Theater stärkt überfachliche Kompetenzen

Ein eigenes Stück entwickeln und es auf die Bühne bringen: Eine 6. Klasse der Primarschule Oberengstringen hat das Abenteuer gemeinsam mit ihrer Lehrerin und einer Theaterpädagogin gewagt.

Text: Andreas Minder, Fotos: Dieter Seeger

«Wir sind jetzt in der heissen Phase», sagt Klassenlehrerin Maja Klemm. Es ist Montagmorgen, heute beginnt die letzte Woche des Theaterprojekts «Toi toi toi!», eines Angebots der Fachstelle Schule+Kultur des Zürcher Volksschulamts (siehe Kasten). Das Stück ist fast fertig. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich nur noch eine passende Schlussszene für ihr Werk ausdenken. Das letzte Bild, bevor der Vorhang fällt, soll das Publikum beeindrucken.

13 Sechstklässlerinnen und -klässler zählt die Halbklasse 6c vom Schulhaus Lanzrain in Oberengstringen. Beim Besuch des «Schulblatts» haben sie sich im Singsaal versammelt, einige mit Gruselmasken, Beatriz trägt ein blutverschmiertes Hemd, Luca einen schwarzen Dracula Umhang. «Leichen im Keller» heisst das Stück, das die jungen Schauspieler am Donnerstag ihren Eltern und Verwandten vorspielen wollen.

Mental wach werden

«Die Klasse hat sich unisono für das Thema Halloween ausgesprochen», sagt Theaterpädagogin Daniela Bolliger. «Wenn ein so klarer Wunsch da ist, hat es keinen Sinn, Gegensteuer zu geben.» Was nicht bedeute, dass sie bei der Entwicklung des Stücks alles zulasse. «Auf der Mittelstufe orientieren sich die Jugendlichen gerne an Horror- und Actionfilmen und möchten am liebsten Mord und Totschlag.» Bolliger lenkt die Handlung in unblutigere Bahnen. «Der Inhalt sollte einen Bezug zu ihrer Lebenswelt haben.» Alles trägt sich nun an einer Halloweenparty zu, an der sich die Gäste gegenseitig erschrecken, unter anderem, indem sie sich tot stellen.

Das macht den Kindern Spass, sie spielen begeistert mit, es wird gescherzt und gelacht. «Die Klasse funktioniert sehr gut, sie ist sehr offen, sehr einsichtig», sagt Bolliger. Für dieses Alter sei das nicht selbstverständlich. «In der Vorpubertät kann es schwierig werden, weil Theaterspielen nicht cool genug ist.» Die 6c habe sich jedoch auf alles eingelassen. Wohl auch deshalb, weil das Spielen für die Klasse nicht ganz neu ist. «Ich baue im Unterricht immer wieder solche Elemente ein», sagt Lehrerin Maja Klemm. Allerdings müssten sie sich dort weniger exponieren als im Theaterprojekt. Damit dies die Kinder nicht überfordert, beginnt Bolliger jeden Tag mit einem «Warm-up»: Wachklopfen, Musik, Stimm- und Sprachübungen. Dabei geht es darum, körperlich und mental warm und wach zu werden. «Die Kinder sollen alles – sich selbst, den Raum und die anderen – einmal wahrgenommen haben», sagt Bolliger. Idealerweise seien sie dann präsent und blendeten aus, was vor der Probe war und was nachher kommt. Das sind die Voraussetzungen, um improvisieren zu können.

Schüler der Primarschule Oberengstringen bereiten sich auf die Aufführung des Theaterstücks vor, das sie selber entwickelt haben. Im Vordergrund sitzen bereits zwei von ihnen auf Stühlen, die mit einem Leintuch verhüllt sind. Sie haben beide eine Maske auf: Der Junge links trägt den «Schrei» von Edvard Munch. Der Junge rechts trägt eine etwas gruselige Clown-Maske.
Das Publikum soll sich gruseln: Die Handlung des Theaterstücks spielt an einer Halloweenparty.

Gruslige Geräusche finden

Zurück auf die Probebühne: Die Halloweenparty ist in vollem Gang, die Gäste plaudern miteinander, trinken, tanzen. Auf einmal wird es still, eigenartige Geräusche sind zu vernehmen. Es klopft, knurrt, quietscht, heult, man hört eine Flöte, dann ein gellender Schrei. Die Partygäste schrecken auf und nähern sich zögernd dem Vorhang im hinteren Teil der Bühne. Schliesslich wagen sie, einen Blick dahinter zu werfen. «Ach, ihr seids!», rufen alle leicht genervt. Die drei Gruselmusiker kommen grinsend ans Licht. Es war alles bloss ein Streich.

Daniela Bolliger bittet die Klasse, sich in einem Kreis hinzusetzen. Erstes Thema sind die Gruselgeräusche. «Sie sind nicht richtig unheimlich», findet Lehrerin Klemm und schlägt vor, die Flöte wegzulassen. Mischa glaubt, dass das Klopfen zu rhythmisch war, um schauerlich zu wirken. Emiliano ist überzeugt, dass das Heulen sparsamer eingesetzt werden sollte. «Okay, das schauen wir uns nachher noch in Ruhe an», sagt Bolliger und geht zum nächsten Thema über: Wie endet das Stück? Klar ist schon, dass der Titelsong des Films «Ghostbusters» laufen soll. Die Kinder tanzen dazu und wenn immer die Musik stoppt, erstarren sie in der Stellung, in der sie gerade sind. Und dann? «Wir könnten alle zusammen einen Kuchen essen», schlägt Ewa vor. «Oder wir könnten alle rufen: ‹Jetzt gehen wir Süssigkeiten sammeln!›», meint Konstatinos. Den Gesichtern der Schauspielerinnen und Schauspieler ist anzusehen, dass sie sich etwas Effektvolleres wünschen.

