Selber denken macht glücklich

Im Lernclub Philosophieren an der Schule Triemli in Zürich denken die Schülerinnen und Schüler über die wichtigen Fragen des Lebens nach. Sie lernen dabei, zu argumentieren und zuzuhören. Aktuell steht das Thema Glück auf dem Programm. Wie eine solche Stunde abläuft und was für die Kinder Glück ist, zeigt ein Besuch vor Ort.

Text: Pascal Turin, Illustration: Ruedi Widmer

Dienstagmittag im zweiten Stock des Pavillons 1: Die Schülerinnen und Schüler sind gerade mit dem Mittagessen fertig geworden. Einige haben etwas von zu Hause mitgebracht, andere haben Essen im Hort geholt und ins Klassenzimmer mitgenommen. Die letzten Lunchboxen verschwinden im Schulthek. Die Stimmung ist locker, es wird viel gelacht, die altersdurchmischte Gruppe freut sich auf die Stunde – obwohl sie ausserhalb der regulären Schulzeit stattfindet. «Nehmt euch Hocker und bildet einen Kreis», sagt Barbara Fauster. Sie ist Fachlehrperson Integrierte Begabungs- und Begabtenförderung – kurz IBBF – an der Schule Triemli in der Stadt Zürich.

Auf dem Boden im Kreis liegt ein Papier, auf dem «Be Happy» steht. Diesen Spruch hat die Lehrerin im Supermarkt als Aufdruck auf Servietten entdeckt. Nun möchte sie von den Kindern wissen, was die Aussage bei ihnen auslöst. «Solche Sätze machen mich ein wenig glücklicher», sagt eine Schülerin. «Es ist ein schöner Spruch», bestätigt ein Schüler. Eine andere Schülerin widerspricht vehement: «Der Spruch wirkt wie ein Befehl auf mich.» – «Funktioniert der Befehl?», fragt die Lehrerin. «Nein!», erschallt es unisono. Die Hand heben muss niemand, es soll eine freie Diskussion entstehen. Das klappt auch ganz gut, Barbara Fauster muss nur selten eingreifen und für Ruhe sorgen. Der Konsens nach einer kurzen Diskussion ist, dass «Be Happy» zwar positiv wahrgenommen wird, aber der Spruch allein nicht glücklich macht.

Viele Anmeldungen

Der Lernclub Philosophie wird altersdurchmischt geführt. Jeweils von Ferien zu Ferien kommen einmal in der Woche abwechslungsweise Unterstufe oder Mittelstufe zum Zug. Beim Besuch des «Schulblatts » sind es elf Schülerinnen und Schüler der 4. bis 6. Klasse, die über das Thema Glück philosophieren. Diskutiert werden unter anderem folgende Fragen: Wo bist du glücklich? Was bedeutet Glück? Ist ein reicher Mensch glücklicher als ein armer? Die Kinder sollen ihre Gefühle ergründen und sie benennen. «Ich fühle mich immer richtig glücklich, wenn ich in der Badi vom Zehn-Meter-Turm gesprungen bin», sagt ein Sechstklässler. «Weshalb fühlst du dich danach glücklich?», fragt Fauster nach. «Wegen des Adrenalins», antwortet der Schüler. «Wenn man angespannt ist, werden Hormone ausgeschüttet. Zum Beispiel das Stresshormon Adrenalin oder auch Glückshormone wie Dopamin», ergänzt die Lehrerin.

Grundsätzlich dürfen sich alle für den Lernclub anmelden. Das Angebot gehört zwar zum Bereich Begabungs- und Begabtenförderung der Schule, allerdings soll der Zugang so niederschwellig wie möglich sein – nach dem Motto «Fördern auf Verdacht». Voraussetzung ist allerdings, dass die Schülerinnen und Schüler die Fähigkeit mitbringen, gut zuhören und eigene Argumente formulieren zu können. Zudem ist die Zahl der Plätze beschränkt. «Die ideale Gruppengrösse wäre acht Kinder», stellt Fauster fest. Da aber wegen der Pandemie länger kein Lernclub stattfand, gab es einen leichten Anmeldestau. Eine Fünftklässlerin ist schon zum zweiten Mal dabei: «In der 2. Klasse war ich auch schon da, aber damals konnte ich noch nicht so gut mitdiskutieren.»

Auf einer grünen Wolke stehen ein Kind und zwei erwachsene Personen, die mit dem Kind schimpfen. Das Kind denkt «Man kommt nicht als Kind auf die Welt – man wird es».
Seit der Einführung des Lehrplans 21 gehört das Philosophieren zum Unterricht. Das «Schulblatt» geht der Frage nach, warum das wichtig ist. Für ein Augenzwinkern sorgen die Illustrationen von Ruedi Widmer.

Meinungen bilden

Wie in Kindergarten, Primarschule und Sekundarschule philosophiert wird, unterscheidet sich von Schule zu Schule und von Klasse zu Klasse. Philosophieren gehört seit der Einführung des Fachbereichs «Religionen, Kulturen, Ethik (RKE)» im Lehrplan 21 auf allen Stufen der Volksschule zum Unterricht (siehe Kasten).

