Gelungener Sprung über den Röstigraben

Im Rahmen der ersten nationalen Austauschwoche trafen sich auch rund 650 Schülerinnen und Schüler aus dem Kanton Zürich und der französischsprachigen Schweiz zum Sprachaustausch in Dietikon. Künftig soll diese besondere Woche jedes Jahr im November stattfinden.

Text: Sabina Galbiati Fotos: Stephan Rappo    

Rund 40 Kinder stehen mehr oder minder geordnet im Kreis. Sie sollen gleich reihum ein «Namenrennen» machen, indem eines nach dem anderen möglichst schnell seinen Namen nennt – eine Eisbrecher-Übung zu Beginn dieses Nachmittags. Die eine Hälfte der Kinder spricht Deutsch, aber kaum Französisch, die andere Hälfte Französisch, aber kaum Deutsch. Die Sprachanimateurinnen – und ein Sprachanimateur – aus Deutschland und Frankreich erklären alles einmal auf Deutsch und einmal auf Französisch. Hier, im Kulturlokal «Gleis 21» in Dietikon, knüpfen die Kinder erste Kontakte mit Gleichaltrigen von ennet dem Röstigraben oder auf Französisch «rideau de rösti», dem Röstivorhang. Sie können die jeweils andere Sprache in echt erleben und sich austauschen, obwohl sie unterschiedliche Sprachen sprechen.

Es ist nationale Austauschwoche, die erste überhaupt in der Schweiz. Ins Leben gerufen wurde sie von Movetia, der nationalen Agentur für Austausch und Mobilität. Über 2500 Schülerinnen und Schüler der obligatorischen Schule überwinden in dieser Woche von Mitte November 2023 die Sprachgrenzen – über die ganze Schweiz verteilt finden 30 Veranstaltungen statt.

Im Kanton Zürich nehmen 650 Schülerinnen und Schüler am reichhaltigen Programm teil. Organisiert hat es die kantonale Fachstelle Austausch und Mobilität (siehe Kasten). Neben den geführten Sprachbegegnungen mit Partnerklassen, wie sie die Kinder im «Gleis 21» in Dietikon an diesem Nachmittag erleben, wirken Schülerinnen und Schüler zum Beispiel auch beim Impro-Theater mit, in dem alle vier Landessprachen Teil des Programms sind, und gestalten gemeinsam den Handlungsablauf. Ausserdem werden Zürcher Schulklassen im Rahmen von «Culture mobile» von einer französischsprachigen Lehrperson aus dem Welschland unterrichtet.

Schülerinnen stehen einander gegenüber und unterhalten sich.
Im Kulturlokal «Gleis 21» knüpfen Kinder aus dem Kanton Zürich und der französischsprachigen Schweiz im Rahmen der ersten nationalen Austauschwoche erste Kontakte mit Gleichaltrigen. Quelle: Stephan Rappo

Bemühungen auf allen Ebenen

Während Perrine Pardoëns, Leiterin des Wochenprogramms, die Austauschklassen begleitet und betreut, ist Nicole Bandion praktisch die ganzen fünf Tage vor Ort als Ansprechpartnerin für Lehrpersonen, Schulleiterinnen und -leiter und natürlich für die Gäste aus dem Welschland. Als Leiterin der Fachstelle Austausch und Mobilität ist sie ebenfalls mitverantwortlich für die Aktivitäten in Dietikon. «Bis jetzt hängt es stark vom Engagement der Lehrpersonen ab, ob Schulklassen in irgendeiner Form einen Austausch erleben, denn es bedeutet auch viel zusätzliche Arbeit für die Lehrpersonen», sagt sie. Doch Fremdsprachen könne man ohne Kontakt zu den Menschen, die sie sprechen, eigentlich nicht lernen. «Durch den Austausch kommen die Kinder und Jugendlichen in Kontakt mit der zu lernenden Sprache und der Kultur, können positive Erfahrungen sammeln und erkennen auch den Sinn des Spracherwerbs.»

Um solche Begegnungen zu fördern, wurde 2022 die kantonale Fachstelle geschaffen. «Unser Ziel ist es, den Sprachaustausch zu institutionalisieren und auch niederschwellige Projekte zu gestalten, um die Lehrpersonen bei der Organisation zu entlasten», erklärt Bandion und fügt hinzu: «Es ist doch eigentlich grossartig, dass wir Französisch, Italienisch und Rätoromanisch ganz in der Nähe haben, das bietet Chancen, die wir viel mehr nutzen sollten.»

