Wenn sich die Kinder spielend entwickeln
Schulblatt 21.10.2021
Spielen fördert Kommunikation, Selbstständigkeit und Kreativität. Mit dem Projekt «Spielen plus» sollen nun Kinder bis in die zweite Klasse von längeren Spielsequenzen profitieren. Ein Augenschein in der Schule Uster.
Text: Andrea Söldi, Fotos: Sophie Stieger
Die farbig leuchtenden Kügelchen sind gerade hoch im Kurs. Gestern haben die Kinder das Granulat in Wasser eingeweicht. Über Nacht ist es aufgequollen und fühlt sich nun wunderbar glitschig an. Fast alle Kinder des Kindergartens Gujer in Wermatswil, der zur Primarschule Uster gehört, zieht es heute zu dem neuen Spielmaterial. Während Dario und Anouk mit einer kleinen Schaufel die roten und orangen Kügelchen in ein Glas füllen, sucht Timo die gelben und grünen heraus. Elina reicht der Besucherin ein fast volles Glas mit einer bunten Mischung. «Das ist für dich zum Essen», sagt die Vierjährige und freut sich, als die Beschenkte spielerisch am Behälter nippt. Derweil wühlt Livio ganz versunken in einem randvollen Becken und spürt die gelartige Konsistenz der Kügelchen. «Das ist schön angenehm», stellt der Fünfjährige fest.
In einer anderen Ecke des verwinkelten Raums in einem alten Bauernhaus sind die Biber zu Hause. Das Nagetier ist gerade das aktuelle Thema. An den Wänden hängen Kunstwerke mit Biberburgen aus Papierfötzeln und aufgeklebten Tierchen aus Fell. Zwei Mädchen mit Fellohren und Biberschwänzen haben sich in eine Konstruktion aus Tüchern und Wäscheklammern zurückgezogen – ihre Biberburg. Sie sprechen hochdeutsch miteinander und sind vertieft in ihr Rollenspiel. Die weisse Wasserratte scheint einfach nicht zu gehorchen. Immer wieder fliegt sie in hohem Bogen heraus. «Leila, komm zurück», tönt es aus dem Inneren.
Neben der Biberburg rammeln zwei Buben mit grossen Schaumstoff-Klötzen. Dario hat sich grüne Froschaugen aufgesetzt und hüpft wild herum. «Hör auf!», ruft sein Spielkamerad ohne grossen Erfolg. Nun schaltet sich Kindergärtnerin Claudia Knoll ein: «Komm mal zu mir», sagt sie zu dem stürmischen Frosch. «Hast du gehört, was die anderen sagen? Wolltet ihr nicht einen Biberdamm bauen? », fragt sie die zwei Buben, worauf diese gemeinsam noch mehr Würfel aufeinandertürmen.
Möglichst lange Spielphasen
Die Primarschule Uster-Hasenbühl ist Pilotschule des Projekts «Spielen plus». Nicht nur in den Kindergärten, sondern bis zur zweiten Klasse oder auch länger sollen regelmässig ganze Lektionen fürs Spielen zur Verfügung stehen. Denn die Forschung hat gezeigt, dass es in der Regel eine Zeitspanne von mindestens 50 Minuten braucht, bis eine Dynamik in Gang kommt, die einen positiven Effekt hat auf die überfachlichen Kompetenzen wie Zusammenarbeit, Kommunikation, Konfliktlösung, Selbstständigkeit, Entscheidungsfindung und Kreativität. Nachgewiesen sind aber auch Effekte auf die Schulkarriere und die berufliche Entwicklung: Zum Beispiel hat eine Studie von Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm gezeigt, dass leistungsstarke Achtklässler in ihrer Kindheit deutlich häufiger gespielt haben als Jugendliche mit geringem Schulerfolg.
Claudia Knoll ist seit Beginn des Projekts vor zwei Jahren dabei und begeistert vom neuen Ansatz: «Es hat mir total den Ärmel reingezogen.» Sie habe den Unterricht stark verändert, sagt die erfahrene Kindergärtnerin. «Ich wähle das Spielangebot viel bewusster aus und biete möglichst lange Spielphasen an.» Zwar kommt die Klasse nach wie vor jeden Morgen für eine Begrüssung zusammen, singt Lieder, pflegt Rituale wie Geburtstagsfeiern und erhält kurze Inputs, welche die Kinder danach im Spiel vertiefen. Das Begleiten der Kinder während des Spielens sei spannend und anspruchsvoll, sagt Knoll. Aus ihren Beobachtungen leitet sie jeweils die nächsten Lernschritte ab.
Früher sei in den langen Kreissequenzen meist nur ein einzelnes Kind aktiv gewesen, erzählt Claudia Knoll. Zudem sei es schwierig gewesen, den unterschiedlichen Entwicklungsständen gerecht zu werden. Beim freien Spiel dagegen kann die Lehrperson individuell auf das einzelne Kind eingehen und es bei seinen anstehenden Lernschritten unterstützen. Zudem würden vielen Kindern heute die Spielerfahrungen fehlen, bedauert Knoll. «Neben Tennis- und Ballettstunden bleibt kaum Zeit, eigene Ideen zu entwickeln.»
Wert des Spielens erkennen
Für die Integration des freien Spiels in den Unterricht wird die Schule Uster eng von Fachpersonen der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) begleitet. Es sei ein Paradigmenwechsel nötig, betont PHZH-Dozentin Catherine Lieger. Noch immer sei die Meinung verbreitet – auch bei Eltern –, dass Spielen vor allem Zeitverschwendung sei. «Es braucht eine grundlegende Änderung des pädagogischen Verständnisses.»
