«Die Integration ist eine Errungenschaft unserer Gesellschaft»

Die neue Legislatur ist bereits die dritte für Bildungsdirektorin Silvia Steiner. Welche Themen und Projekte sie in den kommenden vier Jahren beschäftigen werden, wo man schon gut unterwegs ist und weshalb ihr die Bildung am Herzen liegt, erklärt sie im Gespräch.

Text: Jacqueline Olivier    Foto: Günter Bolzern

Sie beginnen Ihre dritte Amtszeit als Bildungsdirektorin. Was motiviert Sie?

In den vergangenen Jahren haben wir viele Projekte angestossen, die jetzt umgesetzt werden, etwa die Stärkung des Kindergartens, die Bündelung von Fachwissen und Ressourcen bei den Berufsfachschulen oder unsere Vorschläge im Bereich der Frühen Förderung, die darauf abzielen, allen Kindern gute Startchancen zu ermöglichen. Diese Projekte voranzubringen, ist mir ein grosses Anliegen. Zudem habe ich nach wie vor viel Freude an meiner Arbeit mit Bildungsthemen, die letztlich den Kindern, Jugendlichen und Familien zugutekommt. Freude bereitet mir auch die Zusammenarbeit mit meinem Team.

Im Wahlkampf war die Bildung ein zentrales und umstrittenes Thema – wie werten Sie das?

Es zeigt den grossen Stellenwert, den das Thema Bildung in der Bevölkerung hat. In der Bildung können alle mitreden – was auch gut ist, denn Bildung ist eine enorm wichtige Basis unserer Gesellschaft. Und sie betrifft alle – Schulkinder und Eltern, junge Menschen in Ausbildung oder im Studium, Erwachsene in Form des lebenslangen Lernens. Wenn alle mitreden, ist dies ein Zeichen einer hohen demokratischen Legitimation.

Bildungsdirektorin Silvia Steiner im Gespräch mit einer Journalistin des Schulblatts
Bildungsdirektorin Silvia Steiner: «Je früher die Förderung einsetzt, desto besser gelingen der Einstieg in die Schule und die weitere Bildungslaufbahn.»

Hat das Interesse an der Bildung auch damit zu tun, dass man sie gern als wichtigste Ressource unseres Landes sieht?

Persönlich sehe ich das etwas anders: Nicht die Bildung ist unsere wichtigste Ressource, sondern die Menschen. Und das Interesse am Thema Bildung hat eben auch damit zu tun, dass es dabei immer um Menschen geht.

Der integrative Unterricht wurde im Wahlkampf – nicht zum ersten Mal – infrage gestellt. Lehrpersonen seien überlastet und das Lernniveau werde nach unten nivelliert. Was antworten Sie jenen, die sagen, das Modell sei gescheitert?

Das würde ich klar bestreiten. Ich bin der Auffassung, dass man den Gedanken, welcher der integrativen Förderung und der Integration zugrunde liegt, nicht leichtfertig aufs Spiel setzen darf. Die Integration ist eine Errungenschaft unserer Gesellschaft. Sie ist auch durch das übergeordnete Recht in Form des Behindertengleichstellungsgesetzes sowie der UN-Menschenrechtskonvention, die die Schweiz ratifiziert hat, vorgegeben. Wir haben also einen gesetzlichen Auftrag. Die Integration beginnt schon bei den Kleinsten, sie lässt sich nicht aufschieben auf die Zeit nach der Schule. Dass die damit verbundenen Fragestellungen die Lehrpersonen stark beanspruchen, verstehe ich. Darum müssen wir gemeinsam nach Wegen und Mitteln suchen, um dem zu begegnen. Nach wie vor kennen wir im Kanton Zürich auch das Modell der Kleinklassen, und wir achten darauf, dass Lehrpersonen genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, die sie in schwierige Lernsituationen investieren können.

Dennoch machen Lehrpersonen regelmässig Überlastung geltend. Mit dem neuen Berufsauftrag sollen ihre Arbeitsbedingungen verbessert werden. Welches sind die wichtigsten Punkte, die zur Entlastung der Lehrpersonen beitragen sollen?

Wir haben im Kanton Zürich viele Lehrpersonen, die zufrieden sind mit ihrem Beruf und hervorragende Arbeit leisten, auch dann, wenn sie mit schwierigen Situationen konfrontiert sind. Das Ziel der kantonalen Behörden muss es sein, die Rahmenbedingungen für die Schulen so zu definieren, dass qualitativ hochstehender Unterricht in einem positiven Lernklima möglich ist. Ein wichtiger Punkt ist sicher, dass die Lehrpersonen genügend Zeit haben für ihr Kerngeschäft. Das wollen wir mit dem neuen Berufsauftrag, der nun in der Vernehmlassung ist, erreichen.

