Die Suche nach der besten Lösung

Die meisten der jugendlichen Geflüchteten aus der Ukraine haben zu Hause eine Mittelschule besucht. Wie können sie hier am besten daran anknüpfen? Eigens für sie konzipierte Lernstandserhebungen an der EB Zürich sollen helfen, den für sie passenden Weg zu finden.

Text: Jacqueline Olivier, Fotos: Hannes Heinzer

Es ist still im Flur der Kantonalen Schule für Berufsbildung (EB Zürich) an diesem regnerischen Dienstagmorgen Ende Mai. Hinter den geschlossenen Türen rund um die zentrale Treppe ist der Unterricht bereits in Gang. Die Tür zum Kundenzentrum im ersten Stock hingegen steht offen, im angrenzenden Foyer sitzen und stehen einige Jugendliche, auch zwei erwachsene Frauen sind da. Es sind Geflüchtete aus der Ukraine. Die Jugendlichen werden hier in den nächsten rund drei Stunden diverse Aufgaben in Deutsch, Englisch und Mathematik lösen, damit ersichtlich wird, wo sie schulisch stehen. Bei den beiden Frauen handelt es sich um Mütter, die ihre Kinder zu dieser sogenannten Lernstandserhebung begleiten. Beginn ist um 9 Uhr, doch die meisten sind seit mindestens einer halben Stunde hier und warten geduldig. Geredet wird, wenn überhaupt, nur leise.

Viele hätten Angst, sie müssten hier eine Prüfung absolvieren, sagt Markus Wyler, der als freiwilliger Übersetzer eine wichtige Rolle innehat. Die meisten der Anwesenden sprechen zwar Englisch, aber unterschiedlich gut, Deutsch hingegen beherrscht in dieser Gruppe niemand so richtig. Markus Wyler begrüsst sie deshalb auf Russisch. Das verstünden 99 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer, sagt er. Als Erstes erklärt er, was die zehn Jugendlichen hier erwartet und wie der Morgen ablaufen wird. Zunächst steht Mathe auf dem Programm, die Aufgaben sind in Englisch formuliert. Davor fürchteten sich viele der Jugendlichen ein wenig, weiss Markus Wyler inzwischen aus Erfahrung, deshalb habe man diesen Teil gleich an den Anfang gesetzt.

Jugendliche mit grossen Kopfhörern auf dem Kopf lösen eine Prüfung.
Zehn Jugendliche aus der Ukraine absolvieren an diesem Vormittag die Lernstandserhebung an der EB Zürich.

Stolperstein Deutsch

In ihrer Heimat haben die jungen Leute alle ein Gymnasium besucht. In der Schweiz müssen sie nun eine neue, für sie passende Lösung finden. Ob diese auch wieder Gymnasium heisst und ob sie dort ohne weitere Vorbereitung als sogenannte Hospitanten (siehe Kasten) eintreten können, dies soll die Lernstandserhebung zeigen. Ein junger Mann, der heute daran teilnimmt, hatte in der Ukraine sogar bereits sein Studium an der Universität begonnen, bevor ihn der Krieg in die Flucht trieb. Auch für ihn wird sich weisen, ob er sein Studium hier fortsetzen kann oder ob er allenfalls noch einmal für ein oder zwei Jahre eine Mittelschule besuchen soll.

