Wie sieht das Gymnasium von morgen aus?
Schulblatt 30.06.2023
Auf nationaler Ebene wird zurzeit an der «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» – kurz WEGM – gearbeitet. Umsetzen müssen das Projekt die Kantone. Im Kanton Zürich nutzt man dies für eine breit angelegte Diskussion über das Gymnasium der Zukunft.
Text: Jacqueline Olivier Fotos: Stephan Rappo
«Welches war euer erstes Handy – Nokia, Sony, Ericsson, Samsung oder Blackberry?» So lautet die erste Frage der Workshop-Moderatorin Nicole Brockhaus-Soldenhoff an die rund 20 Personen, die an diesem Morgen Ende Mai über die Zukunft der Gymnasien diskutieren sollen. Im hinteren Teil des grossen Raums der Fernfachhochschule Zürich kleben Zettel am Boden, auf denen jeweils eine der genannten Handymarken geschrieben steht. Dort sollen sich die Workshop-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer gemäss der Eingangsfrage positionieren und sich innerhalb ihrer Gruppe über ihre Erinnerungen an ihr erstes Handy austauschen.
Was dies mit der Zukunft der Gymnasien zu tun hat? Das letzte Maturitätsanerkennungsreglement (MAR) trat 1995 in Kraft, das war die Anfangszeit der Mobiltelefone und von «AltaVista» als erster Internet-Suchmaschine. Dies hat die Moderatorin in ihrer Einleitung erklärt. Und ebenso, dass die aktuellen Lehrpläne der Mittelschulen gut 30 Jahre alt seien. Ihre erste «Warm-up»-Frage zielt deshalb darauf ab, den Anwesenden, zu denen Lehrpersonen, Schulkommissionspräsidenten, Schulleitungsmitglieder, Bildungsexpertinnen sowie Gymischülerinnen und -schüler zählen, in Erinnerung zu rufen, wie anders sich die Welt 1995 noch präsentierte.
«Es ist also Zeit, wieder einmal über Lehrpläne nachzudenken», sagt sie. Genau dies erfordert das Projekt «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität » – kurz WEGM – von Bund und Kantonen. Es hat zum Ziel, die Qualität der gymnasialen Maturität und somit auch den prüfungsfreien Zugang zu den Hochschulen langfristig zu sichern. Dafür sollen im ersten Schritt das MAR, im zweiten der Rahmenlehrplan revidiert werden. Was papieren klingt, hat in der Realität sehr viel mit Lerninhalten und Lernformen zu tun. Fördern will man nämlich Dinge wie fächerübergreifendes Lernen oder Wissenschaftspropädeutik. Ein Augenmerk liegt zudem auf dem Anschluss an den Lehrplan 21 der Volksschule. Für die Umsetzung von WEGM werden die Kantone zuständig sein. Bestehende kantonale Vorgaben müssen angepasst, Lehrpläne und Stundentafeln überarbeitet werden. Weil sich dabei auch gewisse Spielräume öffnen, hat das Mittelschul- und Berufsbildungsamt (MBA) ein Vorprojekt gestartet, um zu klären, was an den Zürcher Gymnasien heute gut läuft und wo Handlungsbedarf besteht. Auf der Basis von Beobachtungen im Schulfeld (siehe Kasten) wurden fünf Handlungsfelder definiert und zu jedem ein halbtägiger Workshop organisiert.
Aus Ideen entstehen Vorschläge
Der heutige Workshop ist der zweite in der Reihe, das Thema lautet: «Fachlichkeit und Überfachlichkeit». Nach der Aufwärmrunde geht es gleich an die Arbeit. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben fünf Minuten Zeit, auf einer Karte unter dem Motto «Was ich schon immer sagen wollte» stichwortartig Kritik, Lob, Ideen zu notieren – «was immer man deponieren möchte», ermuntert sie die Moderatorin. Anschliessend sollen die anderen auf den Karten ihre Ergänzungen anbringen. Die Aussagen sind breit gefächert, manchmal sind sie auch als Fragen formuliert: «Was ist überhaupt ein Fach?», «Fokus nicht auf Stoff, mehr auf Lernen» oder «Bewertung von Anfang an mitdenken».
Es folgt Übung auf Übung, zwischendurch wird immer wieder in Gruppen diskutiert, bis um die Mittagsstunde schliesslich konkrete Umsetzungsvorschläge vorliegen. Die Bandbreite reicht von «Überfachliche Gefässe verbindlich vorgeben und die Lehrpersonen dafür weiterbilden » bis zu «Morgens Fachunterricht, nachmittags längere und kürzere thematische Module, jahrgangs- und klassenübergreifend, mit Credit-Punkte-System». Ein Teilnehmer bringt sogar ein Kompetenzzentrum für Interdisziplinarität ins Spiel, in dem Gymnasien und Hochschulen eng zusammenarbeiten. In der Schlussrunde dreht sich die Debatte dann plötzlich noch um ganz andere Dinge wie etwa die Belastung von Schülerinnen und Schülern und Lehrpersonen, die Abschaffung der Hausaufgaben, weniger Wochenstunden, dafür mehr Schulwochen – was letztlich bedeuten würde: weniger Ferien.
