Know-how erhalten

Lernende in einem Einmann- oder Einfraubetrieb auszubilden, ist oftmals ein Ding der Unmöglichkeit. Gerade bei Kleinstberufen geht deshalb die Zahl der Lehrstellen zurück. Das «Netzwerk Kleinstberufe» will nun bessere Bedingungen schaffen.

Text: Sabina Galbiati    Foto: Hannes Heinzer

Bauwerktrenner, Holzhandwerkerin, Küfer oder Blasinstrumentenbauerin, diese Berufe haben eines gemeinsam: Sie gehören zu den sogenannten Kleinstberufen in der Schweiz – seltene Berufe, in denen heute maximal 40 Lehrstellen in den dreijährigen und 60 in den vierjährigen Ausbildungen zur Verfügung stehen. Rund 60 der gut 250 verschiedenen Berufslehren, unter denen die Jugendlichen in der Schweiz wählen können, fallen in diese Kategorie. Oft verfügen diese Berufe über ein einziges, nationales Ausbildungszentrum. Kommt hinzu, dass viele Betriebe dieser Berufe von einer Person allein geführt werden. Lernende auszubilden, ist dann praktisch unmöglich. Haben grössere Branchen aufgrund des Fachkräftemangels Mühe, Lehrstellen zu besetzen, ist bei Kleinstberufen nicht selten das Gegenteil der Fall: Die Nachfrage ist vorhanden, doch gibt es zu wenig Lehrstellen.

Nina Spiri von Musik Spiri an der St. Georgenstrasse in Winterthur kennt die Herausforderungen der Ausbildung in Kleinstberufen bestens. Sie leitet das Geschäft für Blasinstrumente und bildet in ihrem Betrieb jeweils ein bis zwei Lernende zu Blasinstrumentenbauerinnen oder -bauern aus. Pro Jahr starten schweizweit gerade mal drei bis sieben Jugendliche in dieser Ausbildung. «Lernende müssen gut begleitet werden, was für Klein- oder Kleinstbetriebe oft nicht zu stemmen ist», erklärt Spiri. «Die Ausbildung braucht viel Zeit, die in einem Einpersonenbetrieb oft fehlt – beispielsweise, weil man gleichzeitig die Kundschaft bedienen und beraten oder die Buchhaltung machen sollte.» Komme hinzu, dass gerade in Handwerksberufen genügend Raum für einen zusätzlichen Arbeitsplatz in der Werkstatt zur Verfügung stehen müsse. Das bedeutet höhere Mietkosten, die sich ein Einpersonenbetrieb oftmals nicht leisten kann. «Letztlich darf auch der administrative und finanzielle Aufwand nicht unterschätzt werden», betont Nina Spiri.
 

Eine Mitarbeitende und eine Lernende schauen sich in einer Werkstatt ein Blasinstrument an.
Nina Spiri (links) von Musik Spiri in Winterthur bildet pro Jahr ein bis zwei Blasinstrumentenbauerinnen oder –bauer aus und weiss: Der zeitliche, organisatorische und administrative Aufwand der Ausbildung ist für Kleinstbetriebe nicht einfach zu stemmen.

Das Geschäft in Winterthur ist gross. Hier verteilt sich die Betreuung auf mehrere Personen. Doch vor acht Jahren hat Musik Spiri zwei zusätzliche Standorte, in Meilen und Gossau SG, übernommen, wo jeweils lediglich ein bis drei Angestellte arbeiten. «Die Betriebe hatten aus den genannten Gründen damals keine Ausbildungsplätze.» Auf diese legt Spiri, die im Vorstand des Verbandes der Schweizerischen Blasinstrumentenbauer (VSB) ist, jedoch grossen Wert. «Wir schätzen die neuen Inputs und Perspektiven, die junge Leute einbringen, und wollen sie fördern.» Um an den beiden neuen Standorten ebenfalls je eine Lehrstelle anbieten zu können, mussten sie und ihr Team Umstellungen in den Betrieben vornehmen.