Die deutsche Sprache, sagt Gabriela Notter, sei für die jungen Ukrainerinnen und Ukrainer die grösste Hürde. Auch sei das Schulsystem in der Ukraine ein anderes: «Bis zum Abschluss des Gymnasiums dauert es lediglich elf Jahre und nicht zwölf. Deshalb wechseln die Jugendlichen in der Regel bereits mit 17 an die Uni.» Gabriela Notter ist Leiterin Administration und Kundenberatung für den Weiterbildungsbereich, genannt EB Forward. Sie organisiert die Lernstandserhebungen für die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, die von der EB Zürich im Auftrag des Mittelschul- und Berufsbildungsamts erstellt wurden. Organisieren bedeutet: persönliche Daten der Kandidatinnen und Kandidaten aufnehmen, Räume reservieren, den Übersetzer aufbieten und so weiter. Vor allem aber beantwortet sie Anfragen aller Art vonseiten Flüchtlingen, Gastfamilien, Schulen oder Behörden, telefonisch, per Mail oder auch persönlich an der Theke des Kundenzentrums. Es sind Fragen zur Anmeldung, zu weiteren Angeboten oder zum Schweizer Schulsystem. Wenn sie Mails auf Russisch bekomme, erzählt sie, nehme sie Google Translate zu Hilfe. «Aber darauf ist nicht immer Verlass.» Wenn Markus Wyler anwesend ist, wendet sie sich bei Unklarheiten deshalb auch gerne an ihn.

Kaum sofortige Gymi-Eintritte

Bis heute Abend werden bereits 150 junge Leute die Lernstandserhebung durchlaufen haben. Ursprünglich war sie für 16- bis 21-Jährige vorgesehen, nachdem man aber festgestellt habe, dass bereits 15-Jährige auf dem erforderlichen Stand seien, so Gabriela Notter, seien inzwischen auch sie zugelassen. Aufgrund der Testresultate wird anschliessend in persönlichen Gesprächen mit den Betroffenen erörtert, welche Anschlusslösung infrage käme. Ist dies der unmittelbare Eintritt als Hospitantin oder Hospitant in ein Gymnasium oder eine Fachmittelschule, geben die Verantwortlichen der EB eine Empfehlung an das Mittelschul- und Berufsbildungsamt ab, das einen entsprechenden Platz an einer Kantonsschule sucht. Laut Gabriela Notter ist dies aber nur für ganz wenige Jugendliche möglich.

Eine weitere Möglichkeit ist der Besuch des Bildungsgangs «Start! Berufsbildung», den die EB seit mehreren Jahren für vorläufig aufgenommene Personen, anerkannte Flüchtlinge zwischen 16 und 40 Jahren sowie spät zugewanderte junge Erwachsene anbietet und nun im Auftrag des Kantons um das Modul «Start!4U» erweitert hat. Dieses richtet sich an geflüchtete Jugendliche mit gymnasialer Vorbildung, ist bausteinartig aufgebaut und kann entweder während fünf oder während zehn Wochen besucht werden. Ausser mit Mathematik und mit Englisch als Fremdsprache beschäftigen sich die Kursbesucherinnen und -besucher auch mit digitalen Medien sowie mit der Sprache, der Kultur und dem Alltag in der Schweiz. In der Lernwerkstatt arbeiten sie zudem selbstständig an ihren individuellen Lernzielen. «Start!4U» soll es ihnen schliesslich ermöglichen, an eine Mittelschule zu wechseln. Jugendliche ohne ausreichende gymnasiale Vorbildung werden im Rahmen von «Start! Berufsbildung» dabei unterstützt, den Einstieg in die Berufsbildung zu finden. Sie können beispielsweise das Berufsvorbereitungsjahr absolvieren, eine Berufslehre oder eine Integrationsvorlehre beginnen. Je nach Alter, sagt Gabriela Notter, sei auch ein Eintritt in die dritte Sek ratsam, also die Wiederholung eines Schuljahrs. Das gebe den Jugendlichen Zeit, sich etwas einzuleben. Und ganz zentral sei für die grosse Mehrheit von ihnen natürlich der Besuch eines Deutschkurses – bei welchem Anbieter auch immer. «Wir suchen mit jeder und jedem Einzelnen nach der individuell besten Option.»

Eine Jugendliche benutzt einen Taschenrechner um Mathematikaufgaben zu lösen.
Die jugendlichen Geflüchteten lösen diverse Aufgaben in Deutsch, Englisch und Mathematik.

