Wohin steuert das Gymnasium?

«Alles anders?» – unter diesem Titel fand Mitte November die zehnte HSGYM-Herbsttagung statt. An 18 Barcamps wurde über Herausforderungen und Visionen für die Zürcher Gymnasien diskutiert. Eine Nachlese gibt es nun online.

Text: Jacqueline Olivier, Fotos: Dani Ammann

Für den ersten runden Geburtstag darf es schon etwas Spezielles sein, dachte sich die HSGYM-Leitung und stellte für die zehnte Herbsttagung der Fachkonferenzen ein Programm zusammen, das die Debatte ins Zentrum rückte. 18 Barcamps widmeten sich übergeordneten Themen wie digitale Literalität, Partizipation, der Wert der Präsenz im Unterricht oder Gymnasium ohne Noten.

An den Gymnasien sei derzeit einiges in Bewegung, erklärt Aleksandar Popov, Rektor der Kantonsschule Zürcher Oberland (KZO) in Wetzikon, an der die Herbsttagung stattfand. «Das Projekt Gymnasium 2022 wird in den Schulen einiges auslösen», sagt er, «auch die Digitalisierung wirft grosse Fragen auf.» Umso wichtiger sei es, dass die Hochschulen wüssten, was an den Gymnasien laufe, und die Gymnasien, was an den Hochschulen gefordert sei. «Es ist zentral, dass man miteinander im Gespräch bleibt», betont Aleksandar Popov, der seit dem 26. Januar als Leiter von HSGYM amtet, «schliesslich ist es im Interesse aller, dass der Übergang gut funktioniert.»

Die Herbsttagung der Fachkonferenzen ist einer der zentralen Anlässe, an denen der Dialog an der Schnittstelle gepflegt wird. Vertreterinnen und Vertreter der Mittel- und der (Fach-)Hochschulen kommen hier jährlich zusammen, um sich über neue Entwicklungen und offene Fragen auszutauschen. In der Regel findet zunächst eine Plenarversammlung mit Referaten und einer Podiumsdiskussion statt. Danach arbeiten die Fachkonferenzen an ihren fachspezifischen Themen. An der letztjährigen Tagung ersetzten die Barcamps die Plenarversammlung, die Sitzungszeit der Fachkonferenzen wurde etwas verkürzt. So hatten die rund 250 Teilnehmenden die Möglichkeit, an zwei Barcamps ihrer Wahl mitzureden.

Verlorenes Potenzial

Ausgerichtet wurden die Camps von Mittelschulrektoren, Hochschuldozentinnen oder einzelnen Gästen. Zu Letzteren gehörte der NZZ-Redaktor Nils Pfändler. Sein Thema: «Fehlende Chancengerechtigkeit an Schweizer Gymnasien». Er habe sich mit dem Thema beruflich schon mehrfach beschäftigt, erzählt er. «Das Recht auf gleiche Chancen ist in der Bundesverfassung verankert. Tatsache ist jedoch, dass die grosse Mehrheit der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten Kinder akademischer Eltern sind.»

An seinen beiden Veranstaltungen nahmen 11 respektive 20 Personen teil. Beide Male startete er mit derselben Frage: Wer von den Anwesenden hat mindestens einen Elternteil mit einem Hochschulabschluss? Die Verblüffung war gross, als in der ersten Gruppe gar niemand, in der zweiten nur ein paar wenige sich meldeten. Denn das, sagt er, widerspreche jeder Statistik. Weshalb er zum Schluss gekommen ist: «Wer selbst eine solch untypische Laufbahn vorzuweisen hat, ist für das Thema offenbar stärker sensibilisiert, während die Privilegierten aus den Akademikerfamilien sich ihres Privilegs vielmals gar nicht bewusst sind.» Das Schweizer Bildungssystem, sagt der Journalist, der selbst zur Gruppe der Nicht-Akademiker-Kinder mit Uni-Abschluss gehört, habe anderen Bildungssystemen viel voraus. «Aber man ruht sich etwas auf den Lorbeeren aus und pflegt das Bild vom ‹American Dream›: Wer will und arbeitet, kann alles erreichen.»