Betriebe sind kleiner geworden

Ortswechsel: Am Münsterhof in Zürich bildet Mario Petrocchi in der Messerer Juwelier AG eine junge Goldschmiedin aus. Mila Ünala steht kurz vor der Abschlussprüfung. Petrocchi hat bereits mehrere alte Aufgabenstellungen für die praktische Prüfung gesammelt. Als Erstes muss die junge Frau einen Ring herstellen nach den exakten Angaben auf dem Prüfungsblatt. 32 Stunden hat sie dafür Zeit – rund vier Arbeitstage, in denen sie keine regulären Arbeiten im Betrieb erledigen kann. Bis zum Sommer wird sie immer wieder mal solche Prüfungsaufgaben als Übung lösen. «Wir haben Mila mitten während der Ausbildung zu uns geholt, weil im Vorgängerbetrieb einfach nicht genug Ressourcen für die Betreuung vorhanden waren», erzählt Mario Petrocchi. «Unser Betrieb ist relativ gross und damit eine Ausnahme.» Vier Goldschmiede inklusive der Inhaberin und zwei Fachverkäuferinnen arbeiten im Juweliergeschäft am Münsterhof. «In den vergangenen Jahren und Jahrzenten sind die Betriebe immer kleiner geworden. Statt Grossbetriebe, in denen teilweise bis zu vier Lernende ausgebildet wurden, haben wir heute viele Einpersonenbetriebe.»
 

Ein Mitarbeiter und eine Lernende stehen vor einer Werkbank .
Mario Petrocchi, Ausbildungsverantwortlicher bei der Messerer Juwelier AG in Zürich, sagt, der Beruf, und damit die Ausbildung, sei in den vergangenen Jahren komplexer geworden.

Komplexität nimmt zu

Im Vergleich zu anderen Kleinstberufen stehen die Goldschmiede mit 40 bis 50 neuen Lehrstellen pro Jahr zwar noch sehr gut da. Doch gemessen etwa am Schreinerberuf mit über 1000 neuen Lehrstellen jährlich sind es dennoch extrem wenige. Im Gespräch zählt Petrocchi dafür dieselben Gründe auf wie Spiri in Winterthur. Doch nicht nur seien die Betriebe geschrumpft, der Beruf, und damit die Ausbildung, sei im Laufe der vergangenen Jahre komplexer geworden. «Beispielsweise hat sich die Technologie weiterentwickelt: Neben der klassischen Handarbeit fertigt ein Goldschmied Schmuckmodelle heute auch mithilfe von 3D-Programmen an.» Kleinstbetriebe könnten deshalb oft gar nicht alle Bereiche der Ausbildung abdecken, etwa weil sie kein 3D-Programm nutzten. Ein weiterer Punkt, den Petrocchi ins Feld führt, ist die Flexibilität. Wer ein Goldschmiede-Atelier in Eigenregie führt, arbeitet vielleicht nur 80 Prozent, hat kürzere Öffnungszeiten und kann sich seine Betriebsferien nach eigenem Gusto einrichten. «Will man einen Ausbildungsplatz anbieten, muss man diese Flexibilität grösstenteils aufgeben.»

Für Nina Spiri und Mario Petrocchi ist die Ausbildung eine Herzensangelegenheit: Zum einen macht es ihnen Freude, junge Menschen auszubilden, zum anderen sind sie überzeugt, dass das kulturelle Gut und noch mehr das Know-how der Kleinstberufe hierzulande nicht verloren gehen darf. Man denke nur an Berufe wie Hufschmied, Seilbahnmechatroniker, Steinmetz, Klavier- oder eben Blasinstrumentenbauer. «In Winterthur bauen wir Trompeten», sagt Spiri. «Wenn das verloren geht, ist das schade, aber verkraftbar», meint sie pragmatisch und fügt hinzu: «Wenn wir die Musikinstrumente der Profimusikerinnen und -musiker aber nicht mehr warten und reparieren, gibt es keine gute Orchestermusik mehr.»