Privatkurse als «Must-have»

An der EB Zürich geht es an diesem Tag Schlag auf Schlag. Noch ist die erste Gruppe mit den Tests nicht durch, doch die Nächsten warten bereits auf die Lernstandserhebung vom Nachmittag. Zum Beispiel Ewgeny, der mit seiner Mutter auf einer der in Nischen eingelassenen Bänke sitzt. Begleitet werden die beiden von einer weiteren Ukrainerin, die wie sie in Oberglatt wohnt, aus Charkiw stammt und bereits 2014 in die Schweiz gekommen ist. Heute bietet sie Neuankömmlingen ihre Hilfe an, etwa als Deutsch-Übersetzerin. Ewgeny hat am Gymnasium in der Ukraine auch schon Deutsch gelernt. Nun möchte der 16-Jährige herausfinden, ob und unter welchen Bedingungen er hier weitermachen kann. Daheim würde ihm nur noch ein Jahr fehlen bis zum Abschluss, in diesem Jahr wollte er zusätzlich Privatkurse in Englisch, Mathematik und Physik belegen, denn sein Ziel ist es, IT zu studieren. In der Ukraine seien solche Privatkurse für die gezielte Vorbereitung auf einen bestimmten Studiengang ein «Must-have», erklärt die Begleiterin aus Charkiw, «die staatlichen Schulen sind nicht so gut». Ewgeny wirkt gelassen. Zwar vermisst er sein Zuhause und seine Freunde, sagt jedoch: «Ich finde es interessant in der Schweiz.»

Mariya Stanishevska, eine der Mütter, sieht das etwas anders. Seit dem 14. April ist sie mit ihren drei Kindern im Alter von 15, 17 und 20 Jahren in der Schweiz und sagt: «Es wäre einfacher gewesen, mit kleinen Kindern zu kommen.» Die Kleinen könne man mit Spielzeug leicht ablenken und sie schlössen sich rasch anderen Kindern an. Ihre Tochter und die beiden Söhnen hingegen hätten zu Hause in Lwiw bereits ihr eigenes Leben gehabt und müssten nun hier neu anfangen. Sie litten unter starkem Heimweh und verbrächten viel mehr Zeit als üblich am Handy, um mit ihren Freunden, die nun über die ganze Welt verstreut seien, in Kontakt zu bleiben. Und als Mutter könne sie ihnen dies in der aktuellen Situation schlecht verwehren.

Für die Zukunft der Kinder

Kompliziert findet Mariya Stanishevska aber vor allem, dass ihre drei Kinder an ganz unterschiedlichen Punkten ihrer Bildungslaufbahn stehen. Die 20-jährige Tochter hatte in der Ukraine bereits studiert und ist nun darum bemüht, die nötigen administrativen Hürden zu nehmen, um sich an der Zürcher Universität akkreditieren zu können. Der 17-jährige Sohn hat die Schulzeit am Gymnasium zu Hause beendet und müsste nun die zentralen Abschlussprüfungen ablegen, an denen normalerweise alle Absolventinnen und Absolventen in dafür bestimmten Schulen am gleichen Tag im gleichen Fach dieselben Aufgaben lösen. Dieses Jahr, so viel ist inzwischen klar, müssen nur jene die Prüfungen schreiben, die an eine Hochschule wechseln wollen, die anderen erhalten ein Abschlusszeugnis auf Basis der Erfahrungsnoten. Für die Prüfungen wurden ausnahmsweise mehrere Termine angesetzt, an denen jeweils alle Fächer an einem Tag geprüft werden. Dies geschieht online in speziell geschützten Räumen. Ob der junge Mann nun in die Ukraine reisen oder hier noch einmal ein oder zwei Jahre ein Gymnasium besuchen muss oder ob sich noch eine andere Lösung findet, beschäftigt die Mutter. Der jüngste, 15-jährige Sohn wiederum brütet gerade noch über den Deutschaufgaben der heutigen Lernstandserhebung.