Geht es dabei um die administrativen Aufgaben, von denen es seitens Schulen immer wieder heisst, sie nähmen zu viel Zeit in Anspruch?

Das auch – die Lehrpersonen sollen von gewissen administrativen Aufgaben befreit werden. Vor allem aber geht es darum, die Komplexität des Arbeitszeitmodells zu reduzieren und die Klassenlehrpersonen zu stärken. Zudem werden die Pensen der Schulleitungen erhöht. Ein wichtiger Grundgedanke des neuen Berufsauftrags ist es, vermehrt auf das Team zu setzen. Denn gemeinsam ist man stärker, und gemeinsam
hat man mehr Ressourcen.

Bis der Berufsauftrag Gültigkeit erlangt, werden noch Jahre vergehen. Gibt es kurzfristige Massnahmen, mit denen man die Situation der Lehrpersonen jetzt schon verbessern kann?

Der Kanton kann generelle, übergeordnete Vorgaben machen, wie man diese umsetzt, liegt in der Verantwortung der Schulen und der kommunalen Behörden. Dort besteht durchaus Spielraum, zielführende Massnahmen zu ergreifen. Administrative Arbeiten beispielsweise können auch ausgelagert werden. Mit solchen Massnahmen können Gemeinden die Schulen und insbesondere die Lehrpersonen entlasten.

Die Flüchtlingsbewegungen einerseits und die Zuwanderung bildungsaffiner Familien andererseits sorgen für immer heterogenere Klassen. Die Herausforderung, jedem Kind gerecht zu werden, wird immer grösser. Wie können Lehrpersonen in dieser täglichen Arbeit unterstützt werden?

Ich bin der Meinung, dass der bewusste Umgang mit den Ressourcen, aber auch der Weg, den wir in den vergangenen 20 Jahren beschritten haben, hin zum individualisierten Unterricht, die Lösung ist, um dieser Heterogenität zu begegnen. Natürlich braucht es auch hier gute Rahmenbedingungen. Aber die Werkzeuge sind grundsätzlich vorhanden.

Eine wichtige Massnahme ist sicher die Sprachförderung, und diese sollte möglichst früh beginnen. Wie kann diese Förderung bereits vor Schuleintritt gestaltet werden?

Im vergangenen Sommer haben wir eine grosse Kita-Vorlage vorgestellt, die auch die Frühe Förderung beinhaltet. Denn tatsächlich ist diese ein Kernelement – je früher die Förderung einsetzt, desto besser gelingen der Einstieg in die Schule und die weitere Bildungslaufbahn. Wir hoffen deshalb, dass unsere Vorlage die Gemeinden dazu motiviert, Angebote für die Deutschförderung in Spielgruppen oder in Kitas aufzubauen und weiterzuentwickeln.

Angebote der Frühen Förderung sind freiwillig. Wie gelingt es, möglichst viele Familien zu erreichen, insbesondere die sozial schwachen?

Man muss solche Familien gezielt unterstützen, damit solche Angebote für sie bezahlbar sind. Darum sieht unsere Vorlage auch Krippenvergünstigen für die betroffenen Familien vor. In der Kita oder der Spielgruppe bekommen Kinder andere Impulse als im Elternhaus, die Teilnahme an einem solchen Angebot bedeutet für sie eine wichtige Horizonterweiterung. Gerade Kinder, für die Deutsch nicht die Muttersprache ist, können davon stark profitieren. Für mich geht es bei der Kita-Vorlage nicht nur darum, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen. Die Vorlage ist auch eine Kindesschutzmassnahme, wenn es um gefährdete Kinder mit einem schwierigen sozialen Umfeld geht.

Viel zu reden gibt zurzeit auch der Lehrermangel. Seit letztem Sommer sind an verschiedenen Schulen Personen ohne Lehrdiplom im Einsatz. Wie gut funktioniert das?

Die Rückmeldungen, die mich erreichen, sind weitgehend positiv. Sicher benötigt eine Person ohne Lehrdiplom Unterstützung durch das Team, was für dieses einen gewissen Mehraufwand bedeutet. Aber solche Personen sind auch eine Bereicherung, denn sie bringen nicht selten eine völlig neue Optik aus anderen Lebensbereichen in den Schulalltag ein. Und für einige unter ihnen war es auch die Chance, ihren Traumberuf ergreifen zu können.