Ressourcen bündeln

Romain Rosset, Präsident des Vereins «Netzwerk Kleinstberufe», drückt es so aus: «Es braucht nicht sehr viele Hufschmiede, Geigenbauerinnen oder Küferinnen, aber die, die es gibt, die braucht es.» 2019 wurde deshalb der Verein «Netzwerk Kleinstberufe» offiziell aus der Taufe gehoben (siehe Kasten). Bereits 14 Berufsverbände, die insgesamt 23 Kleinstberufe vertreten, haben sich dem Netzwerk angeschlossen. Diese Verbände sind meist sehr klein und ehrenamtlich geführt im Gegensatz etwa zum Verband Schweizerischer Schreinermeister und Möbelfabrikanten mit einer eigenen Geschäftsstelle. Dennoch gibt es auch Ausnahmen wie etwa die Goldschmiede, die vergleichsweise viele Lernende haben. «Wir sind natürlich auch froh um Berufsverbände, die etwas grösser sind, denn sie geben dem Netzwerk mehr Gewicht gegenüber Dritten», sagt der Präsident.

Er hofft, dass man in naher Zukunft noch weitere Verbände für das Netzwerk gewinnen kann. Denn mit den gebündelten Ressourcen organisiert der Verein beispielsweise Auftritte an Berufsmessen und den Swiss Skills, um auf seltene Berufe aufmerksam zu machen. «Die Teilnahme als einzelner Berufsverband können sich die meisten unserer Verbände finanziell nicht leisten», macht Romain Rosset klar. Darüber hinaus vertritt das Netzwerk die Interessen dieser Berufe gegenüber den Berufsbildungsbehörden von Bund und Kantonen. «Letzteres ist nicht zuletzt wegen der finanziellen Mehrbelastung ein wichtiger Aspekt unserer Arbeit», erklärt Rosset. «Die Finanzierung der überbetrieblichen Kurse wie auch der Berufsschule ist ein wichtiges Thema, denn die Kosten verteilen sich auf nur wenige Lernende, was dazu führt, dass betroffene Lehrbetriebe sehr viel mehr für die Ausbildung bezahlen als etwa ein Schreinermeister.»

Im Verbund geht es besser

Ein weiteres Projekt sind die sogenannten Lehrbetriebsverbünde: Der Verein bietet Hilfestellung, damit zwei oder drei Kleinstbetriebe gemeinsam eine Lehrstelle anbieten können. Solche Verbünde sollen auch überkantonal möglich werden, was aufgrund der unterschiedlichen finanziellen Beiträge der Kantone nicht ganz einfach ist. «So können wir Lehrstellen sichern und wo nötig im besten Fall neue schaffen», meint Rosset. Im Verbund werden Lehrbetriebe finanziell entlastet und die Lernenden haben die Möglichkeit, in mehrere Betriebe Einblick zu erhalten und die gesamte Bandbreite an Fertigkeiten zu erlernen. «Solche Lehrbetriebsverbünde existieren heute schon, unter anderem bei Drechslern oder den Goldschmieden, und sie zeigen, dass es gut funktioniert.»

Auch bei Musik Spiri mit seinen drei Standorten erhalten die Lernenden durch einen vorübergehenden Arbeitsortwechsel Einblick in die verschiedenen Betriebe. «Wir machen damit sehr gute Erfahrungen, und ich weiss von anderen Musikgeschäften, die das ebenfalls so handhaben», erzählt Nina Spiri. Goldschmied Petrocchi sieht in solchen Verbünden zudem eine grosse Chance für die Betriebe selbst: «Durch den Austausch der Lernenden findet automatisch auch ein Wissensaustausch unter den Betrieben statt und sie können vom gegenseitigen Know-how profitieren.» Es ist also für alle Beteiligten quasi eine Win-win-Situation.
 

Vom Pilotprojekt zum selbsttragenden Verein

2014 finanzierte der Bund das Projekt «Traditionelles Handwerk mit Zukunft – Swiss Skills Bern 2014». Nach erfolgreichem Abschluss unterstützte das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) das Netzwerk Kleinstberufe während einer Pilotphase von März 2016 bis Februar 2017. Zudem finanzierte es von 2016 bis 2020 die Projektstudie «Tragfähiges Netzwerk für Kleinstberufe». Aus dieser Studie ging der Verein «Netzwerk Kleinstberufe» hervor, der inzwischen selbsttragend ist.