Künstlerische Arbeit verändert den Blick

Der Kulturbon ist ein Förderangebot für leistungsstarke Lernende der Schule für Gestaltung Zürich. Diesen Herbst fand in diesem Rahmen ein ganz besonderes kreatives Grossprojekt statt.

Text: Walter Aeschimann, Foto: Sophie Stieger

Das «Schau!fenster» im Gebäude Konradshof an der Limmatstrasse ist mit einer schmierigen Masse überklebt. Es sind befeuchtete Samen, die bald grünen sollen. Eine Klarsichtfolie verhüllt den Brei. Ausgespart sind Vierecke, durch die man sehen kann. «Wir können nach aussen schauen. Zugleich kann von aussen gesehen werden, was in diesem Raum passiert», sagt Sarah Viveiros, Polydesignerin 3D im dritten Lehrjahr. Im Werkraum ist das Chaos ausgebrochen – so der erste Eindruck. Die Wände sind mit bunten Zetteln vollgepinnt. Am Boden liegen Papierbogen, auf denen mit raschen Strichen diverse Konzepte hingezeichnet sind. Bühnenscheinwerfer stehen da, auch Farbtöpfe, am langen Tisch schreiben junge Menschen am Computer, andere diskutieren, schnipseln Papier oder denken nach, «wie die Energie des Schulgebäudes nach aussen strahlt», sagt Noemi Nuñez, Lernende Medientechnologie Siebdruck im 4. Lehrjahr. Sie gehört zu einer Gruppe, die ein spezielles Kunstprojekt erzeugt.

Teil des Förderkonzepts

Wir sind zu Besuch in der Schule für Gestaltung Zürich (SfGZ). Das Gebäude an der Limmatstrasse 55/57 wird im kommenden Frühling abgerissen. Dies bot die Chance, ein aussergewöhnliches Gruppenprojekt durchzuführen. In den letzten zwei Septemberwochen durften 15 Lernende aus verschiedenen gestalterischen Berufen das Gebäude «künstlerisch bespielen», wie Abteilungsleiter Mathias Hasler sagt: «Speziell am diesjährigen Projekt ist, dass doppelt so viele Lernende wie gewöhnlich teilnehmen konnten. Es dient zudem einem innerschulischen Zweck. Verschiedene Berufe kommen zusammen und tauschen ihre fachlichen Kompetenzen aus. Dies ist eine grosse Bereicherung und macht das Projekt so spannend.»

Das Projekt findet im Rahmen des Kulturbons statt, eines kulturellen Bildungsangebots für Lernende. In Gruppen oder Einzelprojekten können sie während zwei bis acht Wochen eigene künstlerische Arbeiten entwickeln. «Sie sollen eine kreative Auszeit von der Berufsarbeit erhalten und dabei gestalterische Arbeitsprozesse kennenlernen», erklärt Judith Hollay Humm, mittlerweile pensionierte Lehrerin für Allgemeinbildenden Unterricht der SfGZ und vor sieben Jahren Initiantin und Mitgründerin des Kulturbons. Als Partnerin mit im Boot ist die Oberstufenschule Wädenswil. Ein Ziel sei, dass die Lernenden durch künstlerische Arbeit eigenständiger würden. «Sie sollen mit Formen der Kommunikation und Darstellung experimentieren und somit neue Sichtweisen auf ihren Beruf gewinnen.» Ein wesentliches Kriterium für die Teilnahme ist eine überdurchschnittliche schulische Leistung – ein Notendurchschnitt von 5,3 oder höher. Der Kulturbon ist Teil des Förderkonzepts der SfGZ und richtet sich speziell an leistungsstarke Lernende.