«Die Lehrpersonen sollen genügend Zeit haben für ihr Kerngeschäft.»

Bildungsdirektorin Silvia Steiner

Für das kommende Schuljahr wird man wieder auf Personen ohne Lehrdiplom zurückgreifen müssen. Wird dies nun zum Regelfall?

Mit den Personen ohne Lehrdiplom haben wir eine Massnahme geschaffen, auf die Gemeinden zurückgreifen können, wenn sie es als nötig erachten. Sie ermöglicht den Gemeinden mehr Flexibilität bei der Besetzung ihrer Stellen.

Trotzdem: Wie wollen Sie mittelfristig dafür sorgen, dass der Beruf wieder an Attraktivität gewinnt und sich mehr junge Leute für ein Studium an der Pädagogischen Hochschule entschliessen?

Ich habe ein Problem mit dem Wort «wieder». Die Statistiken zeigen klar, dass die Zahl der Studierenden in diesem Berufsfeld stark steigt. Zwischen 2017 und 2021 verzeichnete die Pädagogische Hochschule Zürich über 40 Prozent mehr Studierende. Zudem ist für die neue Gruppe der Personen ohne Lehrdiplom die Zulassung «sur dossier» geschaffen worden und es wird berufsbegleitende Lehrgänge geben. Was man aber auch wissen muss: In den vergangenen Jahren kamen im Kanton Zürich pro Jahr 150 bis 200 neue Klassen hinzu. Die dafür benötigten Lehrpersonen wurden an der PH Zürich ausgebildet, sodass wir die Stellen bis vor Kurzem immer besetzen konnten. Das zeigt für mich, dass der Lehrberuf sehr attraktiv ist und sich viele junge Menschen für diesen Beruf entscheiden. Und das, obwohl wir zurzeit in diversen Branchen einen Fachkräftemangel haben und den jungen Leuten somit andere Optionen offenstehen würden.

Ein spezielles Augenmerk wurde in den vergangenen Jahren auf die Stufenübertritte gelegt, damit diese für die Schülerinnen und Schüler keine Stolperschwellen bedeuten. Wo steht man heute und wo sehen Sie allenfalls noch Handlungsbedarf?

Die Gefässe für den regelmässigen Austausch zwischen den Stufen sind geschaffen, nun liegt es an den verschiedenen Personengruppen, sie zu nutzen und in den Alltag zu integrieren. Man wird diese Gefässe und die Übergänge pflegen müssen und schauen, dass der stufenübergreifende Dialog aufrechterhalten bleibt. Denn schon die frühe Kindheit hat etwas damit zu tun, wie eine Schulkarriere eines jungen Menschen verläuft. Dieses Verständnis von Bildung als Einheit über alle Stufen hinweg haben die Schulen heute auch.

Dennoch haben alle Stufen auch ihre eigenen Herausforderungen. An den Gymnasien zum Beispiel wird der Fächerkanon laufend erweitert, gleichzeitig liegt der Fokus immer stärker auf den überfachlichen Kompetenzen – Stichwort Projektarbeit, Interdisziplinarität, selbstorganisiertes Lernen und so weiter. Ist dieser Spagat für die Schulen zu schaffen?

Die Gymnasien sind momentan stark gefordert, sich mit der Kompetenzorientierung auseinanderzusetzen. Im Kanton Zürich machen sich die Gymnasien derzeit viele Gedanken darüber, wie das Lehren und Lernen von morgen aussehen soll. Etwa, dass ein starker Fokus auf der Kompetenz liegen sollte, komplexe Probleme lösen zu können – über die Disziplinen hinweg. Diesen Fokus finde ich ganz zentral. Wir müssen die jungen Leute heute nicht mehr dazu befähigen, historische Daten auswendig zu kennen, sondern vielmehr zu erkennen, warum ein historisches Datum bedeutsam ist, in welchem Kontext es steht und welche Auswirkungen es auf aktuelle Problemstellungen hat. Wenn man in diese Richtung weitergeht, wird man von der Fächervielfalt wegkommen und stattdessen problembezogen gewisse Disziplinen zusammen betrachten.

Sie haben es schon erwähnt: Die Wirtschaft kämpft momentan mit einem Fachkräftemangel, Lehrbetriebe haben es zum Teil schwer, ihre Lehrstellen zu besetzen. Ist zu erwarten, dass es mit den steigenden Schülerzahlen in absehbarer Zeit wieder zu einem Lehrstellenmangel kommen wird?

