Er liebt das Gedruckte

Als Verlagsleiter hat sich Dirk Vaihinger in der Literaturszene einen Namen gemacht. Seit Mai 2022 führt er den Lehrmittelverlag Zürich in die Zukunft.

Text: Pascal Turin, Foto: Stephan Rappo

Sein Blick schweift aus dem Fenster. Hinter dem Verlagshaus lassen zwei Männer eine Drohne steigen. Dirk Vaihinger ist seit Mai 2022 Leiter des Lehrmittelverlags Zürich (LMVZ). Der LMVZ hat seine Räumlichkeiten im Industriequartier Binz, das zum Stadtzürcher Kreis 3 gehört. Hier sind neben Gastrobetrieben und Tanzschulen Start-ups aus der IT-Branche zu finden. «Es ist natürlich ein spannendes Umfeld für einen Lehrmittelverlag», sagt Vaihinger lächelnd und fügt an: «Der Lärm der Drohnen stört aber, wenn im Sommer das Fenster offen ist.»

Als Start-up gilt der 1851 gegründete Verlag nicht mehr, vielleicht färben aber die jungen Unternehmen in der Umgebung etwas ab. «Die Digitalisierung ist für den LMVZ von entscheidender Bedeutung», erklärt Dirk Vaihinger. Erklärvideos oder Onlineübungen gehörten bei neuen Lehrmitteln standardmässig dazu. Der Verlag hat zudem ein vereinfachtes Digital-Login entwickelt. Dank diesem können sich Schulkinder auf der Lernplattform des Verlags im Internet einloggen, ohne sich ein Passwort merken zu müssen – ihre Daten bleiben trotzdem geschützt.

Der 56-Jährige selbst ist weniger Generation Tablet, sondern ein Mann für das Gedruckte. Auf seinem Nachttisch stapeln sich Bücher. Einen E-Reader findet man dort nicht. Aktuell liest er die Lebenserinnerungen «Jeder für sich und Gott gegen alle» von Werner Herzog, die Neuerscheinung «Die Mauersegler» von Fernando Aramburu oder die drei Bände der Kopenhagen-Trilogie von Tove Ditlevsen. «Ich bin zu ungeduldig, um mich nur einem Buch zu widmen», sagt Vaihinger, der von seinem Zuhause in Zollikon jeden Tag mit dem Velo – ohne Elektroantrieb – ins Büro fährt. 

Die Liebe zur Literatur zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben. Den ersten Job in der Branche erhielt der Wahl-Zolliker als Lektor beim Rowohlt Buchverlag in Hamburg. Bevor er 2018 als Redaktionsleiter zum LMVZ stiess, leitete er 19 Jahre lang den Zürcher Kleinverlag Nagel & Kimche. Dort verlegte und lektorierte er die Werke der Schweizer Bestsellerautoren Charles Lewinsky und Milena Moser. Er förderte nicht nur bekannte Schriftstellerinnen und Schriftsteller, sondern brachte der Deutschschweizer Leserschaft durch Übersetzungen auch Autoren wie den Waadtländer Roland Buti näher. Dieser gewann mit «Das Flirren am Horizont » den Schweizer Literaturpreis 2014 des Bundesamts für Kultur.

Dirk Vaihinger ist der Sprache verpflichtet. Als Lektor und Verlagsleiter bei Nagel & Kimche arbeitete er intensiv mit jedem Text. «Einige Autorinnen und Autoren gehen mit Rückmeldungen und Vorschlägen ganz professionell um, andere wiederum kämpfen um jeden Satz.» Welche Schriftstellerin oder welcher Schriftsteller besonders Mühe damit hatte, die liebsten Sätze zu streichen oder auf ganze Abschnitte zu verzichten, will der Germanist nicht verraten. Nur so viel: «Manche halten sich exakt an alle Vorgaben, liefern die Texte quasi pfannenfertig ab, bei anderen arbeitet man als Lektor ein Buch fast zur Hälfte um.»

Foto von Dirk Vaihinger. Er steht vor einem Regal mit Kinderbüchern und hält ein Buch des Lehrmittelverlags Zürich in der Hand. Dabei lächelt er etwas verschmitzt in die Kamera.
Dirk Vaihinger ist weniger Generation Tablet, sondern ein Mann für das Gedruckte. Beim Lehrmittelverlag Zürich hat für ihn aber auch die Digitalisierung eine grosse Bedeutung.

