Förderung von musikalisch Begabten

Im Programm «Junge Talente Musik» werden musikalisch besonders begabte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Rahmen ihrer Möglichkeiten gefördert. Ein Besuch an der Musikschule Zürcher Oberland zeigt, was das heisst.

Text: Jacqueline Olivier Foto: Marion Nitsch

Jairo setzt den Bogen an. Mal langsam, mal schnell streicht er über die Saiten seines Kontrabasses, den Blick konzentriert auf die Notenblätter auf dem Ständer vor ihm gerichtet. Dann legt er den Bogen weg und zupft die Saiten mit seinen Fingerkuppen – manchmal ganz zart, dann wieder kräftig. Wenig später greift er erneut zum Bogen, bevor das nächste Pizzicato folgt. Mit seinem ganzen Körper geht er beim Spiel mit, man sieht und spürt seine Hingabe. Und als Laie staunt man, welche Klänge der 14-Jährige seinem Instrument zu entlocken vermag.

Lehrer Josef Gilgenreiner beobachtet von seinem Stuhl aus jeden Bogenstrich, jeden Fingersatz seines Schülers ganz genau. Manchmal lehnt er sich dabei weit vor und folgt mit seinem Kopf Jairos Bewegungen. Nachdem dieser seinen Vortrag beendet hat, setzt sich der Lehrer an den Flügel und sagt: «Das war wirklich cool. Aber es gibt noch ein paar Intonationsdetails, die wir etwas genauer anschauen wollen.»

Es ist ein regnerischer Spätnachmittag Ende Januar. Wir befinden uns in der Musikschule Zürcher Oberland (MZO) in Wetzikon. An der Wand des Raums stehen mehrere Kontrabässe in einer Reihe, den Abschluss macht ein Instrument in der ungefähren Grösse eines Cellos. Es ist ein Kontrabass für Kinder, auch Jairo hat vor sechs Jahren auf einem solchen Instrument zu lernen begonnen. Heute ist er einer von drei Schülerinnen und Schülern, die Josef Gilgenreiner im Rahmen des Förderprogramms «Junge Talente Musik» unterrichtet (siehe Kasten).

Der Kontrabassist, der unter anderem im Musikkollegium Winterthur und als Solobassist im «Le Concert Olympique» in Belgien spielt und als Kontrabassdozent an der Kalaidos Musikhochschule Zürich sein Wissen und Können weitergibt, ist seit einem Jahr als Lehrer im Förderprogramm an der MZO tätig. Was bedeutet für ihn musikalisches Talent? Da spielten verschiedene Faktoren eine Rolle, meint er. Zuerst einmal das Interesse, sich mit Musik zu beschäftigen, sowie eine gewisse Passion für das gespielte Instrument. Dann eine schnelle Auffassungsgabe: Was ist Rhythmus, was Dynamik, was Intonation? «Wichtig sind auch ein gutes musikalisches Ohr und eine grosse emotionale Begabung, denn neben Technik und Theorie geht es letztlich um das Entwickeln eines persönlichen künstlerischen Ausdrucks. »

Um im Förderprogramm bestehen zu können, kommen darüber hinaus Leistungsbereitschaft, Ausdauer und Selbstdisziplin hinzu. «In den Lektionen erhalten die Schülerinnen und Schüler gewisse Inputs, umsetzen und einstudieren müssen sie diese danach selbst.»

Der Lehrer sitzt am Klavier und begleitet einen Knaben am Kontrabass.
Der 14-jährige Jairo hat schon früh eine Liebe für den Kontrabass entwickelt. Im Förderprogramm unterstützt ihn sein Lehrer Josef Gilgenreiner in seinen Ambitionen, Profimusiker zu werden. Quelle: Marion Nitsch

