Wenn Politik nahbar wird
Schulblatt 20.10.2023
Junge Menschen beteiligen sich seltener an Abstimmungen und Wahlen als der Rest der Bevölkerung. Dies möchte der Verein «Discuss it» ändern. Im Vorfeld der nationalen Wahlen vom 22. Oktober 2023 organisierte er sogenannte Regio-Parteienbasare. Daran teilgenommen hat auch eine Klasse angehender Fachleute Betreuung aus Horgen.
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Text: Walter Aeschimann Fotos: Andreas Schwaiger
Ein Vertreter von «Discuss it» fragt die Lernenden, wer eine Politikerin kennt, wer schon mit einer gesprochen oder zumindest eine live gesehen hat. Kaum jemand hat persönliche Erfahrungen mit Politikerinnen oder Politikern. Anschliessend sollen sich die Lernenden im Raum so positionieren, dass ihr politisches Interesse optisch sichtbar wird. Zwei stellen sich bei «sehr interessiert» hin, zwei bei «überhaupt nicht», die übrigen bei «eher mässig». Die Gründe für das verhaltene Interesse sind: «zu anstrengend», «zu viel Papierkram» oder einfach «keine Lust». Für Isabel Häberli, Lehrerin für Allgemeinbildenden Unterricht am Bildungszentrum Zürichsee (BZZ) in Horgen, ist dieser Befund nicht überraschend. «Politik interessiert die Lernenden eher weniger. Für viele ist auch nicht klar, welche Standpunkte sie vertreten sollen.» Deshalb sei der heutige Parteienbasar für die Lernenden eine gute Gelegenheit, sich in der direkten Begegnung mit Politik zu beschäftigen. «Die Lernenden können hier auch herausfinden, wer ihre Meinung vertritt.» Im Vorfeld hat Häberli mit der Klasse die verschiedenen Parteien im Unterricht behandelt.
Der Parteienbasar findet im Gemeinschaftszentrum Heuried in Zürich statt. Organisiert wurde er von «Discuss it», einem Verein von Studierenden und jungen Berufsleuten. Sie haben sich das Ziel gesetzt, mit verschiedenen Formaten die politische Bildung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu fördern. Das Angebot richtet sich an Schweizer Mittel- und Berufsfachschulen. Weil am 22. Oktober 2023 nationale Wahlen stattfinden, hat der Verein zum ersten Mal drei regionale Parteienbasare für Schulen der Sekundarstufe II in Bern, St. Gallen und Zürich organisiert. Das Interesse sei in allen Regionen gross gewesen, sagt Moira Dinkel, die für die Kommunikation verantwortlich ist. «Das neue Format soll es jungen Leuten ermöglichen, Politik oder Demokratie zu erleben und vielleicht zum ersten Mal mit einer Politikerin oder einem Politiker zu sprechen und auf Augenhöhe zu diskutieren.» Die Wahlbeteiligung unter jungen Menschen sei «generell sehr tief», fährt Dinkel fort. Deshalb bestehe eine Herausforderung darin, die jungen Erwachsenen zu animieren, sich an Wahlen zu beteiligen. «Klassische Diskussionsveranstaltungen, wie wir sie anbieten, eignen sich für Wahlen nur bedingt, da man anders als bei Abstimmungen nicht über Sachthemen befindet, sondern sich für oder gegen Parteien und Personen entscheidet.»
Ein politischer Parcours
Die Klasse FBA22k des BZZ ist eine von 19 Klassen, die an diesem Tag Anfang September am Parteienbasar in Zürich teilnehmen. Es sind 15 angehende Fachleute Betreuung im zweiten Lehrjahr, Fachrichtung Kinderbetreuung. Zwei von ihnen sind Männer. Einige der Lernenden haben keinen Schweizer Pass oder sind noch zu jung, um wählen zu dürfen. Die Jugendlichen möchten in diesem Text nicht namentlich genannt werden. Eine Lernende, die sich als interessiert bezeichnet, sagt: «Ich finde es gut, dass wir diese Veranstaltung während der Schule besuchen.» Ein Klassenkamerad äussert sich zurückhaltender: «Vielleicht erfahre ich etwas, was mich motiviert.» Seine Kollegin schliesslich erwartet nichts weniger als den «Durchblick, wie Politik funktioniert».