So einfach sei es jedoch nicht, hält er entgegen. In seinem Barcamp hat man deshalb nach möglichen Lösungsansätzen gesucht. In kleinen Gruppen beschäftigten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit den einzelnen Schulstufen, denn das Problem, so Nils Pfändler, beginne ja schon bei den ganz Kleinen und setze sich danach über alle Stufen fort. Vorschläge, um dem entgegenzuwirken, waren eine frühere Förderung fremdsprachiger Kinder oder eine spätere Selektion. Für Nils Pfändler ist jedenfalls klar: «Die Benachteiligung von Kindern weniger bildungsnaher Elternhäuser ist nicht nur ungerecht, sie hat auch volkswirtschaftliche Folgen, denn wenn Menschen unter ihren Möglichkeiten bleiben, geht sehr viel Potenzial verloren.»

Verschiedene Personen haben sich in einem Foyer oder Saal zu einem Apéro zusammengefunden. Im Vordergrund stehen zwei Aufsteller mit Plakat.
Die zehnte HSGYM-Herbsttagung fand im November statt. Nun wurde eine Website aufgeschaltet, auf der die «Gastgeber» ihre Anliegen und Erkenntnisse aus den Diskussionen in Form von Essays und Videos präsentieren.

Das Gymi neu denken

Martin Zimmermann, Rektor der Kantonsschule Uetikon am See, stellte sein Barcamp unter den Titel: «Das Versprechen der Gymnasien». Es ging ihm dabei um nicht weniger als darum, das Gymnasium ganz neu zu denken. «Ich bin schon länger der Ansicht, dass es für das Gymi eine neue Vision braucht», sagt er, «denn in vielen Bereichen widersprechen sich heute Ansprüche und Realität.» Immer mehr Stoff in immer kürzerer Zeit zum Beispiel sei eine Entwicklung der letzten Jahre, mit der viele Lehrpersonen haderten. Oder dass heute Wissen jederzeit per Mausklick zur Verfügung stehe, was die Rolle der Lehrpersonen und damit auch den Unterricht stark verändere.

Um die Diskussion in der Gruppe zu konkretisieren, hat Martin Zimmermann einige Parameter herausgegriffen: Stundenplan, Klasseneinheiten, Promotion oder Allgemeiner Hochschulzugang. Sein Angebot wurde gut besucht. Das Thema treibe viele um. «Das Gymi befindet sich in einer schwierigen Phase und wir alle wissen nicht so recht, wohin es gehen soll.» Die Diskussionen seien sehr offen gewesen, er habe aber auch eine gewisse Ratlosigkeit und teilweise auch Ängste wahrgenommen.

Was hat er aus den Diskussionen inhaltlich mitgenommen? Bei den Themen Stundenplan oder Klasseneinheiten könnten sich viele eine gewisse Öffnung vorstellen, lautet seine Antwort, also zum Beispiel mehr Block- und klassenübergreifender Unterricht. Was die Stoffmenge und die Stoffvermittlung angehe, sei der Klärungsbedarf offensichtlich. Schwierig werde es beim Thema allgemeine Studierfähigkeit, die er selbst hinterfragt. «Ich kann mir zwei Optionen vorstellen: Entweder geht es mehr in Richtung Fachhochschulreife durch eine stärkere Vertiefung gewisser Fachbereiche im Hinblick auf ein entsprechendes Studium, oder man definiert die Hochschulreife neu, indem man sie mehr auf das Beherrschen gewisser vom Fach unabhängiger Denkmodi ausrichtet.» Dass ein solches Ansinnen zurzeit kaum auf offene Ohren stossen dürfte, ist ihm jedoch bewusst, ist doch gerade HSGYM im Bestreben entstanden, die Matur als allgemeinen Hochschulzugang zu sichern. Darüber nachzudenken, findet der Uetiker Rektor, könne trotzdem nicht schaden.

Mehr Vielsprachigkeit wagen

Im Barcamp von Ursula Bähler, Professorin für Französische Literaturwissenschaft und Geschichte der Romanischen Philologie am Romanischen Seminar der Universität Zürich, ging es «Wider die Einfalt: Vielsprachigkeit und Diversität». Oder einfacher: um den kulturellen und identitätsstiftenden Wert der Sprachen, der in der heutigen, auf das Englisch fokussierten Welt oft vergessen gehe, wie Ursula Bähler findet, die das Camp gemeinsam mit einem Kollegen und zwei Kantonsschullehrerinnen bestritt. «Es geht uns nicht darum, Französisch oder Italienisch gegen Englisch auszuspielen, sondern um eine bessere Verbindung der Sprachfächer und um die Förderung des Bewusstseins, was Sprache leistet.» Bei Sprache gehe es nämlich immer auch um die Sicht der Menschen, die die Sprache sprächen, auf die Welt.

