Der Verkauf auf neuen Ausbildungspfaden

Neue Lernende im Detailhandel werden seit dem Sommer 2022 nach dem Modell «Verkauf 22+» ausgebildet. Statt Fächern stehen nun Handlungskompetenzbereiche auf dem Stundenplan. Was bedeutet das genau? Ein Besuch an der Berufsschule Rüti.

Text: Jacqueline Olivier, Fotos: Andreas Schwaiger

Ein regnerischer Morgen im November. Im Zimmer S22 in der Berufsschule Rüti geht es um Porträts. Lehrerin Sabine Aschwanden beamt ein Bild von Leonardo Da Vincis Mona Lisa an die Wand. Wie dieses Gemälde heisse, wer es gemalt habe, wo es hänge, will sie von den Detailhandelsfachleuten im ersten Lehrjahr wissen. Die Jugendlichen sind konzentriert, ihre Antworten kommen ohne langes Zögern. Nach einem kurzen Exkurs zum Preis des Bildes und wer diesen Wert bestimmt, leitet Sabine Aschwanden über zum heutigen Auftrag: Die Lernenden sollen sich je zu zweit gegenseitig interviewen, um danach ein schriftliches Porträt zu verfassen. Das Ziel: In einer Woche muss die porträtierte Person in einem kurzen Referat der Klasse vorgestellt werden. Nach ein paar Fragen aus der Klasse sind die Zweiergrüppchen rasch gebildet. Sie verteilen sich im Schulzimmer sowie draussen im Korridor und machen sich an die Arbeit.

Auch wenn es den Anschein macht: Wir befinden uns weder im Deutsch- noch im Allgemeinbildenden Unterricht. Auf dem Stundenplan steht vielmehr «HKBa». HKB bedeutet Handlungskompetenzbereich. Mehrere solcher Bereiche ersetzen seit Beginn dieses Schuljahrs für die neuen Lernenden im Detailhandel – Detailhandelsfachleute EFZ und Detailhandelsassistenten EBA – die bisherigen Fächer. Sie sind die Folge dessen, worum es bei der laufenden Reform «Verkauf 22+» geht: Die Jugendlichen sollen befähigt werden, in einer immer komplexeren Arbeitswelt bestehen zu können. «Heute benötigen die jungen Berufsleute nebst fachlichen in zunehmendem Masse auch überfachliche Kompetenzen», sagt Ursula Schwager, selbstständige Projektmanagerin und Projektleiterin für die Einführung der Reform an den drei betroffenen Berufsfachschulen im Kanton Zürich. Und sie zählt einige dieser Kompetenzen auf: «Umgang mit unterschiedlichen Kundinnen und Kunden, Teamfähigkeit, Eigenverantwortlichkeit und kritisches Denken, digitale Kompetenzen, sich selbst etwas aneignen können.» Die neue Ausbildung solle dazu beitragen, dass die jungen Leute später im Berufsleben ihre Fähigkeiten selbstständig anwenden und sich beruflich und persönlich weiterentwickeln könnten.

Aus diesem Grund wurden laut Ursula Schwager zwei Aspekte stärker in den Fokus gerückt: die Handlungskompetenzen und das digitale Lernen. In der Berufsfachschule habe dies didaktische und organisatorische Auswirkungen – bis hin zum Qualifikationsverfahren. Auch für die Betriebe und die Überbetrieblichen Kurse bringe es Veränderungen mit sich. «Die Handlungskompetenzbereiche und die Handlungskompetenzen sind für alle drei Lernorte gültig. Ausserdem wurden zu allen Handlungskompetenzen Leistungsziele definiert und den einzelnen Lernorten zugeteilt.» Dadurch werde die Kooperation gestärkt und die jeweiligen Ausbildungsinhalte griffen besser ineinander.

Eine Detailhandelslernende hört in der Berufssschule Rüti konzentriert ihrer Mitschülerin zu. Letztere sieht man nur unscharf von hinten. Ziel ist es, dass sich die beiden Schülerinnen im Anschluss gegenseitig vorstellen.
Auf dem Stundenplan steht HKBa: «Gestalten von Kundenbeziehungen». Ein Gespräch führen zu können, ist eine wichtige Handlungskompetenz.

