8 Uhr hatten sie ihre Arbeit aufgenommen. Nach der Begrüssung hatten sich die Länderdelegationen auf sechs Räume verteilt, um dort parallel über Reduktionen des CO2-Ausstosses zu verhandeln.

Die Erfahrungen und Resultate wurden anschliessend im Plenum präsentiert, verglichen und diskutiert. Am Nachmittag schickten die Länder jeweils zwei bis drei Abgesandte in Themenausschüsse, in denen es darum ging, sich auf konkrete Massnahmen in Bereichen wie Landwirtschaft und Ernährung, Verkehr und Dienstleistungen, Energie und Technik zu einigen.

Schülerinnen und Schüler als Klimaaktivisten getarnt unterbrechen die simulierte Klimakonferenz.
Schülerinnen und Schüler als Klimaaktivisten getarnt unterbrechen gleich zu Beginn die simulierte Klimakonferenz und marschieren mit Mikrofon und Transparenten auf die Bühne der Berufsbildungsschule Winterthur Quelle: Andreas Schwaiger

Im Dienst des Lehrplans

Die Idee der simulierten Klimakonferenz stammt von Christian Roduner. Der Lehrer für Wirtschaft, Recht, Geschichte und Politik an der BBW hält das Projekt in mehrfacher Hinsicht für wertvoll: «Es setzt die Handlungskompetenzorientierung um, die heute von den Lehrplänen gefordert wird.» Selbstreflexion, Sozialkompetenz und Lernstrategien würden durch den spielerischen, kompetitiven und zugleich kooperativen Charakter der Konferenz gefördert.

«Das der Realität nachempfundene Setting involviert die Lernenden und motiviert sie zur thematischen Auseinandersetzung», sagt Roduner. Die Lehrplaninhalte würden im Rollenspiel erlebbar und aktiv angewendet. Die Lernenden würden die Relevanz des Stoffs erkennen und nicht nur Wissen pauken.

«Aus der Lernforschung und der Entwicklungspsychologie wissen wir schon lange, dass nachhaltiges Lernen viel besser durch emotionale und soziale Erfahrung gelingt.» Das Thema Klimawandel eigne sich gut, weil es nur interdisziplinär behandelt und verstanden werden könne.

Mit der Simulation werde eine Lernsituation generiert, in der die Lernenden selbst erfahren würden, wie sinnvoll die Vernetzung von Fachinhalten sein kann. Zudem schliesse das Projekt Lücken in der Bildung für nachhaltige Entwicklung.

In einem Schulzimmer verhandelt ein ländergemischter Ausschuss unter der Leitung eines Vertreters der VAE über eine CO2-Steuer, mit der ein Klimafonds gespeist werden soll. Für Äthiopien ist der Fall klar: «Was Emissionen und Nachhaltigkeit anbelangt, sind wir ein Musterbeispiel. Dafür wollen wir Geld», fordert die Vertreterin des ostafrikanischen Landes. Und stösst damit bei der EU auf offene Ohren: «Eine Steuer auf Basis des CO2-Ausstosses ist für uns okay», sagen deren Abgeordnete. Worauf der Vertreter der VAE seine europäischen Kollegen darauf hinweist, dass dies für die EU sehr teuer werden könnte. Die beiden Europäer stecken kurz die Köpfe zusammen und schieben nach, dass ihre Länder dafür Zugang zu Forschungsgeldern des Klimafonds wollen.

Anschliessend bringt Indien ein heisses Eisen aufs Tapet: Der Klimafonds soll nicht nur mit Steuern auf dem aktuellen CO2-Ausstoss geäufnet werden. Auch für die Emissionen der Vergangenheit sollen die verursachenden Länder zahlen. Stichwort: Klimaschuld. Die EU und die VAE sprechen sich gegen dieses Ansinnen aus. «Wieso soll ein Land für seinen wirtschaftlichen Erfolg bestraft werden?», fragt der Vertreter der Emirate leicht entrüstet. Indien lenkt schliesslich ein. Es beharrt zwar auf Abgaben aufgrund früherer Emissionen, sie sollen aber nicht hoch sein. Ein Kompromiss zeichnet sich ab. Der Sitzungsleiter fragt in die Runde, ob alle hinter dem Vorschlag Indiens stehen könnten. «Wir haben sowieso keine Chance, uns durchzusetzen», meint die Vertreterin der USA seufzend. «Wir sind auch dabei.»

Schülerinnen und Schüler sitzen an Pulten im Kreis und debattieren..
Die simulierte Klimakonferenz an der Berufsbildungsschule Winterthur hat zum Ziel die Selbstreflexion, die Sozialkompetenz und die Lernstrategien in einem spielerischen, kompetitiven und kooperativen Umfeld zu fördern. Quelle: Andreas Schwaiger

Komplexe Thematik

Das Verständnis für die jeweiligen Landesinteressen und die Identifikation damit sind nicht bei allen Schülerinnen und Schülern gleich ausgeprägt. Das zeigt sich auch in anderen Ausschüssen. Die Gründe dafür sind mehrschichtig, wie eine kleine Umfrage in einer Verhandlungspause zeigt. Die Abgeordneten Äthiopiens etwa sagen, ihnen habe es an Zeit gefehlt, sich vorzubereiten, deshalb hätten sie mehrheitlich zugehört. Sie besuchen die lehrbegleitende BMS (BMS 1) der Fachrichtung Gesundheit und Soziales und haben einen dichtgedrängten Stundenplan. Ein weiterer Faktor ist die unterschiedliche Lebenserfahrung der Temporärdiplomatinnen und -diplomaten.