Sorgfältiges Auswahlverfahren

«Junge Talente Musik» steht Kindern ab 4 Jahren offen und endet mit dem vollendeten 25. Lebensjahr. Das Programm ist vierstufig aufgebaut, die vier Niveaus sind nicht an ein bestimmtes Alter gebunden. «Es gibt Richtwerte», erklärt Thomas Ineichen, Leiter der Musikschule Zürcher Oberland und Präsident des Verbandes Zürcher Musikschulen (VZM), «ausschlaggebend ist jedoch das Können der Schülerinnen und Schüler.» Ein Eintrittsalter von vier Jahren hat deshalb aus seiner Erfahrung in der Praxis keinen Bestand. «Das Niveau 1 ist für Kinder unter acht Jahren kaum möglich, meistens sind sie neun oder zehn. Denn damit eine Einschätzung ihrer Begabung überhaupt möglich ist, müssen sie doch schon gewisse Fähigkeiten entwickelt haben.» 

Dass ein Kind überdurchschnittlich talentiert ist, fährt Thomas Ineichen fort, falle meistens einer Lehrperson oder den Eltern auf. In der Regel setzt er sich dann in eine Unterrichtslektion, um sich ein eigenes Bild von dem Kind zu machen. 

Erscheint eine Aufnahme ins Förderprogramm als realistisch, werden die Eltern zu einem Gespräch eingeladen. «Wir informieren die Eltern unter anderem auch darüber, welche Leistungen wir und welche sie zu erbringen haben.» Als Nächstes folgt ein Vorspiel – aber nicht nur das: Die jungen Anwärterinnen und Anwärter müssen auch eine Art Motivationsschreiben einreichen: Was bedeutet ihnen Musik, welche Rolle spielt sie in ihrem Leben, warum möchten sie ins Programm aufgenommen werden, wie schätzen sie sich selbst ein? «Natürlich immer altersgerecht», betont der MZO-Leiter, «die Kleineren machen das oft in Form einer Zeichnung.»

Die Einschätzungen aus dem Vorspiel und das Motivationsschreiben werden dann miteinander abgeglichen – «daraus ergibt sich ein Gesamtbild». Schliesslich fällt in einem weiteren Gespräch der Entscheid. Meistens, sagt Thomas Ineichen, sei dieser positiv, weil man eben seriös vorabgeklärt habe. «Das ist wichtig, denn sonst ist die Enttäuschung bei einem Nein zu gross.» Einmal im Programm aufgenommen, werden die Schülerinnen und Schüler jedes Jahr von Neuem geprüft, um zu entscheiden, ob sie im gleichen Niveau verbleiben oder ins nächsthöhere wechseln.

Der Kontrabass-Lehrer zeigt seinem Schüler etwas auf den Noten.
Der Kontrabass-Lehrer Josef Gilgenreiner unterrichtet Jairo im Rahmen des Förderprogramms «Junge Talente Musik». Quelle: Marion Nitsch

Nicht nur für spätere Profis

Auf die Bedürfnisse der einzelnen Schülerinnen und Schüler einzugehen, ist für die Verantwortlichen und Mitarbeitenden oberstes Gebot. Denn längst nicht alle, die in das Programm eintreten, werden später Profimusiker oder gar umjubelte Solisten auf den grossen Konzertbühnen dieser Welt. Vielmehr geht es darum, jedes Kind, jeden Jugendlichen nach dessen eigenen Möglichkeiten zu fördern, solange er oder sie das möchte.

Zur MZO gehören insgesamt 16 Schulgemeinden, von Wald über Bauma und Fehraltorf bis Wetzikon. Gemeinsam bieten sie auch das Förderprogramm Züri-Ost an, eines von sieben regionalen Förderprogrammen im Kanton Zürich. Bis auf die Förderprogramme der Region Winterthur und der Stadt Zürich bieten sie alle lediglich die Niveaus 1 bis 3 an.

Ins Niveau 4, das sogenannte Pre-College, das am Konservatorium Winterthur, an der Musikschule Konservatorium Zürich und der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) angeboten wird und Jugendliche auf ein Studium an einer Musikhochschule vorbereitet, wechseln laut Thomas Ineichen weniger als zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler. Manche stiegen auch schon früher aus. «Manchmal», meint er, «hilft das Förderprogramm eben auch, zu erkennen, was nicht möglich ist.»