Die Austauschwoche, die nun jedes Jahr stattfinden wird, ist ein grosser Schritt in die gewünschte Richtung. Dies bestätigt auch Christine Keller, Bereichsleiterin Schulbildung bei Movetia, die an diesem Nachmittag zu Besuch in Dietikon ist und sich dazugesellt. «Ein grosses Hindernis für den Sprachaustausch waren schon immer die fehlenden Zeitfenster, in denen es für alle beteiligten Schulklassen und Lehrpersonen gut passt.» Die nationale Austauschwoche soll nun schweizweit ein solches Zeitfenster schaffen. «Sie soll ein fixer Termin im Schweizer Schulplan werden », sagt Keller.

Die Kantone Zürich und Waadt gehen noch einen Schritt weiter. Bereits im September 2021 unterzeichneten sie eine gemeinsame Absichtserklärung, Austausch und Mobilität auf allen Schulstufen fördern zu wollen. Drei Monate später wurde in einer Kooperationserklärung festgehalten, man wolle Lernende der Berufsbildung bei Sprachaufenthalten und internationalen Praktika stärker unterstützen.

Im Rahmen der ersten Austauschwoche wurde nun in Dietikon die «Kooperationserklärung im Bereich Austausch und Mobilität in der Volksschule» unterzeichnet mit dem Ziel, das Erlernen der jeweils anderen Landessprache in der obligatorischen Schule mit regelmässig durchgeführten Austauscherfahrungen zu verknüpfen. Die beiden Kantone wollen sich gemeinsam dafür einsetzen, dass die Zahl der Austausch- und Mobilitätsaktivitäten für Schülerinnen und Schüler sowie für Lehrpersonen deutlich zunehmen und zum Bestandteil jedes Bildungs- und Ausbildungswegs werden.

Schülerinnen und Schüler tauschen sich spielerisch miteinander aus.
Die Schülerinnen und Schüler aus Uster und Aigle begegnen sich spielerisch. Sie werden so zu Superheldinnen und Superhelden des Röstigrabens oder «rideau de rösti». Quelle: Stephan Rappo

Mentale Barriere überwinden

Die Kinder im Saal malen nun Porträts ihrer Mitschülerinnen und -schüler. Am Schluss muss die eine Hälfte das jeweilige Gspänli auf dem Bild finden und vier Fragen in der anderen Sprache stellen. Unter anderem «Lieblingsfach» respektive «matière préférée» oder «Lieblingstier » respektive «animal préféré». Es dauert einen Moment, bis die Kinder sich finden, aber dann reden sie munter drauflos – natürlich mit Unterstützung der Sprachanimatorinnen und ihrer Klassenlehrerinnen. Das Eis ist gebrochen.

Die beiden Lehrerinnen organisieren seit 2022 einen regelmässigen Austausch zwischen ihren Klassen durch kurze Videos, die sie sich hin und her schicken. «Dank der Austauschwoche können wir uns nun endlich persönlich kennenlernen», sagt Katrin Häsler, Primarlehrerin in Uster. Ihre Partnerlehrerin aus Aigle, Regina Di Nocera, fügt hinzu: «Die Austauschwoche hat uns organisatorisch wie auch finanziell stark entlastet, und wir freuen uns sehr, hier zu sein.»

Der Röstigraben sei in ihren Augen eine Barriere, die von gewissen Kreisen gezielt aufrechterhalten werde, fährt Di Nocera fort. «Das finde ich schade. Wir sind uns bestimmt ähnlicher, als wir denken. Diese mentale Barriere sollten wir überwinden und dadurch einen Zugang zur anderen Sprache und Kultur schaffen.» Damit spricht die Primarlehrerin einen Punkt an, der auch an der Austauschwoche ein Thema ist: die Überwindung des Röstigrabens. 

Um das zu symbolisieren, stehen im grossen Saal mehrere lebensgrosse Pappfiguren – die Röstigraben-Überspringerinnen und -Überspringer. Das sind nahbare, eigens für die nationale Austauschwoche kreierte Superheldinnen und -helden. Sie sollen die Kinder und Jugendlichen ermutigen, die Sprachbarriere zu überwinden und Kontakte zu knüpfen mit anderssprachigen Menschen.