Abstecher auf die Bühne

Während der Gymizeit ging Vaihinger für ein Austauschjahr in die USA, genauer in den Rust Belt im ländlichen Nordosten des Landes. Diese Zeit in dem industriellen und als eher konservativ bekannten Teil der Vereinigten Staaten sei prägend gewesen. «Das Austauschjahr hat meinen Horizont erweitert. Ich wusste danach, dass ich die Welt entdecken möchte.» In der Schweiz habe er sich als junger Mann eingeengt gefühlt. Nach dem Gymnasium zog es ihn darum nach Paris an die Sorbonne Université, um französische Literatur zu studieren. «Dort wurde gerade gestreikt, also habe ich mitgestreikt, aber nur etwa die Hälfte davon verstanden», erzählt er. «Ich merkte schnell, dass für ein Studium auf Französisch meine Sprachfähigkeiten einfach nicht ausreichten.»

Auch ein Abstecher auf die Bühne gehört zu seinem Lebenslauf. Beim ehemaligen Theater «vis-à-vis» in Basel spielte er in einem Molière-Stück den königlichen Notar: «Ich durfte nur drei Worte sagen: ‹Ein königlicher Notar.›» Bei diesem einen Satz blieb es, aus der grossen Karriere wurde nichts. «Mich fasziniert das Theater zwar bis heute, aber ich bin kein Schauspieler.» Dirk Vaihinger entschied sich für Germanistik und Philosophie an der Freien Universität Berlin. Dort erlebte der Student die Wendezeit und den Mauerfall. Er sah, wie die Bürgerinnen und Bürger der DDR mit ihren 100 D-Mark Begrüssungsgeld das Kaufhaus des Westens stürmten und immer wieder die Alarmanlage aktivierten, weil sie sich nicht  zurückhalten konnten. «Das zu beobachten war mehr bitter als lustig.»

Kein eigenes Buch geplant

Nach dem Studium folgte die Doktorarbeit an der Universität Konstanz. «Auszug aus der Wirklichkeit: Eine Geschichte der Derealisierung vom positivistischen Idealismus bis zur virtuellen Realität» hiess das Ergebnis. Es sollte das bisher erste und letzte Buch aus Vaihingers Feder sein. «Ich habe damals gemerkt, wie gross der Aufwand ist, selbst ein Buch zu schreiben», sagt er. Es gebe auch keine angefangenen Manuskripte in seiner Schreibtischschublade, beteuert der Germanist. Als Herausgeber veröffentlichte er hingegen einige Werke. Darunter eine Märchensammlung für Kinder, die er seinen beiden heute 14- und 17-jährigen Söhnen widmete. «Die schönsten Märchen der Schweiz» erhielten positive Rezensionen, waren aber nicht so erfolgreich wie gedacht. «Das ist immer etwas ernüchternd, weil man als Verlag grosse Hoffnungen in Neuerscheinungen setzt.»

Im Gegensatz zu Belletristikverlagen sind beim LMVZ nicht die Neuerscheinungen das Wichtigste, vielmehr bildet die sogenannte Backlist das Rückgrat. «Das ist schon eine grosse Erleichterung im Lehrmittelwesen, dass sich bewährte Bücher längerfristig verkaufen und man nicht immer den kurzfristigen Erfolg suchen muss, sondern über längere Zeiträume qualitativ hochstehende Produkte entwickeln darf», sagt der Verlagsleiter. Das Prestige, grosse Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu verlegen, fehle ihm nicht. «An meinem Job fasziniert mich, dass ich viele unterschiedliche Aufgaben habe.» Die Lehrmittelbranche sei mit der starken Konkurrenz aus der Schweiz und dem Ausland spannend.

In der Freizeit mag es Dirk Vaihinger ebenfalls vielseitig. Da nimmt er sich nicht nur Zeit für den Bücherstapel auf seinem Nachttisch, es ist auch Sport angesagt. Und dann gibt es da noch das Alphorn, das sich von ihm regelmässig urchige Töne entlocken lässt.