Gedanken freien Lauf lassen
Sinn und Zweck dieser Workshops ist laut Moderatorin Nicole Brockhaus-Soldenhoff, die selbst lange als Mittelschullehrerin und Prorektorin tätig war, möglichst viele Ideen und Lösungsansätze zu sammeln, um daraus eine für den Kanton Zürich passende Umsetzung des Projekts WEGM zu zimmern. Parallel dazu läuft nach wie vor das Projekt WEGM auf nationaler Ebene. Zur Revision des MAR fand im vergangenen Jahr die Vernehmlassung statt, die entsprechenden Beschlüsse von Bund und Kantonen werden demnächst erfolgen. Für die Aktualisierung des Rahmenlehrplans ist für dieses Jahr eine Konsultation geplant, in der ersten Hälfte 2024 sollen die Beschlüsse vorliegen. Dies bedeutet, dass man zurzeit die endgültigen Vorgaben noch nicht genau kennt. Warum also dieses kantonale Vorprojekt zum jetzigen Zeitpunkt? Es gehe darum, den Gedanken möglichst freien Lauf zu lassen, erklärt Projektleiterin Christina Gnos vom MBA. Und fügt hinzu: «Fängt man erst an zu diskutieren, wenn die Rahmenbedingungen feststehen, hat man bereits eine Schere im Kopf und viele Anliegen und Ideen kommen gar nicht mehr zur Sprache.»
Zwischen Offenheit und Skepsis
Den Workshop-Teilnehmern ist der Spagat zwischen dem heutigen «Wunschkonzert» und der Realität durchaus bewusst, trotzdem schätzen sie die Möglichkeiten des Dialogs. So sagt etwa Thomas Tobler, Rektor der Kantonsschule Stadelhofen: «Ich will mich einbringen und finde den Austausch von Ideen und von Good Practice wichtig. Die soziale Interaktion ist der Kern einer solchen Entwicklung.» Doch er äussert auch Skepsis: «Den effektiven Spielraum schätze ich als klein ein.» Martin Klee, Rektor der Kantonalen Maturitätsschule für Erwachsene, meint: «Wir erleben heute seit langem wieder einmal ein Wachstum der Schulen und verzeichnen gleichzeitig einen Mangel an Personal – das ist eigentlich die Chance für Veränderungen, weil man die personellen Ressourcen anders einsetzen und nutzen muss.» Und doch wünschen sich beide in gewissen Punkten mehr Verbindlichkeit für die Schulen. So ist Martin Klee der Ansicht: «Interdisziplinarität als Vorgabe im Reglement würde ich begrüssen, dann müsste sie von den Schulen auch tatsächlich umgesetzt werden.»
Und wie beurteilen die Schülerinnen und Schüler diesen Morgen? «Wir sind die, die normalerweise am wenigsten zu sagen haben», antwortet Marvin Lanicca, «wir möchten das beeinflussen, was wir beeinflussen können.» Paul Kerland findet, das Gymi liege ihm zwar von allen Ausbildungsmöglichkeiten am meisten, aber es sei «weit weg von optimal». Als Schüler stehe man unter grossem Druck, fährt er fort, und die Schule verfehle auch gewisse Ziele, etwa in der Präventionsarbeit. Gleichzeitig habe ihm der Workshop gezeigt, «wie viel hinter der Schule steckt». Liva Gavranic´ erlebte den Workshop als sehr hilfreich, sie habe zuvor nicht verstanden, dass an den Gymis so viel Handlungsbedarf bestehe. Und sie ist dezidiert der Meinung, Schülerinnen und Schüler sollten im weiteren Prozess involviert bleiben, denn: «Wir haben eine andere Sicht auf die Schule als die Lehrpersonen.»
Viele Freiheiten beim «Wie»
Gerade das engagierte Mitwirken der Jugendlichen in allen fünf Workshops habe sie enorm gefreut, betont Projektleiterin Christina Gnos ein paar Wochen später. Man habe nämlich Bedenken gehabt, dass sie neben den vielen erwachsenen Fachpersonen etwas im Hintergrund bleiben könnten. Die Zusammensetzung der Workshop-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer habe sich sehr bewährt, erklärt sie, das Diskutieren in Gruppen, in denen man sonst nicht diskutiere. «Die Rückmeldungen waren durchwegs positiv.» Für das Projektteam geht es nun an die inhaltliche Auswertung, doch eines kann Christina Gnos bereits sagen: «Unter dem Strich ergab sich viel Konsens hinsichtlich der Themen, die man angehen möchte.» Dazu gehörten beispielsweise längere Lernphasen anstelle des heutigen 45-Minuten-Rhythmus oder die Veränderung der Rolle der Lehrpersonen hin zu mehr Lernbegleitung.
Für das weitere Vorgehen liegt der Projektleiterin vor allem eines am Herzen: den Schulen aufzuzeigen, dass sie viel mehr Freiheiten hätten, als sie sich bewusst seien. Das MAR, sagt sie, definiere, welche Fächer unterrichtet werden müssten und welche für die Matur zählten.«Wie man das macht, welche Lernformen man anwendet – da besteht für die Schulen grosser Spielraum.» Zudem seien viele Fragen, die teilweise schon länger im Raum stünden, von WEGM unabhängig. «Wir haben sie nun einfach im Zusammenhang mit WEGM aufgenommen, um diese breite Diskussion führen zu können.» Natürlich gehe es zu guter Letzt immer um die Frage, was leistbar sei. Man müsse aber auch nicht alles auf einmal anpacken. «Für die Umsetzung von WEGM ist das Zeitkorsett eng, darum hat dies nun Priorität. Andere Dinge wie kulturelle Veränderungen an den Schulen benötigen mehr Zeit, und die können wir uns auch nehmen.»