Sich auf den Prozess einlassen

Das Mittelschul- und Berufsbildungsamt (MBA) und der gemeinnützige Fonds für Bildung haben das diesjährige Gruppenprojekt finanziell unterstützt. «Das Gruppenprojekt ermöglicht leistungsstarken Lernenden, Erfahrungen im projektbasierten Arbeiten zu sammeln», sagt Sylvia Minder-Keller, Leiterin der Organisationseinheit Fachstellen und Projekte im MBA. Die Jugendlichen könnten damit ihren persönlichen und beruflichen Horizont erweitern. «Das Angebot des Kulturbons stellt eine sinnvolle Ergänzung zum bereits bestehenden Schulprogramm dar.»

Ein Expertenteam begleitet die Lernenden. Dabei handelt es sich meistens um junge Kunstschaffende aus der Region. Diesmal sind es Nathalie Stirnimann, Stefan Stojanovic und Dino Radoncic, die sich in Szenografie, Performances, Worten und Objekten ausdrücken, um Grenzen von Kunst und Gesellschaft auszuloten. «Die Besonderheit in diesem Projekt war, sich auf die Gruppendynamik und einen Prozess einzulassen», sind sie sich einig. Zuerst speisten sie eigene Ideen ein, zeigten den Jugendlichen künstlerische Praktiken auf und studierten mit ihnen Referenzprojekte von anderen Künstlerinnen und Künstlern. Dann sammelten sie in der Gruppe «unterschiedliche Gedanken von den unterschiedlichen Köpfen», sortierten die Ideen und fügten sie mittels eines kollektiven Mindmaps in verschiedene Zusammenhänge ein. «Wir wollen die Lernenden mit kreativen Feedbacks unterstützen, ihre eigenen Ideen zu entwickeln. Aber auch dazu animieren, sich nicht auf die erste Überlegung zu versteifen», sagen Stirnimann und Radoncic. Schliesslich kombinieren sie die Gedanken zu einem «Gruppenganzen». Aus dem laufenden Prozess ist ein grober Ablauf zu erahnen. Ein pochendes Herz gibt den Rhythmus vor. In diesem Takt wird das Haus mit eigenen Geschichten und vielfältiger Natur belebt. Die künstlerischen Mittel sind Sprache, Handlung, Licht, Ton und Installationen.

Auslegeordnung an der Berufsschule für Gestaltung: Verschiedenfarbige Zettel an der Wand und auf dem Boden
Kreative Arbeit braucht Raum und Zeit. An der Berufsschule für Gestaltung durften sich leistungsstarke Lernende diesen Herbst einer Bespielung ihres Schulhauses widmen.

Bespielung der Aussenfassade

Noemi Nuñez und Veronica Zäch, Lernende Siebdruck im 4. Jahr, hatten gehofft, dass in einzelnen Räumen «mehr möglich ist, weil das Gebäude sowieso abgebrochen wird». Die Gruppe hat jedoch entschieden, wegen Corona nur die blaue Aussenfassade zu bespielen. Nun müssen die beiden jungen Frauen umdenken. Im Hinterhof brüten sie darüber nach, wie sie «das Herz des Gebäudes künstlerisch umsetzen» können. «Willst du sehen, was wir machen?» Sie führen den Besucher in den zweiten Stock, in einen Raum, der blutrot ausgeleuchtet ist. «Von hier wird mit Licht und Ton der Sound des Hauses gegen aussen dringen.» Sarah Viveiros schneidet derweil im Werkraum farbige Papiergirlanden aus. Sie findet es «spannend, mit ausgebildeten Künstlern zusammenzuarbeiten», und hat sich von den Inputs «inspirieren lassen».

Zoe Schacht, Polydesignerin 3D im 3. Lehrjahr, hatte in den ersten Tagen viele Fragen: «Was ist möglich? Was ist die Gruppenaussage? Was will ich sagen?» Amy Storay, Medientechnologin im 3. Lehrjahr, hat herausgefunden, dass es manchmal Zeit und Geduld braucht, um eine Idee weiterzuentwickeln: «Man muss einen Schritt zurücktreten und eine Pause machen.» Lea Widmer, Polydesignerin 3D im 3. Lehrjahr, findet «die Chance toll, mit coolen Leuten an einem Projekt zu arbeiten, das für mich Bedeutung hat». Und Dominik Wüthrich, Medientechnologe im 3. Lehrjahr, will «etwas tun, das bleibt, auch wenn das Gebäude nicht mehr ist». Ihre grosse Frage ist momentan, was es braucht, damit das Haus «lebendig wirkt».