«Unsere Gesellschaft ist stark auf das Quantifizierbare ausgerichtet», fährt die Romanistin fort, «Englisch ist nützlich, Naturwissenschaften sind wichtig. Das ist zwar richtig, aber nur ein Teil der Wahrheit.» Eine Gesellschaft lebe genauso von kulturellen Identitäten, die sich in Sprache und Literatur äusserten. «Wer nur auf Englisch setzt, verkennt, dass dies zu einer Vereinheitlichung des Denkens und zu einer kulturellen Verarmung führt.» Dabei seien die Mehrsprachigkeit und die Förderung derselben seit 2007 im Schweizer Gesetz verankert. Zu den vier Landessprachen kämen die vielen weiteren Sprachen, die in der Schweiz in den Familien gesprochen würden. «Wir hätten alles, um Plurilinguismus zu leben, nutzen dieses Potenzial aber kaum.»

Hätte sie noch eines Beweises für die Richtigkeit ihrer Einschätzung bedurft, an der HSGYM-Tagung hat sie ihn erhalten. Das Interesse an ihrem Barcamp sei zwar vorhanden gewesen, gekommen seien aber fast nur jene, die sich ohnehin mit dem Thema beschäftigten. Was sie auf die Idee brachte, dass man an einer nächsten Veranstaltung dieser Art alle Teilnehmenden explizit auffordern sollte, ein Barcamp zu einem fachfremden Thema zu besuchen. Und wie könnten Lösungen zur Förderung der Vielsprachigkeit aussehen? Das Prestige der Fremdsprachen müsste in den Schulen schon früh vermittelt werden, sagt Ursula Bähler. Und an den Gymnasien könnten die Lehrpersonen der romanischen Sprachen zum Beispiel vermehrt zusammenarbeiten, um bei den Schülerinnen und Schülern das Verständnis für die Gemeinsamkeiten sowie das Interesse an den Sprachen zu wecken. Auch Schwerpunktfächer über die traditionellen Fachgrenzen hinweg seien denkbar, etwa zum Thema «Postcolonialisme».

Was die HSGYM-Herbsttagungen betrifft, so plane man im Moment keine Wiederholung der Barcamps, sagt Leiter Aleksandar Popov, der eigentlich erst diesen Sommer, nach dem geplanten Rücktritt seines Vorgängers Martin Andermatt, in diese Rolle hätte schlüpfen sollen. Nachdem der Rektor der Kantonsschule Wiedikon Ende des vergangenen Jahrs bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war, übernahm er die Leitung schon Anfang Januar – bis zu seiner offiziellen Berufung zunächst informell – und ist nun daran, die Organisation und ihre Projekte besser kennenzulernen.

In einem Klassenzimmer hält Niklaus Schatzmann, Chef des Mittelschul- und Berufsbildungsamtes, einen Vortrag. Schatzmann sitzt auf einem Schulpult.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der HSGYM-Herbsttagung diskutierten Fragen zur Zukunft der Gymnasien. Unter den «Gastgebern» war Niklaus Schatzmann, Chef des Mittelschul- und Berufsbildungsamtes.

Essays und Videos sind online

Zu den Barcamps wurde inzwischen eine Homepage aufgeschaltet, auf der die «Gastgeber» ihre Anliegen und allfällige Erkenntnisse aus den Diskussionen in Form von Essays und Videos präsentieren. An der nächsten Herbsttagung wird das Thema «Leistungsansprüche» im Fokus stehen. Die Fachkonferenzen werden für ihren Austausch wieder mehr Zeit haben, dies sei nach der letzten Tagung auch ihr Wunsch gewesen, sagt Aleksandar Popov. Das Gefäss sei wichtig, findet er selbst. Schliesslich seien die Mitwirkenden die Multiplikatoren, über welche die diskutierten Themen in die eigenen Fachkreise zurückgetragen würden. «Letztlich geht es uns allen um die Schülerinnen und Schüler, die dazu befähigt werden sollen, ihren Weg in unserer Gesellschaft zu gehen. Das sind alles junge Menschen mit Träumen, Hoffnungen und Erwartungen – und ganz viel Talent.»

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