Sie selbst, erzählt Mariya Stanishevska, sei den ganzen Tag mit Abklärungen, Telefonaten und Internetrecherchen beschäftigt, um Antworten zu bekommen auf die vielen Fragen, die sie und ihre Kinder momentan umtreiben. Sie spricht sehr gut Englisch und noch besser Italienisch, weil sie einst in Rom Theologie studiert und in der Ukraine eine zweite Ausbildung als Italienisch-Übersetzerin abgeschlossen hat. Man spürt, wie aufgewühlt und wütend sie ist, wenn sie von dem «dummen, sinnlosen» Krieg spricht, der sie und ihre Kinder aus der Heimat vertrieben hat, während ihr Mann in der Ukraine zurückblieb. Freiwillig, macht sie klar, hätte sie ihr Land nicht verlassen. Aber: «Mir ist es wichtig, für meine Kinder gute Lösungen zu finden, damit sie hier ihre Ausbildungen zu Ende bringen können und eine Zukunft haben. Denn in der Ukraine werden die Möglichkeiten für sie noch lange eingeschränkt sein.» Und während sie so rasch wie möglich nach Hause zurückkehren möchte, wenn der Krieg einmal zu Ende ist, sollen ihre Kinder dereinst frei entscheiden können, ob sie in der Schweiz, in der Ukraine oder auch anderswo ihr Leben leben wollen.

Zugang zu ukrainischen Abschlussprüfungen geklärt

Für Schülerinnen und Schüler aus ausländischen Bildungssystemen, die in eine Zürcher Mittelschule eintreten möchten, ist gemäss kantonaler Verordnung über die Aufnahme in die Maturitätsschulen des Kantons Zürich unter anderem der Status als Hospitantinnen und Hospitanten vorgesehen. Er ermöglicht es den Jugendlichen, während mindestens zwei Semestern an der Schule zu bleiben. In dieser Zeit kann überprüft werden, wie die Vorbildung des Schülers oder der Schülerin zu beurteilen ist und wie weit der oder die Jugendliche dem Unterricht folgen kann. Jugendliche Geflüchtete aus der Ukraine werden als Hospitanten an Zürcher Mittelschulen aufgenommen, wenn sie die vor allem sprachlichen Voraussetzungen (Deutsch und Englisch) erfüllen. Um dies zu prüfen, werden an der EB Zürich entsprechende Lernstandserhebungen durchgeführt.

Wie es für die ukrainischen Mittelschülerinnen und -schüler im Kanton Zürich respektive in der Schweiz längerfristig weitergehen wird, ist in vielerlei Hinsicht noch offen. Etwa die Frage nach der Möglichkeit, eine eidgenössische Matur oder einen anderen Abschluss zu erlangen, der sie zum Übertritt an eine Schweizer Hochschule berechtigt. Sie muss auf Bundesebene gelöst werden. Ebenso jene nach dem längerfristigen Aufenthaltsstatus der ukrainischen Geflüchteten. Der Schutzstatus S, der ihnen zugesprochen wurde, gilt vorderhand für ein Jahr. Geklärt wurde mittlerweile hingegen die Frage, wie Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, die in ihrem letzten Schuljahr, kurz vor den Abschlussprüfungen, in die Schweiz geflüchtet sind, ihren ukrainischen Mittelschulabschluss erlangen und die Aufnahmeprüfungen zu den ukrainischen Hochschulen ablegen können. Ein ukrainisches Abschlusszeugnis können sie online beantragen und anschliessend eine Aufnahmeprüfung für eine ukrainische Fakultät ihrer Wahl absolvieren. Diese Prüfungen finden dieses Jahr online statt. In der Schweiz wird die Universität Bern die dazu notwendige Prüfungsumgebung bereitstellen, sodass die jungen Geflüchteten von hier aus an den Prüfungen teilnehmen können. Sie erlangen damit den Zugang zu den ukrainischen Hochschulen. Swissuniversities, die Dachorganisation der Schweizer Hochschulen, und die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) diskutieren zurzeit, ob und wie sie damit auch zu einem Studium an einer hiesigen Hochschule zugelassen werden könnten.

Da in der Ukraine die duale Berufsbildung kaum bekannt ist, werden ausserdem an den kantonalen Berufsinformationszentren (biz) noch bis August kostenlose Informationsveranstaltungen zum Schweizer Bildungssystem angeboten.

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