Neues und Fremdes entdecken
Schulblatt 01.07.2022
Das Fach «Religionen, Kulturen, Ethik» wird ab dem kommenden Schuljahr schrittweise auf untergymnasialer Stufe eingeführt. An der Kantonsschule Zimmerberg in Au wird es schon seit drei Semestern unterrichtet – ein Einblick.
Text: Walter Aeschimann, Foto: Dieter Seeger
«Diese Figur ist aus dem Buddhismus», sagt Efraim. «Wie schreibt man Buddhismus?» Während sich eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern mit der kleinen Statue des «Lachenden Buddha» beschäftigt, eine andere mit einer Playmobil- Figur des Reformators Martin Luther, ist eine dritte vorerst ratlos. «Das ist kein leichtes Objekt», meint auch Lehrer Christoph Staub, der an den Tisch getreten ist. «Wie könntet ihr herausfinden, was es ist?» – «Wir machen ein Bild und suchen es mit Google Lens. Ist das erlaubt?», fragt Cate. «Natürlich!», antwortet Staub. «Die Idee ist, verschiedene Recherchetechniken anzuwenden.» Die App erkennt das Bild. Es ist ein islamischer Gebetszähler mit LED-Anzeige. Nicht alle Jugendlichen haben mit ihren Recherchen sofort Erfolg. Eine Gruppe wundert sich bei einem anderen Objekt: Die App schlägt eine Schwarzwälder Kirschtorte als Lösung vor. Das kann definitiv nicht richtig sein.
Das Schulzimmer der Klasse 2b am Untergymnasium der Kantonsschule Zimmerberg (KZI) in Au (Wädenswil) ist heute ein «Museum der vergessenen Objekte». Die Jugendlichen sind die Kuratorinnen und Kuratoren. Sie müssen 20 verschiedene Objekte einer bestimmten Kultur oder Religion zuordnen. Auf das Aufgabenblatt schreiben sie den Namen, die Funktion und die Symbolik des Gegenstandes. Sie sind mit Begeisterung dabei, arbeiten intensiv und konzentriert.
Die KZI ist das jüngste Gymnasium im Kanton Zürich. Die Schülerinnen und Schüler des Untergymnasiums besuchen während vier Semestern jede Woche eine Lektion «Religionen, Kulturen, Ethik» (RKE). Das ist ungewöhnlich. Das Fach ist bisher nicht im Regelunterricht der Untergymnasien integriert. Es wird bisher nur an Sekundarschulen obligatorisch unterrichtet. An der Kantonsschule Zimmerberg gehört es hingegen zum Lehrplan, seit sie vor zwei Jahren eröffnet worden ist. Lehrer Christoph Staub hat Theologie und «aus Neugierde» zusätzlich Religionswissenschaften studiert, ein Lehrdiplom in Religion und Lehrerfahrung auch in Philosophie. Nach drei Semestern Unterrichtspraxis zieht er eine positive Bilanz: «Ich mache sehr gute Erfahrungen mit dem Fach und habe Freude am Unterricht. Die Schülerinnen und Schüler entdecken Neues und Fremdes. Das Fremde ist für sie immer spannend.»
Teil von «Gymnasium 2022»
Mit der Integration des Fachs in die Stundentafel ist die KZI ein Vorreiter. Denn ab dem Schuljahr 2022/23 wird RKE auf der gymnasialen Unterstufe eingeführt. Den Schulen wird eine Übergangsfrist eingeräumt, spätestens ab dem Schuljahr 2023/24 sind die vom Regierungs- und vom Bildungsrat im Herbst 2021 erlassenen Vorgaben an allen Gymnasien verbindlich umzusetzen. Das bedeutet: Das Fach muss an allen Untergymnasien obligatorisch angeboten werden. Die Einführung ist Teil des Projekts «Gymnasium 2022». Neben RKE wird die gymnasiale Unterstufe auch um das Fach «Informatik» erweitert werden. Zudem können Zürcher Gymnasien das Schwerpunktfach «Philosophie/Pädagogik/Psychologie» (PPP) anbieten und haben künftig die Möglichkeit, bereits auf der Unterstufe mit Immersionsunterricht – zweisprachigen Ausbildungsgängen – zu beginnen. Fabian Ryffel, Beauftragter Mittelschulen im Mittelschul- und Berufsbildungsamt, leitet das Projekt und erklärt: «Einer der Haupttreiber für das Projekt Gymnasium 2022 war der Lehrplan 21. Es muss sichergestellt werden, dass Schülerinnen und Schüler aus den Sekundarschulen und den Untergymnasien auf einem vergleichbaren Kompetenzstand sind, wenn sie ins Obergymnasium eintreten. Ausserdem war es dem Bildungsrat ein Anliegen, dass wir die unterschiedlichen Stundentafeln an den Untergymnasien harmonisieren.»