Schülerinnen und Schüler sind über ein Plakat gebäugt und ergänzen die Buchstaben des Alphabets mit deutschen und französischen Wörtern.
Im Rahmen eines Wettbewerbs ergänzen Schülerinnen und Schüler die Buchstaben des Alphabets mit deutschen und französischen Wörtern. Die Gruppe mit den meiste Wortpaaren gewinnt. Quelle: Stephan Rappo

Begegnungen schaffen

Die Woche in Dietikon richtet sich aber nicht nur an Schulklassen: Auch Lehrpersonen erhalten hier die Möglichkeit, sich an der «Austauschmesse» oder dem «Rendez-vous ZH-VD» kennenzulernen und Erfahrungen zu teilen. Nicole Bandion ist sichtlich zufrieden: «Es ist toll, dass wir von der Fachstelle hier während der ganzen Woche mit einer Anlaufstelle präsent sind, an der man uns physisch treffen kann.» Lehrpersonen, Schulleiterinnen und Schulleiter können sich so mit den Verantwortlichen unterhalten, ihre Anliegen vorbringen und Fragen stellen. «Wir können während dieser Woche einen Begegnungsort schaffen und sind so nicht länger eine anonyme Fachstelle im Amt.»

Für die zweite nationale Austauschwoche vom 18. bis 22. November 2024 haben sich die Verantwortlichen der Fachstelle schon einiges vorgenommen. Zum Auftakt wird die dritte Ausgabe der Weiterbildungs- und Vernetzungstagung «Rencontres» an der Pädagogischen Hochschule Zürich stattfinden. Diese Tagung hat der Kanton Zürich als Auftraggeber 2021 zum ersten Mal durchgeführt, 2023 fand sie im Kanton Waadt statt, dieses Jahr nun wieder in Zürich. Sie soll Lehrpersonen, Schulleiterinnen und Schulleitern der Volksschule und von Untergymnasien aus dem Kanton Zürich und der Suisse romande die Möglichkeit bieten, sich zu vernetzen und sich im Bereich Sprachaustausch weiterzubilden. Es werden gleich viele Teilnehmende aus der Deutschschweiz und der Romandie angestrebt. «Wir freuen uns darauf, die Lehrpersonen noch mehr ins Zentrum zu rücken», sagt Nicole Bandion. Ebenso begrüsst sie, dass die Austauschwoche jedes Jahr an einem anderen Ort stattfinden soll. «Dadurch können wir unser Netzwerk ausbauen und neue Kontakte knüpfen.»

Mittlerweile ist der Nachmittag weit fortgeschritten und im grossen Saal findet gerade die letzte Übung statt. Ein Wettbewerb, bei dem jene Gruppe gewinnt, welche die meisten richtigen Worte in der jeweiligen Fremdsprache zu den Buchstaben des Alphabets aufschreibt. Die Zeit ist begrenzt. Eine Gruppe schafft satte 20 Punkte. Doch eigentlich ist das gar nicht mehr so wichtig, denn die Schülerinnen und Schüler hatten viel Spass und viele von ihnen haben nun ein Gspänli aus dem anderen Kanton. Sie haben eine Sprachgrenze übersprungen, und deshalb gibt es zum Schluss ein grosses Fotoshooting mit den Superheldinnen     und -helden des Röstigrabens oder eben «rideau de rösti».

Kantonale Fachstelle Austausch und Mobilität

In der nationalen Strategie für Austausch und Mobilität von 2017 haben Bund und Kantone festgelegt, dass Austausch und Mobilität selbstverständliche Elemente von Bildungs- und Arbeitsbiografien werden sollen. Auf nationaler Ebene können Kantone, Schulen und Betriebe auf die Unterstützungsmassnahmen von Movetia, der nationalen Agentur für Austausch und Mobilität, zählen. Auf kantonaler Ebene ist seit 1. August 2022 die Fachstelle Austausch und Mobilität tätig, initiiert durch das Mittelschul- und Berufsbildungsamt gemeinsam mit dem Volksschulamt. Sie setzt sich für eine starke und nachhaltige Mobilitätskultur von der Primar- bis zur Sekundarstufe II ein. Gefördert und begleitet werden Mobilitätsaktivitäten im In- und Ausland. Die Fachstelle berät Schulen, Betriebe sowie einzelne Lernende, Schülerinnen und Schüler. Weitere Informationen gibt es unter www.fsam.zh.ch.