Christian Theiler, Lehrer der Abteilung Grafik, und Eva Gattiker, Lehrerin für Allgemeinbildung, leiten das Projekt. «Jeder Kulturbon ist anders. Es ist wie ein Blick in die Kristallkugel. Man weiss nie genau, was geschehen wird. Wir haben erst im Laufe der Woche gemerkt, dass Licht eine Rolle spielen könnte», sagt Theiler. Speziell war ausserdem, dass das Thema gegeben war. Unter dem Titel «Building’s stories and building stories» musste das Haus maximal einbezogen sein. Damit die Aktion auch einen «verwertbaren» Charakter hat, führen die Lernenden ein Arbeitsbuch. Dafür erhalten sie am Ende des Projektes eine Rückmeldung, die als Referenz in ihren Lebenslauf einfliessen kann.

Letztlich soll die Aktion allen – inklusive Passanten – einen neuen Blick auf das vertraute Gebäude vermitteln. «Das Projekt hat einen performativen Charakter», sagen Stirnimann und Radoncic. «Es braucht viel Beweglichkeit, wie im Alltag. Den Alltag haben wir auch nicht immer im Griff. Wie jedes Projekt ist auch dieses live und im Prozess. Vielleicht wird es nie fertig.» Am Abend vor der öffentlichen Premiere arbeiten alle intensiv bis in die Nacht hinein, damit es doch fertig wird. «Es war schön, wie alle Rücksicht aufeinander genommen haben», finden Stirnimann und Radoncic. Als «Punktlandung» bezeichnet Theiler die letzte Phase: «Ich finde, es ist extrem schön geworden.»

Geglückte Premiere

Der Premierenabend. Die klebrige Masse am «Schau!fenster» ist unterdessen grün. Auf dem Trottoir vis-à-vis schauen Lernende, Lehrpersonen, Angehörige und Passanten zur Fassade hoch. Dazwischen hält das Tram. Passagiere blicken verwundert aus dem Fenster und denken wohl, dass hier Kurioses geschehen wird. Man bekommt einen Kopfhörer. Es ist dunkel. Ein Fenster öffnet sich, das blutrote Licht dringt nach aussen, gleichzeitig ist über den Kopfhörer ein Puls zu vernehmen. «Das ist ja wie in Amsterdam», sagt ein Passant, der vorübergeht. In unterschiedlichen Rhythmen gehen in anderen Zimmern Lichter an und aus. Aus dem Kopfhörer drängen Geschichten von jenen, die hier arbeiten und lernen. Rund eine halbe Stunde lang. Fenster öffnen sich, Papiergirlanden schlängeln sich über den Fensterrand, kleine Lichter blinken und am Schluss zwirbeln Papier-Spiralen auf den Boden.

Die Lernenden sind erleichtert, dass die Performance so gut funktioniert hat. Sie erhalten eine Rose und herzen ihre Freunde. Widmer fand das Projekt «viel tiefer und intensiver, als ich dachte». Für Wüthrich war es «megaschön, dass am Schluss alles Hände und Füsse bekommen hat». Viveiros ist sehr zufrieden, obwohl sie «bis zum letzten Moment viele Sachen optimieren musste». Für die Kunstschaffenden war es «wahnsinnig schön, wie die Lernenden aufgetaut sind und bis zum Schluss alles gegeben haben». Und Hasler war vorerst «gespannt, wie die kreativen Ideen verschmelzen werden». Nun fand er es «richtig cool».