ChatGPT und Co. – Revolution im Klassenzimmer?

Mit dem rasanten digitalen Wandel Schritt zu halten, ist für die Schulen eine stetige Herausforderung. Das jüngste Kapitel in dieser Geschichte: Chatbots. Sind sie Gefahr oder Chance für den Unterricht? Ein Augenschein an der Sekundarschule Ebni in Neftenbach zeigt, wie man sie kreativ nutzen und kritisch hinterfragen kann.

Text: Walter Aeschimann   Fotos: Dieter Seeger

Auf dem grossen Monitor erscheint ein Bild. Es zeigt einen Mann, der von Polizisten eingekreist und verhaftet wird. Wer genauer hinschaut, erkennt Donald Trump, den ehemaligen Präsidenten der USA. Das Bild ging rasend schnell viral und wirkte täuschend echt. Die Szene könnte authentisch sein. Und zwar deshalb, weil die Medien zu dieser Zeit berichtet haben, der Staatsanwalt von New York würde Trumps Verhaftung planen. Tatsächlich hat das Ereignis so nicht stattgefunden. Das Bild ist gefälscht. Kreiert von einer Art Maschine, von einer Technologie, die menschliche Fähigkeiten zeigen und imitieren kann. Für diese Technologie hat sich der Begriff Künstliche Intelligenz (KI) etabliert.

Michael Lutz hat das Bild der Klasse zu Beginn der Lektion gezeigt. «Wie ergeht es euch mit diesem Bild? Was passiert, wenn mehr derartige Bilder veröffentlicht werden? Kann man einer Meldung oder einem Bild noch trauen? Wie kann ich mich schützen?», fragt der Klassenlehrer in die Runde. Ein Schüler findet das Bild «irgendwie lustig». Einer Schülerin scheint es «etwas unheimlich». Die Klasse reagiert zurückhaltend. Das Thema ist noch ziemlich neu. Man weiss nicht recht, wohin es führt. Wir sind zu Besuch im Schulhaus Ebni in Neftenbach, einer Mosaikschule mit knapp 200 Schülerinnen und Schülern, unterteilt in alters- und leistungsdurchmischte Klassen. Die Klasse von Michael Lutz besteht aus 21 Schülerinnen und Schülern von der 1. bis zur 3. Sekundarklasse. Es ist die dritte von acht Lektionen, die er in diesem Semester dem Thema KI widmet. Konkret geht es um ChatGPT.
 

Benaja Schellenberg
Hätte sich vor einem Jahr noch nicht träumen lassen, dass er heute in der Schule über Künstliche Intelligenz sprechen würde: Klassenlehrer Michael Lutz.

Verbieten hilft nicht

ChatGPT ist der Name eines textbasierten Dialogsystems (Bot), das auf der KI-Technologie beruht. Der Bot, abgeleitet vom englischen «robot», erlaubt die elektronische Kommunikation mit technischen Systemen (chatten). Er beantwortet Fragen, formuliert Texte, fasst Fachwissen zusammen – und kann auch Schüleraufsätze schreiben, gar altersgerecht angepasst. Auf Knopfdruck und innert Sekunden sozusagen, wenn man dem System mit entsprechenden Hinweisen den Befehl erteilt. Sehr oft ist das Ergebnis erstaunlich gut. «Es ist hundertmal besser als Safari», wird später ein Schüler sagen. Im November 2022 wurde es veröffentlicht. Nur wenig später war es in den Schulen angekommen. «Vor einem Jahr hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich heute in der Schule über KI spreche», sagt Lutz, um gleich anzufügen, dass er lieber den Begriff «Künstliche Assistenz» verwenden würde.

Für Schulen und andere Bildungsinstitutionen bedeutet diese Technologie eine neue Herausforderung. Revolutioniert ChatGPT die Klassenzimmer? Müssen Schülerinnen und Schüler nicht mehr selbst denken? Delegiert die Lehrperson den Unterricht an einen Roboter? Einige wollen das Programm verbieten, andere reden es klein oder gehen in die Offensive. «Es ergibt meiner Ansicht nach wenig Sinn, das Produkt in den Schulen zu verbieten. Die Schüler werden es zu Hause sicher ausprobieren. Deshalb sollten wir ChatGPT als Chance sehen», sagt Lutz. Als Lehrperson versuche er kreativ damit umzugehen und wolle seiner Klasse einen differenzierten Zugang zum Programm ermöglichen. Differenziert bedeutet: «Ich schaue das Tool nicht nur an. Ich möchte zeigen, wie es funktioniert, und es kritisch untersuchen.»
 

Benaja Schellenberg
Die Schüler und Schülerinnen sollen ChatGPT ausprobieren und kritisch untersuchen.