Das hoffen wir natürlich nicht, aber tatsächlich werden nach unseren Berechnungen bis 2040 etwa 10 000 Lehrstellen mehr benötigt. Damit diese Ausbildungsplätze dann auch zur Verfügung stehen, haben wir 2021 zusätzliche Mittel für die Berufsbildung gesprochen. Einerseits sollen damit die Berufsbildungsforen gestärkt werden – die regionalen Vereine, welche die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure der Berufsbildung fördern. Andererseits bauen wir im Mittelschul- und Berufsbildungsamt ein Lehrstellenmarketing auf. Zudem arbeiten wir eng mit dem Gewerbe und der Wirtschaft zusammen, um sie zu ermutigen, neue Lehrstellen zu schaffen. Dies ist auch in ihrem Interesse, denn um dem Fachkräftemangel zu begegnen, müssen sie genügend Fachkräfte ausbilden. Dieses Bewusstsein ist in der Wirtschaft durchaus vorhanden.

Heute haben über 90 Prozent der jungen Erwachsenen einen Abschluss auf Sekundarstufe II. Ein Bildungsziel der EDK ist es, diesen Anteil auf 95 Prozent zu erhöhen – wie will man dieses Ziel erreichen?

Ich sehe auch hier einen wichtigen Ansatz bei der Frühen Förderung. Bei den Jüngsten anzusetzen, bedeutet, ihre Chancen für eine erfolgreiche Bildungslaufbahn zu erhöhen. Deshalb ist die Frühe Förderung ein Schwerpunkt unserer aktuellen Legislaturziele. Auswirken werden sich die entsprechenden Massnahmen aber erst in etwa zehn Jahren. Bereits heute können wir aber auf unser durchlässiges Bildungssystem setzen, das es ermöglicht, jederzeit eine andere Richtung einzuschlagen oder eine Weiterbildung für einen nächsten Karriereschritt zu absolvieren. Dank dieses Systems und mithilfe der Frühen Förderung werden wir das Ziel von 95 Prozent – das sicher ehrgeizig ist – erreichen.

Der digitale Wandel verändert die Berufswelt gerade stark. Die Schulen müssen damit Schritt halten, doch Veränderungen in den Schulen brauchen in der Regel Zeit. Kann dieser Wettlauf mit den rasanten Entwicklungen überhaupt gewonnen werden?

Der digitale Wandel ist zweifellos ein grosses Thema für die Schulen aller Stufen, das sie anpacken müssen und auch wollen. Unterstützt werden sie dabei von den Fachleuten unserer internen Kompetenzzentren – der Fachstelle Bildung und ICT im Volksschulamt und dem Digital Learning Hub im Mittelschul- und Berufsbildungsamt. Der Regierungsrat hat ausserdem sehr viele Ressourcen gesprochen, um die Digitalisierung in den Schulen voranzutreiben. In meinen Augen kann die Digitalisierung aber kein Wettlauf sein. Sie ist vielmehr ein ständiger Prozess und eine Unterstützung für die Menschen, die sich in unserer Gesellschaft bewegen. Digitale Tools sind letztlich ein Hilfsmittel. In den Schulen muss man sicher unterscheiden, wo sie den Unterricht unterstützen und ergänzen und wo sie weniger sinnvoll sind.

Digitalisierung, Bevölkerungswachstum, Klimakrise, geopolitische Verwerfungen – die Welt steht vor grossen Herausforderungen und die Gesellschaft sieht sich mit diversen Unsicherheiten konfrontiert. Welche Rolle kann und muss die Bildung in solchen Zeiten spielen?

Die Unsicherheiten haben ja vor allem damit zu tun, dass man für diese Probleme keine Lösungen hat. Deshalb müssen wir die jungen Menschen dazu befähigen, vernetzt und übergreifend zu denken, um sich in dieser komplexen Welt zurechtzufinden und zu sehen, dass es Lösungen gibt. Der andere Punkt ist, dass wir die Schulen als sozialen Ort verstehen müssen, an dem Kinder und Jugendliche aus Familien mit verschiedenen sozialen und ökonomischen Hintergründen, Familienmodellen und Lebensstilen zusammenkommen. Dies müssen wir als Chance sehen, weil es das gegenseitige Verstehen ermöglicht und fördert. Und wenn man etwas kennt oder versteht, ist man viel sicherer. Unsicherheiten entstehen immer aus Unwissen. Die Stärke der Bildung ist es, Unsicherheiten mithilfe von Wissen abzubauen und so den Weg für Lösungen zu ebnen.

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