Der Altersunterschied zwischen den jüngsten BM-1-Lernenden und den ältesten Absolventinnen und Absolventen der Berufsmaturität nach der Lehre (BM 2) beträgt gut und gerne ein halbes Dutzend Jahre. Das kann auf die Verhandlungssicherheit durchaus einen Einfluss haben. Hinzu kommt: Mit zunehmender Verhandlungsdauer wird eine gewisse Ermüdung spürbar. Als «etwas lang» bezeichnet etwa ein Mitglied der chinesischen Delegation am späteren Nachmittag die Konferenz. Das dürfte manchen der Verhandelnde in Dubai ähnlich ergangen sein. 

Alessio Schaerrer, der im Alltag die BM 2, Fachrichtung Technik, Architektur und Life Sciences, absolviert, heute aber ein Diplomat der VAE ist, findet, es brauche halt etwas Zeit, bis der selbstorganisierte Verhandlungsprozess in Gang komme, vor allem in den klassendurchmischten Ausschüssen. «Anfangs war es ein wenig chaotisch», erzählt er. Er findet den Anlass jedoch «eine gute Sache», die bei ihm über die Schule hinaus wirke. Schaerrer hat die echte Klimakonferenz zwar schon vorher verfolgt, tut es nun aber mit noch mehr Interesse.

Für eine «gute Abwechslung» halten vier Freundinnen einer BMS-2-Klasse der Fachrichtung Gesundheit und Soziales die Konferenz. Die Thematik sei komplex, aber die Beschäftigung damit habe ihnen die Augen geöffnet. Was allerdings nicht bedeutet, dass sie alles gut finden, was im Namen des Klimas getan wird. Annika Egger zum Beispiel ärgert sich sehr über Klimakleberinnen und -kleber und hält deren Tun für kontraproduktiv.

Ein Jugendlicher sitzt hinter dem Länderschild der Vereinigten Arabischen Emiraten
Für die simulierte Klimakonferenz bilden fünf BM-Klassen der Berufsbildungsschule Winterthur und eine Klasse des Gymnasiums Büelrain die sechs Konferenzdelegationen bestehend aus Indien, USA, den Vereinigten Arabischen Emiraten, China, der EU und Äthiopien. Quelle: Andreas Schwaiger

Konzept zur freien Verfügung

Während in Dubai die 28. UN-Klimakonferenz über die Bühne ging, war es in Winterthur die zweite ihrer Art. Im April 2023 hatten bereits sechs andere Klassen darum gerungen, wie das Klima zu retten wäre. Und es ist gut möglich, dass es eine Fortsetzung gibt, auch an anderen Schulen.

Das Konzept der simulierten Klimakonferenz, das Christian Roduner zusammen mit drei Kolleginnen und Kollegen entwickelt hat, steht unter dem Titel «TransScolar» allen Lehrpersonen kostenlos zur Verfügung. Es wurde vom «Digital Learning Hub Sek II» des Kantons Zürich (siehe Kasten) gefördert.

Der Lärmpegel in der Aula ist hoch, das abschliessende Plenum beginnt. Nun wird sich zeigen, ob eine gemeinsame Deklaration möglich ist. Auf der Bühne steht Wolfgang Pfalzgraf. Der Physiklehrer hat sowohl das Projekt als auch die Konferenz zusammen mit Christian Roduner geleitet. Er versucht nun, die Delegationen im Saal in Richtung einer Einigung zu moderieren. Es wird gefeilt und gefeilscht, korrigiert und konsolidiert, ergänzt und gekürzt. Ein Bazar, der jenem im Dubai wohl nicht unähnlich ist.

Beim umstrittenen Punkt der Klimaschuld hat die Lösung aus dem Ausschuss Bestand. Die Winterthurer Klimakonferenz führt eine internationale CO2-Steuer ein, die sich «nach den Emissionen und dem wirtschaftlichen Wohlstand eines Landes » richtet und vergangene Emissionen einbezieht. Damit übertreffen die Schülerinnen und Schüler die echte Klimakonferenz bei Weitem, an der man sich nur mit Ach und Krach auf einen wenig konkreten «Übergang zu Energiesystemen, die frei von fossilen Brennstoffen sind», einigen konnte. In der Aula der Berufsbildungsschule Winterthur brandet frenetischer Applaus auf, als die Landesdelegierten auf die Bühne steigen, um die Resolution zu unterzeichnen.

Innovationsfonds für Schulen der Sekundarstufe II

Über zwei Innovationsfonds fördert der «Digital Learning Hub Sek II» (DLH) Berufsbildungs- und Mittelschul-Lehrpersonen des Kantons Zürich in der Entwicklung und Verbreitung von innovativen, digital gestützten Unterrichtsprojekten. Die DLH-Innovationsfonds wollen so das didaktisch-methodische Handlungsrepertoire unter Nutzung von digitalen Tools an den Schulen erweitern. Anschliessend stehen die geförderten Projekte auf der DLH-Homepage allen zur Verfügung. Auf der Website des DLH finden sich weitere Gefässe mit Informationen und Materialien zur praktischen Umsetzung des digitalen Wandels. So gibt es auch so genannte «Communities of Practice» (CoPs), thematische Lern-Communities, in denen sich Lehrpersonen mit ähnlichen Interessen über einen längeren Zeitraum austauschen und zusammen den Unterricht weiterentwickeln. Wolfgang Pfalzgraf, der an der Klimakonferenz mitarbeitete, leitet die thematisch gleich gelagerte «CoP Klima». Deren nächstes Online-Treffen findet am Montag, 18. März, von 17.30 bis 18.30 Uhr statt.

Weitere Informationen unter www.dlh.zh.ch und zum Konzept Klimakonferenz: www.dlh.zh.ch > Innovationsfonds > Projektvorstellungen.