Für Thomas Ineichen, Violinist und Posaunist, ist das kein Unglück. Es brauche auch gute Laienmusikerinnen und -musiker, ist er überzeugt, sie leisteten einen wichtigen Beitrag zu unserem Kulturleben.

Die Liebe zu den Basstönen

Für Jairo ist dies keine Option, er hat höher gesteckte Ziele. Seit zwei Jahren besucht er die Kunst- und Sportschule Zürcher Oberland in Uster, eine öffentliche Sekundarschule, die den spezifischen Bedürfnissen junger Sport-, Musik- und Tanz-Talente entgegenkommt. Zurzeit bereitet er sich für die Aufnahmeprüfung ans Kunst und Sport Gymnasium Rämibühl vor. Dort könnte er parallel zum Unterricht das Pre-College an der ZHdK absolvieren. Weil Josef Gilgenreiner auch dort unterrichtet, müsste Jairo nicht einmal seinen Lehrer wechseln. Nach der Matur möchte er an einer Musikhochschule studieren. Diesem Ziel ordnet er vieles unter. In seiner Freizeit trifft er sich selten mit Kollegen. Stattdessen übt er täglich mindestens ein bis zwei Stunden. Ausserdem spielt er im Jugendensemble «Con fuoco», das vor bald 20 Jahren eigens für junge und ambitionierte Talente wie ihn gegründet wurde.

Anders als viele andere Schülerinnen und Schüler im Förderprogramm kommt Jairo nicht aus einem musikalisch aktiven Elternhaus. Doch der Kontrabass hat ihn schon früh angezogen. «Mein Grossvater mag Volksmusik», erzählt er, «mit ihm war ich manchmal an Konzerten. Dort habe ich immer auf den Kontrabass geachtet.» Doch sein erstes Instrument war die Djembe – eine Bechertrommel aus Afrika. Die hat er ein Jahr lang gespielt – dies sei gut gewesen für sein Taktgefühl. Danach stieg er um auf den Kontrabass, nachdem er erfahren hatte, dass es eben auch kleinere Varianten speziell für Kinder gebe.

Was fasziniert ihn derart an seinem Instrument? «Man kann darauf sehr tiefe Töne spielen, was mir gefällt», antwortet er, ohne lange zu überlegen. «Aber auch sehr hohe, was viele nicht wissen.» Dass man den Ton selbst erzeugen muss, findet Jairo ebenfalls reizvoll. Da springt sein Lehrer Josef Gilgenreiner sofort darauf an. «Als Kontrabassist muss man die Liebe haben, diese tiefen Basstöne zu spielen», sagt er, und diese Aussage kommt aus tiefstem Herzen. Es ist eben nicht nur das Wissen und die Erfahrung, die Lehrpersonen wie er ihren Schülerinnen und Schülern im Förderprogramm weitergeben, sondern auch die eigene Begeisterung für das Instrument und die Musik.

Das Förderprogramm «Junge Talente Musik»

Seit vielen Jahren führen die Musikschulen im Kanton Zürich ein Förderprogramm für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die eine besondere musikalische Begabung zeigen. Mit der Inkraftsetzung des neuen kantonalen Musikschulgesetzes per 1. Januar 2023 erhielt das Programm einen rechtlichen Rahmen. Gleichzeitig unterstützt der Bund, der das Programm «Junge Talente Musik» auf nationaler Ebene verankert hat, die Förderung musikalischer Talente in den Kantonen mit einem finanziellen Beitrag. Zürich ist einer der ersten Kantone, die für die Jahre 2023 und 2024 solche zusätzlichen Mittel vom Bundesamt für Kultur erhalten – zweimal 800 000 Franken. Den Auftrag für die Umsetzung des Programms hat der Kanton dem Verband Zürcher Musikschulen (VZM) erteilt. Weitere Informationen unter www.vzm.ch/foerderprogramm.