Dokumentieren und reflektieren

Dieses Zusammenspiel fördern soll auch das digitale Portfolio. Im Betrieb erhalten die Lernenden Praxisaufträge, anhand derer sie entsprechende berufliche Handlungen wie etwa Verkaufsgespräche ausführen und reflektieren sollen. Im Portfolio dokumentieren sie ihr Vorgehen und ihre Erkenntnisse daraus. Es ist ihr persönliches Arbeitsinstrument, das sie durch die gesamte Ausbildungszeit hindurch begleitet und in dem sie Materialien, die für sie wichtig sind, digital ablegen können – an allen drei Lernorten. Im letzten Lehrjahr werden sie auf dieser Basis ihre Vertiefungsarbeit erstellen, die Teil des Qualifikationsverfahrens ist. «Das Portfolio macht für die Lernenden die Entwicklung ihrer Kompetenzen sichtbar, fördert ihre Selbstverantwortung sowie den gezielten Umgang mit digitalen Tools», sagt Ursula Schwager.

Allerdings sei das Portfolio für viele Lernende eine Herausforderung, denn die Affinität der Jugendlichen für solche Instrumente sei sehr unterschiedlich. «Viele benötigen sicher Unterstützung, vor allem am Anfang, etwa im Hinblick auf ein effizientes und konsequentes Dokumentenmanagement, das Festlegen von Zielen und Lernschritten sowie für das Beurteilen der eigenen Fortschritte.» Beim ersten Durchgang gelte es deshalb darauf zu achten, wie es den Lernenden gelinge, mit dem Portfolio umzugehen, wo es allenfalls noch Support brauche und welcher Art dieser sein müsse. Dies sei jedoch nichts Aussergewöhnliches. «Bei einer solch tiefgreifenden Reform braucht es neben möglichst guter Aufbauarbeit immer erste Erfahrungen und Erkenntnisse und da und dort Nachbesserungen.»

Immer mit Praxisbezug

Die Reform «Verkauf 22+» ist ein nationales Projekt (siehe Kasten unten), für die Umsetzung sind die Kantone zuständig. Der Unterricht in den Berufsfachschulen basiert auf sogenannten Lernfeldern. Diese haben die drei Schulen, die im Kanton Zürich Lernende im Detailhandel ausbilden, in «Lerndesigns» konkretisiert, wie Bernadette Schläpfer erklärt. Die Berufskundelehrerin ist an der Berufsschule Rüti Teamleiterin für den Handlungskompetenzbereich C: «Erwerben, Einbringen, und Weiterentwickeln von Produkte- und Dienstleistungskenntnissen». Die Lerndesigns, fährt sie fort, habe man sodann mit Lerninhalten gefüllt, die jeweils auf eine konkrete Arbeitssituation in der Praxis  ausgerichtet seien. Wenn also mit den EBA-Lernenden zurzeit Adjektive und Nomen thematisiert werden, wird im Unterricht mit Wörtern gearbeitet, die den Jugendlichen im Verkaufsgespräch dazu dienen, einen Gegenstand zu erklären und seine Vorzüge aufzuzeigen.

Den Unterricht derart zu gestalten, sei ein hoher Anspruch, sagt Bernadette Schläpfer. «Der Stoff ist neu verteilt auf die verschiedenen HKB, in denen Lehrpersonen unterschiedlicher Fächer zusammenarbeiten, und alles, was wir vermitteln, benötigt einen Praxisbezug.» Für sie, die ohnehin stets nah an der Praxis unterrichtet habe, sei die Umstellung sicher weniger spürbar als beispielsweise für eine Deutschlehrperson. «Am Anfang hatten alle mehr Fragen als Antworten», erzählt sie, «dann haben wir in den Schulen die HKB-Teams zusammengestellt und begonnen, die Inhalte zu erarbeiten.»

Mittlerweile, findet sie, laufe es immer besser – «es brauchte aber ein Einleben, gerade auch im Hinblick auf die Digitalisierung. Der Aufbau des neuen digitalen Lehrmittels ist sehr komplex.» Die Bandbreite dessen, was die Lernenden mitbrächten, werde dadurch noch deutlicher. Insbesondere die EBA-Lernenden bekundeten mit dieser Form des Lernens oft Mühe. Für sie wurde anstelle der bisherigen «Fachkundigen individuellen Begleitung » (FIB) eine Lernwerkstatt eingerichtet, in der sie individuell unterstützt werden – integriert im Stundenplan wie auch auf freiwilliger Basis.