Der Morgen gestaltet sich als politischer Parcours in drei Akten. Der erste Akt besteht aus einem Rundgang von Partei zu Partei. An ihren Ständen in der Arena erwarten Parteienvertreterinnen und -vertreter, deren Namen auf einer der Wahllisten stehen werden, die Fragen der jugen Leute. Der zweite Akt ist eine Live-Debatte mit zwei Politikern und anschliessender Diskussion mit den Lernenden. In diesem Forum versammeln sich mehrere der anwesenden Klassen. Im letzten Akt schliesslich kann man einer Partei seine Stimme geben.
Die Klasse aus Horgen hat sich in Vierergruppen aufgeteilt, ein Arbeitsblatt erhalten und muss vorerst Fragen zu unterschiedlichen Themen formulieren. «Was finden Sie zu den Klimaklebern?», «Sind Sie für den Mindestlohn?» oder «Soll Cannabis legalisiert werden?». Eine der Gruppen steuert ziemlich forsch auf einen Stand zu und stellt dort die zuvor notierten Fragen. Schon nach kurzer Zeit diskutieren die vier Lernenden angeregt mit einem jungen Politiker. Dieser erklärt ihnen, dass er für Umweltschutz sei, aber gegen das Vorgehen der Klimaaktivisten.
So könnten die Probleme nicht gelöst werden. Die Gruppe ist uneins, ob sie das gut finden soll. Beim zweiten Stand wird es hitzig. Dort sprechen die vier mit einem Parteienvertreter, der gegen die Einführung eines Mindestlohns ist. Das akzeptiert die Gruppe nicht: «Schlecht bezahlte Berufe müssen doch wenigstens einen Mindestlohn bekommen», insistieren die jungen Leute. «Dann sollen sie den Beruf wechseln, wenn sie zu wenig Geld verdienen », antwortet der Politiker.
Voll bei der Sache
Nach drei Gesprächsrunden mit verschiedenen Parteien braucht die Gruppe frische Luft. Die vier sind enerviert, andere aus der Klasse gesellen sich hinzu. Sie tauschen sich untereinander über die Gespräche an den Ständen aus. «Mann, ich hätte dem Politiker, der gegen Mindestlohn ist, eine schlagen können», sagt eine Lernende aufgebracht. «Als ob es so einfach wäre, den Beruf zu wechseln.» Eine junge Frau in der Klasse, die ein Kopftuch trägt, ist empört: «Ein Politiker hat mir erklärt, dass meine Religion die Frauen unterdrückt.» Über «Armut» habe die Frau am Stand ganz hinten «gute Sachen gesagt», meint eine andere Schülerin. Beim Thema «Frauenförderung», finden alle, hätten die meisten nur gesagt, dass in ihrer Partei sehr viele Frauen vertreten seien. Das fanden die Lernenden als Argument «eher schwach». Einige haben die Gespräche auch als Wettkampf erlebt. «Wir haben die Politiker richtig auseinandergenommen», erzählen sie.
Lehrerin Isabel Häberli zeigt sich überrascht, wie aktiv die Lernenden bei der Sache seien. «Ich dachte, sie würden sich nach kurzer Zeit langweilen. Aber sie waren sehr engagiert. Das ist schön.» Die Politikerinnen und Politiker finden es mehrheitlich «megaschön, mit jungen Menschen in Kontakt zu kommen». Ein Politiker meint, es sei gut, aus der eigenen Blase herauszukommen. «Wir sind zu oft im gleichen Umfeld tätig.» Eine Politikerin war erstaunt, «dass Fragen kommen, die ich nie erwartet hätte. Etwa, was unsere Partei macht.»