Die Idee ist, dass die Kinder und Jugendlichen sich mit ihren eigenen Haltungen sowie Überzeugungen auseinandersetzen und diese argumentativ zu begründen lernen. In der Unterstufenklasse von Lehrerin Kamla Zogg an der Schule Im Widmer in Langnau am Albis ist das Philosophieren bereits etabliert. Vergangenen Herbst wurde sogar im Radio SRF über ihren Unterricht berichtet. «Beim Philosophieren üben die Kinder das wissenschaftliche Denken», sagt Kamla Zogg. Dass einzelne Schülerinnen und Schüler damit überfordert sind, glaubt Zogg nicht. «Ich lege jeweils ein Augenmerk auf ruhigere Kinder und sorge dafür, dass auch sie in die Gespräche eingebunden sind.» Bei Erstklässlern müsse man noch mehr anleiten und Gedanken zusammenfassen, Drittklässler könnten schon sehr selbstständig diskutieren und würden aufeinander Bezug nehmen.

Den Philosophie-Lernclub in dieser Form im «Triemli» hat Barbara Fauster vor fünf Jahren ins Leben gerufen. Doch schon vor 20 Jahren, also bevor der Lehrplan 21 das Thema auf allen Stufen vorschrieb, philosophierte sie mit ihren eigenen Klassen. «Ich finde es wichtig, dass die Kinder lernen, selbst nachzudenken, sich eigene Meinungen zu bilden und sich zu positionieren.» Für sie ist klar, dass regulär im Unterricht philosophiert werden soll, nicht nur in RKE, sondern auch in Deutsch oder Mathematik. Immer wieder werde sie von Klassenlehrpersonen für einzelne Lektionen angefragt. Ihren Lernclub sieht sie als Ergänzung. «Wenn die Kinder freiwillig über Mittag kommen, haben sie eher die Musse, sich mit einem Thema zu beschäftigen», ist die Fachlehrperson überzeugt.

Keine Heftkontrolle

Nach der gemeinsamen Einführung sowie einer spannenden Diskussionsrunde steht selbstständiges Arbeiten auf dem Programm. Jetzt ist nochmals Konzentration gefragt, und das fällt nicht allen leicht. Barbara Fauster nimmt es mit Humor und verteilt Arbeitsblätter. In einer Sprossenwand oder Leiter mit leeren Feldern sollen die Kinder notieren, was Glück für sie selbst, für andere Menschen und für alle Menschen ist. «Es gibt nichts, was alle Menschen gleich glücklich macht», findet jemand. Einige schneiden die Sprossenwand aus und kleben sie in ihr Heft, andere zeichnen eine eigene. Ein Schüler blickt auf das noch leere Blatt und murmelt: «Manchmal fällt einem etwas ein, manchmal nicht.» Er versucht einen Blick auf das Heft seiner Sitznachbarin zu erhaschen. «Wenn ich lese, fühle ich mich schwerelos und dann bin ich glücklich», sagt eine Sechstklässlerin.

Es gibt kein Richtig oder Falsch, doch die eigenen Gedanken aufs Papier zu bringen, ist eine Herausforderung. Barbara Fauster versucht, möglichst wenig Einfluss zu nehmen. «Ich schaue den Schülerinnen und Schülern zwar über die Schulter, aber ich kontrolliere ihre Hefte nicht.» Und ehe man sichs versieht, ist die Stunde bereits um. Für die eigentlich geplante Schlussrunde reicht am Ende die Zeit nicht. Doch das ist kein Problem. Barbara Fauster wird den Faden in der nächsten Stunde wieder aufnehmen.

Philosophieren ist Teil des Lehrplans

Seit der Einführung des Lehrplans 21 gehört das Philosophieren im Kanton Zürich im Rahmen des Fachs «Religionen, Kulturen, Ethik» – kurz RKE – auf allen Stufen zum Unterricht. RKE verfolgt das Anliegen, dass sich die Kinder und Jugendlichen mit religiösen und kulturellen Traditionen auseinandersetzen und ethische Herausforderungen wahrnehmen. Im Fachbereich Ethik sollen die Schülerinnen und Schüler über menschliche Grunderfahrungen wie Glück, Angst, Erwachsenwerden, Beziehungen und Tod nachdenken. Ebenso können sie auf ethische Fragen und Normen aufmerksam gemacht werden. Wichtig ist, dass die Kinder und Jugendlichen dabei von der Lehrperson begleitet werden. Besonders bei existenziellen Fragen ist Sensibilität gefordert.

Als Faustregel geht das Volksschulamt (VSA) von einem Anteil von bis zu zwölf Lektionen Ethik in RKE pro Schuljahr aus. Gleichzeitig soll das Thema auch in anderen Fachbereichen behandelt werden, wie es beispielsweise in der Broschüre «Ethik in der Volksschule» des VSA empfohlen wird. Das vom Lehrmittelverlag Zürich entwickelte und obligatorische Lehrmittel «Schauplatz Ethik» mit Teilen für Kindergarten bis Sekundarschule fördert philosophisches Nachdenken und ethische Urteilsfähigkeit. In den gedruckten «Schauplatz»-Büchern wird mit Illustrationen gearbeitet, die als Einstieg für die Diskussion über mögliche philosophische Fragen und ethische Herausforderungen genutzt werden können. Das Lehrmittel ermöglicht Bezüge zu anderen Fachbereichen. Der digitale Kommentar dient als Anleitung für die Unterrichtsplanung und stellt Fachwissen zur Verfügung. Zudem enthält er Arbeitsmaterialien. [pat]

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