Flirten mit «Beyoncé»

Die Schülerinnen und Schüler dürfen das Programm aus datenrechtlichen Gründen nicht benutzen. Über die Fortbildungsplattform Fobizz öffnet Lutz einen datengeschützten Raum, in dem sie ChatGPT erleben können. Ein Anwendungsfall ist so eingerichtet, dass er Gespräche mit berühmten Personen imitiert. Dieses Tool lernten die Jugendlichen in der vergangenen Lektion kennen. Einer hat «Albert Einstein» gefragt: «Was machen Sie?» Der virtuelle Physiker hat ihm die Relativitätstheorie erklärt, auf die entsprechende Bitte auch in altersgerechter Sprache. Einige Jungs haben mit «Beyoncé» geflirtet. Die Sängerin hat zurückgeflirtet. Eine Schülerin hat mit einem populären Musiker gescherzt und einen Heiratsantrag erhalten. Sie hat ihn angenommen. «Wir haben uns gefragt, ob die Gefahr besteht, dass eine persönliche Beziehung mit der künstlichen Person entsteht», erzählt Lutz und ergänzt: «Das könnte schon passieren. Hier müssen wir aufpassen. Es ist mir wichtig, dies in der Klasse anzusprechen. Es könnte heikel werden, wenn das Tool mich kennenlernt.» Deshalb unterbricht der Lehrer die Sessions immer wieder. Und die Daten werden nach 24 Stunden gelöscht, ohne dass Rückschlüsse auf die Schülerinnen und Schüler gezogen werden können.

Vorteile selbstbestimmt nutzen

Michael Lutz hat vor knapp zehn Jahren begonnen, digitale Mittel im Schulalltag einzusetzen. Er hat die zunehmende administrative Arbeit mit digitalen Lösungen optimiert und wollte die Schülerinnen und Schüler gleichzeitig «zukunftstauglich für die Berufswelt von morgen» machen. Schliesslich hat er Google Classroom eingesetzt. Eine Internetplattform, die es Lehrpersonen im Schulalltag ermöglicht, Lern- und Übungsaufgaben sowie Aufgaben für Leistungsnachweise online zu erstellen. Die Schüler bearbeiten die Aufgaben am Computer als Hausaufgabe oder in der Lektion. Bei Problemen können sie elektronisch mit dem Klassenlehrer sprechen und geben die erledigten Arbeiten elektronisch ab.
 

Benaja Schellenberg
«Megespannend» finden die Schülerinnen und Schüler das Thema Künstliche Intelligenz.

Die Entwicklung schritt voran. Lutz begann, die Lehrpersonen in digitaler Kompetenz zu instruieren. Er hielt Sitzungen digital ab, richtete digitale Räume ein, auf die alle, die das wollten, Zugang haben. Auch Eltern oder Schulbehörden. Er interessierte sich für digitale Prüfungen oder für digitale Korrekturerleichterungen der Lehrpersonen. So erhielt er etwa Daten, aus denen er erkannte, wo häufig gemachte Fehler lagen. Darauf konnte er in der nächsten Stunde noch einmal eingehen.

Weil sich Lutz seit ein paar Monaten mit KI beschäftigt, ist ChatGPT für ihn «eine kleine Revolution» im Klassenzimmer. Das hat die Klasse in einer früheren Lektion erfahren. Lutz hat der Klasse eine Website gezeigt, die mit zwei Stichworten eine Internetseite generiert. Die Schülerinnen und Schüler haben das Programm am Beispiel des Schulhauses Ebni ausprobiert. Es kreierte innert Kürze einen vollständigen Webauftritt, auch mit Zitaten von Lehrpersonen oder Eltern. «Das war erstaunlich und täuschend echt. Wir haben aber gesehen, dass alles erfunden ist, auch die Zitate. Einige sahen es spielerisch. Anderen war es unheimlich. Alle haben gestaunt», erzählt Lutz. Dieses Beispiel könne man aber als pädagogische Chance sehen. Man könne aussortieren, was nichts bringt, und zugleich das Gute nutzen. Das perfekte Layout behalten, aber die erfundenen durch korrekte Zitate ersetzen. Dies erfordere kritisches Denken und zugleich selbstbestimmtes und kreatives Handeln.

Moral, Ethik und Sicherheit

Michael Lutz ist einer von mehreren Pädagogischen ICT-Supportern (PICTS) an der Schule. Das heisst, er ist eine Ansprechperson bei digitalen Fragen und berät Schülerinnen und Schüler, Lehrpersonen und Schulleitung in der Informations- und Kommunikationstechnologie. «Ich schätze die grundsätzlich positive Einstellung den neuen Technologien gegenüber. Unter den Kolleginnen und Kollegen findet ein reger Austausch statt. Schön ist auch, dass ich von der Schulleitung an jedem Konvent die Möglichkeit erhalte, etwas Neues vorzustellen.» Im April hat er zusammen mit einem Arbeitskollegen vor dem Kollegium über KI referiert. Er hat gezeigt, wie sie mit ChatGPT arbeiten können.