Nicht nur einfach zu verstehen
Die Nöte und Sorgen der jungen Menschen zu verstehen, kann eine Herausforderung sein. Ebenso, die oft komplexen Inhalte verständlich und angemessen an Jugendliche zu vermitteln, die sich in einer Berufsausbildung befinden. Dieser Eindruck entsteht auch bei der Live-Debatte. Auf dem Podium, moderiert von einer Vertreterin von «Discuss it», diskutieren zwe Politiker aus unterschiedlichen Perspektiven über Klimaschutz. Es geht vor allem um den ökonomischen Aspekt. «Umweltschutz ist gut – aber muss er auch rentieren?», ist die Grundsatzfrage. Beide sind versiert und routiniert in ihrer Argumentation. Sie vergessen aber, dass im Publikum nicht alle die technischen Fachausdrücke verstehen. Als sie das Thema «Atomkraftwerke» streifen, meldet sich ein Schüler aus dem Publikum: «Es ist doch Schwachsinn, dass man heute neue Atomkraftwerke plant, die vielleicht erst in 50 Jahren betriebsbereit sind. Wir müssen jetzt eine gute Lösung finden.» Die beiden Politiker wirken etwas ratlos. Zum Schluss der Debatte gibt es kaum noch Fragen aus dem Publikum. «Das war mir zu krass», sagt danach ein Schüler.
Der Urnengang bringt in dieser Runde schliesslich ein deutliches Resultat und entspricht nicht der realen Parteienstärkein der Schweiz. Die Grüne Partei und die Sozialdemokratische Partei erhielten die meisten Stimmen. Das Bild habe im Verlauf des Tages aber stark variiert, sagt Moira Dinkel. Sie und ihr Team haben den Tag als grossen Erfolg erlebt: «Das Ziel, den Jugendlichen einen direkten Austauschmit den Politikerinnen und Politikernzu ermöglichen, wurde erreicht. Das Feedback der Lernenden und der Lehrpersonen war sehr positiv. Es zeigt, dass die junge Bevölkerung Räume braucht, um selbst zu üben.» Am Ende befragt der Vertreter von «Discuss it» die Klasse nochmals zum politischen Interesse. Nur zwei Lernende haben ihre Haltung nicht verändert: Politik interessiert sie nicht. Die anderen sind, zumindest für den Moment, durch diese Veranstaltung «sehr interessiert und motiviert». Fast alle fanden es eine «tolle Erfahrung». Eine Lernende dachte erst, dass es «richtig langweilig wird. Ich hätte nie erwartet, dass es so spannend ist.» Eine andere erklärt:«Ich habe gelernt, dass gerechte Löhne nicht alle Parteien interessiert.» Und einer der jungen Männer in der Klasse hat sich zum ersten Mal überlegt, «dass ohne Verbote die Gesellschaft kaum funktionieren würde. Es wäre ein Chaos.»
Politische Beteiligung von jungen Erwachsenen
Die politische Partizipation von jungen Erwachsenen an der Urne liegt in der Schweiz unter jener des Bevölkerungsdurchschnitts. Sie beteiligen sich selektiver an Abstimmungen als die anderen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Dieses Bild ergibt sich aus diversen Umfragen und Erhebungen. Eine Studie der Universität Zürich, die im Auftrag der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich 2021 durchgeführt wurde, untersuchte die politische Beteiligung von 16- bis 25-Jährigen im Kanton Zürich. Diese Studie zeigte, dass betreffend Stimmbeteiligung ein deutlicher Unterschied zwischen Mittelschülerinnen und -schülern und Berufslernenden besteht. Gymnasiastinnen und Gymnasiasten nehmen rund dreimal häufiger an Abstimmungen teil als Berufslernende. Gemäss dieser Studie ist das Geschlecht hingegen nicht entscheidend für die politische Partizipation: Im Kanton Zürich nehmen junge Frauen und junge Männer zu gleichen Anteilen an Abstimmungen teil. [red]