Obwohl der Aufwand im Moment gross und diverse Fragen noch offen sind, sieht Bernadette Schläpfer durchaus positive Seiten der Reform. Die Zusammenarbeit unter den Lehrpersonen sei enger geworden, was sie persönlich spannend findet. Ebenso  macht es ihr Freude, Themen neu aufzubereiten.

Am Tisch sitzende Jugendliche werden von einem Klassenkameraden fotografiert
Zu einem Porträt gehört auch ein Bild.

Funktionierendes Teamwork

Für ein solches Projekt benötigen die Lehrpersonen entsprechende Weiterbildungen. Neben drei weiteren Pädagogischen Hochschulen in der Schweiz wurde auch die PH Zürich damit beauftragt, ein entsprechendes Angebot bereitzustellen. In der Berufsschule Rüti habe man bisher drei obligatorische Weiterbildungen «Inhouse» durchgeführt, erzählt Fabienne Wyler, Abteilungsleiterin Dienstleistungsberufe, die das Reformprojekt auf Ebene der Schule leitet. Die Leitplanken für den Unterricht zu definieren, sei im Kanton Zürich gelungen, findet sie. Und auch die eigene Schule sieht sie auf gutem Weg. «Als im Frühling 2022 bekannt war, welche Lehrpersonen in welchen HKB zusammenarbeiten, haben diese neuen Teams gemeinsam Unterrichtsmaterialien erstellt. Und nun wird alles, was für den Unterricht vorbereitet wird, laufend digital abgespeichert und den Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung gestellt.»

Bis der erste Jahrgang der neuen Ausbildung abgeschlossen sei, meint Fabienne Wyler weiter, werde sich sicher vieles eingependelt haben. «Die Ausrichtung auf die Handlungskompetenzen ist ja nicht neu, sie ist nun einfach wesentlich pointierter.» Eine Gefahr sieht sie im Moment darin, dass man als Lehrperson aus Unsicherheit oder Überlastung in alte Muster zurückfallen könnte, zum Beispiel bezüglich Prüfungen. Ihr Bestreben ist es deshalb, möglichst bald einen Teamevent zu veranstalten, in dem dieses Thema genau unter die Lupe genommen und eine Musterprüfung erstellt wird. Es bleibt also viel zu tun, ausserdem ist man zurzeit mit der neuen und der alten Ausbildung noch doppelspurig unterwegs. Für die Abteilungsleiterin zählt aber vor allem eines: «Wir alle brauchen das Vertrauen, dass diese Veränderungen die Jugendlichen auf ihrem Weg voranbringen. Und davon bin ich überzeugt.» Warum? «Mit der Reform entfällt ein Stück weit Ballast aus der alten Lehre, stattdessen geht es vermehrt um die Inhalte, die für den Beruf und die eigene Entwicklung der Lernenden wirklich relevant sind.»

Die Handlungskompetenzen im Fokus

Die Reform «Verkauf 22+» befindet sich seit Beginn des Schuljahrs 2022/23 in der Umsetzung, die ersten Lernenden werden nach dem neuen Modell ausgebildet. Der Fokus der Reform liegt auf der Stärkung der Handlungskompetenzen, die in sechs Handlungskompetenzbereiche (HKB) gegliedert werden. Vier davon sind für alle Lernenden – EFZ und EBA – verbindlich: «Gestalten von Kundenbeziehungen», «Bewirtschaften und Präsentieren von Produkten und Dienstleistungen», «Erwerben, Einbringen und Weiterentwickeln von Produkte- und Dienstleistungskenntnissen» und «Interagieren im Betrieb und in der Branche». Die zwei weiteren sind jeweils für jene EFZ-Lernenden verbindlich, die den entsprechenden Ausbildungsschwerpunkt wählen: «Gestalten von Einkaufserlebnissen» oder «Betreuen von Online-Shops».

Innerhalb der HKB sind die einzelnen Handlungskompetenzen definiert, welche die Lernenden erreichen sollen. Wobei jede Handlungskompetenz Fach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz umfasst. Die jeweiligen Leistungsziele wiederum sind den drei Lernorten Betrieb, Berufsfachschule und Überbetriebliche Kurse zugeordnet und aufeinander abgestimmt.

Noch ist die Reform für die Berufsfachschulen nicht abgeschlossen. Die zwei wichtigsten noch offenen Punkte sind die Entwicklung des Unterrichts für das zweite und dritte Lehrjahr sowie die Konkretisierung des Qualifikationsverfahrens. (jo)