Keine religiöse Unterweisung
Projektstart war im Frühjahr 2018. Die verschiedenen Akteure haben sich in einer Retraite getroffen, die Probleme auf den Tisch gelegt und sich geeinigt, in welche Richtung es gehen soll. Dabei hat sich gezeigt, wie komplex das Thema ist. «Das Projekt bedeutete einen gewissen Paradigmenwechsel», sagt Ryffel. «Die Schulen im Kanton Zürich sind historisch gewachsen und geniessen eine grosse Autonomie.» Gerade für das Untergymnasium habe es bisher kaum pädagogische Vorgaben gegeben. Nun macht der Bildungsrat neu Vorgaben zum Fächerkanon und zur Stundendotation der einzelnen Fächer. «Gleichzeitig wird den Schulen in der Stundentafelgestaltung aber weiterhin eine gewisse Freiheit eingeräumt», relativiert der Projektleiter. Ein anderer Punkt, der zu reden gab, ist, dass die MINT-Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik gestärkt werden, die Sprachen tendenziell eher geschwächt. Das sei durchaus kontrovers diskutiert worden. Die Schulen haben innerhalb der MINT-Fächer aber eine gewisse Freiheit, neue Fächer wie etwa Robotik anzubieten oder andere Fächer einzubinden.
Die Fachgruppe RKE hat einen Musterlehrplan entworfen. Dieser lehnt sich an den Lehrplan 21 an. RKE setzt sich aus den zwei Teilbereichen «Religionen, Kulturen» sowie «Ethik» zusammen. «Die Fachbezeichnung soll deutlich machen, dass es nicht um religiöse Unterweisung geht, sondern dass in dem Gefäss verschiedene, gesellschaftlich wichtige Fragen behandelt werden können», sagt Fabian Ryffel. Die Schulen müssen mindestens drei Semesterlektionen anbieten, dürfen die Stundenzahl aber auch erhöhen. Sie sind dabei recht frei, wie sie das Fach aufbauen. Eine oder zwei Lehrpersonen können das Fach übernehmen. Deshalb werden laut Ryffel Fachlehrdiplome in Religion wie auch in Philosophie für den Unterricht zugelassen. RKE wird allerdings nicht zu den Promotionsfächern zählen. Das habe Befürchtungen geweckt, dass einzelne Schülerinnen und Schüler das Fach «nur absitzen könnten, weil es nicht benotet wird», sagt Ryffel. Er teile diese Ansicht nicht. «Ich bin zuversichtlich, dass sich das Fach gut entwickeln wird.»
Im Sinne der Allgemeinbildung
Diese Erfahrung hat Christoph Staub bisher gemacht. «Ich bin froh, dass RKE kein Promotionsfach ist. Motivation funktioniert nicht über Vorschriften. Die Schülerinnen und Schüler sind motiviert, weil sie etwas entdecken wollen.» RKE ist ein Fach, das die Allgemeinbildung fördert. Staub sieht sich als «Geburtshelfer für neue Einsichten und Ideen». Er wolle die Neugier wecken. Er biete Gelegenheiten, andere «Weltbilder» kennenzulernen und miteinander zu verbinden. Dabei könnten die Jugendlichen auch ihre eigene Herkunft reflektieren. Er will Fragen der menschlichen Existenz thematisieren: Wie wollen wir leben? Wie behandeln wir den Tod? Ebenso sei ihm daran gelegen, aktuelle Themen, etwa Wasserknappheit oder Abfallentsorgung, auch aus den Perspektiven der unterschiedlichen Kulturen anzusprechen. Ziel sei es nicht zuletzt, dass die jungen Leute eigene Haltungen entwickelten und somit kompetenter mit öffentlicher Berichterstattung umgehen könnten.
Sprihaa erzählt, dass sie im Unterricht vor ein paar Wochen das Thema «Dilemma» behandelt hätten. «Wir durften Videos machen. Einige waren wirklich lustig.» Den Spass und das spielerische Lernen finden alle gut. Ebenso, dass es für dieses Fach keine Prüfungen gibt und nicht nur Theorien behandelt würden. «Der Druck ist weg. Wir hören besser zu», sagt Efraim. «Wir können den Kopf gut durchlüften», meint Samantha. «Ich finde es sehr interessant, Dinge über andere Kulturen und Religionen herauszufinden», sagt Cate. Die Gruppe mit der Schwarzwälder Kirschtorte hat unterdessen ermittelt, worum es sich bei dem Objekt tatsächlich handelt: um einen Textilstempel mit einer Comicfigur der hinduistischen Gottheit Ganesha darauf. Für Christoph Staub ist das Fach RKE im Unterricht angekommen, «wenn es normal geworden ist, wertfrei über verschiedene Religionen, Kulturen und Ethiken zu sprechen».
Am Schluss der Lektion gibt es ein Quiz mit «Kahoot!», einer spielbasierten Online-Lernplattform. 20 Fragen, zu jedem Objekt eine. Wer am meisten Fragen richtig beantworten kann, gewinnt. Auf der Beamer-Leinwand erscheint ein Bild. «Wie heisst die abgebildete Gottheit?» Vier Antworten stehen zur Verfügung. Die Gruppen tippen hastig ihre Antwort ins Smartphone ein. Das Ergebnis wird angezeigt. 13 richtige Antworten, 3 falsche. Nächste Frage: «Wofür dient der abgebildete Gegenstand?» Zum Schluss gewinnt die Gruppe «Power Crap». Eine kurze Auswertung der Lektion ergibt, dass insgesamt 70 Prozent der Quiz-Fragen richtig beantwortet wurden. Staubs Fazit: «Das zeigt, dass die Schülerinnen und Schüler in dieser kurzen Zeit spielerisch neue Kompetenzen und neues Fachwissen erworben haben.»
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