Motivation hoch halten

«Der Prozess ist immer sehr ähnlich», sagt Bolliger über Theater-Workshops wie «Toi toi toi!». Am Anfang seien die Teilnehmenden begeistert, weil sie frei spielen könnten. «Wenn es dann ans Üben geht, kommt meist ein kleiner Durchhänger.» Allerdings sei das nicht für alle Kinder gleich. «Einige improvisieren lieber, andere sind froh, wenn sie wissen, was sie machen und sagen müssen.» Für alle gelte jedoch, dass es kurz vor der Aufführung noch einmal einen «Boost» gebe. In dieser Phase befindet sich die Klasse 6c. 

Die Frage, ob ihnen das Theaterprojekt gefalle, bejahen die Schülerinnen und Schüler ausnahmslos. Für Ewa ist es spannend, selbst eine Geschichte erfinden zu können. Aber nicht nur. Ihr gefällt es, ihre Rolle zu lernen und die Kostüme zusammenzustellen. Konstatinos mag vor allem das Improvisieren und findet das Proben anstrengend. Diana findet die Tanz- und Erstarrszene toll, während Emira erzählt, wie sich das Verhalten der Klasse verändert hat: «Am Anfang waren wir viel mehr am Lachen, jetzt sind wir konzentrierter.» Emiliano hat es Spass gemacht, zusammen mit der Klasse etwas zu machen. Und Emira ist in Gedanken schon bei der Vorstellung: «Hoffentlich klatschen sie im richtigen Moment.»

Die Schülerinnen und Schüler einer 6. Primarschulklasse in Oberengstringen reflektieren das Theaterstück, das sie gerade entwickeln. Alle hören konzentriert zu. Den Sprecher oder die Sprecherin sieht man im Bild jedoch nicht.
Zwischendurch wird das Gespielte reflektiert und über Optimierungen beraten.

Zusammenhalt verbessern

Für Lehrerin Maja Klemm ist Theater ein «grossartiges Lernfeld». «Es passiert unheimlich viel mit den überfachlichen Kompetenzen einer Klasse», sagt sie. Der Klassenzusammenhalt und die Interaktion untereinander verbesserten sich. «Das sind ganz wichtige Skills für die Zukunft.» Der Workshop ermögliche es den Schülerinnen und Schülern zudem, «sich anders, sinnlich, zu erleben». Das fehle in vielen schulischen Situationen. Theaterspielen sei ausserdem besonders für Kinder eine Chance, deren Lernwillen wegen negativer Schulerfahrungen gedämpft sei. «Die leistungsfreie Theatersituation eröffnet ihnen einen neuen Raum.»

Die gut zehn Tage, die in das Projekt gesteckt werden, betrachtet Klemm als vollwertige Schulzeit. Es helfe ihr auch bei der Gesamtbeurteilung der Schülerinnen und Schüler, die kurz vor dem Übertritt in die Oberstufe stehen. Sie setzt sie nicht unter Druck, um verpassten Stoff nachzuholen. Ihr ist aber bewusst, dass es Erfahrung und Mut braucht, um solche Abstriche am Programm zu machen – und die Unterstützung der Schulleitung. Letzteres auch deshalb, weil das Angebot nicht gratis ist. Dass sich ein solches Theaterprojekt lohnt, ist für Klemm keine Frage: «Es ist etwas unglaublich Tolles, das ich jeder Lehrperson in der Mittelstufenzeit empfehle.»

Endlich ein Schluss

«Scheisse, in meinem Keller liegt ’ne Leiche», dröhnt es durch den Singsaal. Die 13 Partygäste tanzen zur Musik der Berliner Band SDP wild durcheinander, einer davon zu wild: Alis Socken rutschen auf dem glatten Parkett weg und er fällt der Länge nach hin. Alle schauen zu ihm hinunter. «Geht’s?» Ali lacht nur und steht wieder auf: «Easy, nichts passiert.» Kaum ist der Schreckmoment vorbei, sagt Theaterpädagogin Daniela Bolliger: «Wie wär’s, wenn du absichtlich stolpern würdest?» Ali ist sofort einverstanden – eine schöne Gelegenheit, den Zuschauerinnen und Zuschauern einen echten Schrecken einzujagen. «Und, dann stehe ich auf und sage: ‹So, jetzt essen wir Kuchen.›» Erleichtertes Lachen des Publikums, Applaus, Vorhang. Endlich: Der Schluss ist geboren.

Kulturvermittlung für alle Schulstufen

Die Fachstelle Schule+Kultur Kanton Zürich will Schülerinnen und Schülern Kunst und Kultur näherbringen. Sie ermöglicht Schulklassen die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen, bringt Kinder und Jugendliche in Kontakt mit Kulturschaffenden und regt sie dazu an, selbst künstlerisch tätig zu werden. Zum Angebot gehören Workshops, Projekttage oder -wochen in den Bereichen Theater, Tanz, Musik, Film, Literatur und bildende Kunst. «Toi toi toi! » ist eines von vielen Theaterprojekten im Angebot.

Schule+Kultur gehört zur Abteilung Pädagogisches im Volksschulamt und arbeitet für die Volks-, Mittel- und Berufsfachschulen und das Berufsvorbereitungsjahr. Die Fachstelle unterstützt Schulleitungen und Lehrpersonen bei der Planung und Umsetzung von Kulturprojekten fachlich und finanziell. [red]