In dieser Funktion kommt ihm zugute, dass er nicht Vollzeit als Lehrperson tätig ist. Er führt auch eine Beratungsfirma im Bereich digitaler Wandel. «Firmengründer, die eine Software für die Schule entwickelt haben, kontaktieren mich. So kann ich die neuen Tools an die Schule bringen, sie testen und mögliche Konsequenzen abschätzen. » Zu seinen Aufgaben gehört es auch, sich zu vernetzen. Seit einem Jahr tauscht er sich auf dem sozialen Netzwerk LinkedIn mit «spannenden Leuten» aus, mit Start-up-Unternehmen im Schulbereich, «mit Leuten, die Bildung neu denken möchten». Seit einigen Monaten ist in diesem Netzwerk auch KI das grosse Thema. Lutz sucht Kontakte zu Hochschulen, die sich mit Moral, Ethik und Internet befassen. Er informiert sich an anderen Schulen und ist Mitglied im Verein Schule Medien und Informatik Kanton Zürich (SCHMIZH). Nicht zuletzt tauscht er sich mit Polizisten bezüglich Cyber Security aus. «Den Bereich Ethik, Moral oder Sicherheit dürfen wir nie aus den Augen verlieren», betont er.

Die Frage, ob zu viel digitale Kompetenz die soziale Ausbildung verdrängt, findet Michael Lutz berechtigt, sieht dies aber nicht als Gefahr. «Digitales Schaffen erfordert ebenfalls eine direkte soziale Interaktion unter den Schülerinnen und Schülern. Wir machen viele Arbeiten, in denen sie in der Gruppe diskutieren. Auch Frontalunterricht hat seine Berechtigung. Aber ich kann zusätzlich Neues kreieren.» So wie in der heutigen Lektion. Die Klasse soll das Programm so weit bringen, dass das Tool eine bestimmte Rolle spielt. Also fragt ein Schüler: «Kannst du dich wie Neymar benehmen?» Die Antwort kommt sofort: «Nein, ich bin ein Sprachmodul und keine physische Person. Ich kann keine Rolle spielen.» – «Gebt euch nicht damit zufrieden. Versucht es weiter. Wählt einen anderen Weg», ermuntert Lutz die Jugendlichen. Die Idee dahinter: verstehen, wie das Programm funktioniert, wie es reagiert und allenfalls «überlistet» werden kann.

KI: gekommen, um zu bleiben

Die Schülerinnen und Schüler finden das Thema «megaspannend» und sind «echt gespannt», was noch kommen wird. Christoph und Jonah aus der 2. Sek haben keine Bedenken mit dem Programm. «Es gibt sehr genaue Antworten. Und man kann immer korrigieren, wenn etwas nicht stimmt.» Sophia und Laura aus der 3. Sek denken, dass KI uns alle beschäftigen wird. Deshalb sei es wichtig, es kritisch kennenzulernen. Aber: «Mit Kolleginnen schreiben ist persönlicher. Wenn es keine KI ist, muss ich den Text lesen, nachdenken und dann schreiben. Bei KI merkt man sofort, dass es eine Maschine ist. Die Antwort kommt sofort. Niemand kann so schnell lesen und denken. Und es ist ein ganz anderer Wortschatz.» Jonathan aus der 2. Sek fand es zuerst nicht so interessant und freut sich unterdessen auf jede Lektion. Und Nico aus der 3. Sek sieht in der KI die Zukunft. «Lernen wir das jetzt, müssen wir später nicht ins kalte Wasser springen.»

Die Zukunft ist offen, aber eines ist laut Michael Lutz gewiss: «KI wird nicht verschwinden. Deshalb können wir uns nicht verschliessen. Im Moment mag KI noch unterhaltsam sein. Was ist, wenn die Programme immer besser werden?» Die Herausforderung sei, dass die Schülerinnen und Schüler selbstbestimmt blieben. «Das heisst für uns Lehrpersonen, dass wir die Aufträge ändern und anpassen müssen.» In der nächsten Lektion wird er die KI-Bilderkennung thematisieren. Er wird mit der Klasse untersuchen, wie diese Erkennung funktioniert, wo (noch) Grenzen sind und schliesslich fragen: «Wollen wir uns damit begnügen oder kann man KI auch trainieren?» Immer mit der Idee dahinter, dass der Mensch bestimmt und nicht das Tool.
 

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