Die Kinder spielen zu lassen, heisse nämlich keineswegs, dass es sich die Lehrperson einfach machen könne, betont die Forscherin. «Die Kinder benötigen eine enge, professionelle Begleitung.» Zudem müsse auch das freie Spiel gut geplant werden. Lehrpersonen müssten sich überlegen, welche Materialien sie zur Verfügung stellen und welche nicht. Dabei gelte nicht immer der Grundsatz «Je mehr, desto besser», sondern Materialien sollten vielseitig verwendbar und anregend sein. Kinder sollen auch selber schauen, wo sie fehlende Gegenstände beschaffen können. Eine anregende Umgebung sei zum Beispiel auch der Wald, wo die Kinder wunderbar mit Naturmaterialien experimentieren können.
Gleich neben dem Kindergarten Wermatswil wird eine altersdurchmischte Unterstufenklasse unterrichtet, wo Spielen ebenfalls grossgeschrieben wird. Meist dürfen die Schülerinnen und Schüler am Morgen zuerst einmal frei wählen, womit sie sich für mindestens die erste halbe Stunde beschäftigen wollen. Ganz nach Lust und Laune machen sie Gesellschaftsspiele, malen, basteln, bedienen sich in der Bücherkiste oder setzen eigene Ideen um, etwa die, einen Tanz einzuüben. «Wir geniessen die entspannte Atmosphäre beim Ankommen», sagt Klassenlehrerin Barbara Rellstab. «Die Kinder freuen sich auf diesen Einstieg und wir haben Zeit, uns den Einzelnen zu widmen.» Während andere Primarlehrpersonen wegen des grossen Stoffdrucks noch zögern, schaut Rellstab mit ihrer Stellenpartnerin nun bereits, wie sich die Spielzeiten noch ausbauen lassen. Einen ganzen Morgen lang still am Pult zu arbeiten, sei für die Kinder sowieso nicht möglich, weiss die Lehrerin. Sie ist überzeugt, dass sie stark vom freien Spiel profitieren. «Die meisten weisen hohe Sozialkompetenzen auf und helfen einander. Ihnen mehr Spiel zu ermöglichen, war unser bester Entscheid.»
Die Kindergartenkinder sind unterdessen draussen beim Znüni. Wer fertig gegessen hat, darf auf dem Vorplatz spielen. Ein paar Jungs stellen zwei Tore auf und spielen Fussball, während die Mädchen an der Reckstange turnen. Andere fahren mit Fahrzeugen herum, während ein Polizist sie kontrolliert. Nach drei Viertelstunden geht es nochmals zurück ins Kindergartenzimmer. «Enea, du warst schon den ganzen Morgen bei den Chügeli », spricht die Kindergärtnerin einen Jungen an. «Jetzt wäre die Werkbank frei.» Sie hilft dem Knirps, einen Stecken einzuspannen. Das Sägeblatt rutscht immer wieder weg, die kleinen Hände haben noch wenig Kraft. Doch irgendwann bricht das angesägte Stück ab. Enea macht sich nun eifrig daran, die Rinde abzufeilen – wie ein Biber, der an den Ästen nagt.
Reflektieren am Schluss
Nur zu bald ertönt das Glockenspiel, welches das Ende des Morgens ankündet. «Nein!», ruft Dario enttäuscht. Doch nach dem gemeinsamen Lied machen sich alle ans Aufräumen. Enea fegt den Sägestaub zusammen und Liuna rutscht auf den Knien mit Besen und Schaufel den farbigen Kügelchen nach, die immer wieder davonrollen.
Bald sitzen alle im Kreis. Nach dem Froschkonzert, bei dem die Kinder das Quak-Lied mit Rhythmus-Instrumenten begleiten, steht eine kurze Schluss-Reflexion an – ein fester Bestandteil des Konzepts «Spielen plus» und wichtig für den Lernerfolg: Die Kinder denken darüber nach, was ihnen gelungen ist, was nicht und was sie beim nächsten Mal anders machen könnten. «Ich wollte eigentlich zu den Kügelchen, doch alle Plätze waren besetzt. Deshalb bin ich mit Livio zu den Bibern gegangen», sagt Elina und setzt ihr Foto in die Mitte der gezeichneten Leiter. Ganz oben platzieren sich Dario und Anouk: «Wir haben gut zusammengearbeitet. » Erst als alle Gesichter auf der Leiter verteilt sind, stimmt die Klasse das Schlusslied an: «Rot und grüen und gääl und blau. Mir säged alli tschau.»
Das Projekt «Spielen plus»
Das Projekt «Spielen plus» wurde an der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) entwickelt. Es basiert auf der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass das Spiel im Alter von vier bis acht Jahren die zentrale Lernform ist, wobei Spielen und Lernen vom Kind als Einheit empfunden werden. Im Rahmen des Lehrplans 21 fordert der Kanton Zürich, dass Kinder im 1. Zyklus möglichst viel Gelegenheit erhalten, während längerer Sequenzen zu spielen. Das freie Spiel soll fester Bestandteil der Unterrichtspraxis werden. Dabei sollen die unterschiedlichen Formen des Spiels gleichermassen zum Zug kommen: Funktionsspiele, Symbolspiele, Rollenspiele, Konstruktions- und Regelspiele.
Zurzeit wird das Konzept an 35 Pilotklassen im Kanton Zürich in die Praxis umgesetzt. Bereits längere Erfahrungen haben Schulen in Zug und Basel. Für die Weiterverbreitung der Idee stehen umfangreiche Unterlagen zur Verfügung: Auf der Website www.spielenplus.ch sind rund 50 Filme öffentlich zugänglich. Sie zeigen zahlreiche Spielsequenzen verschiedener Klassen sowie Interviews mit Fachpersonen und Beteiligten. Ab 2022 soll ein Bereich mit Filmen dazukommen, der sich an die Eltern wendet und die Idee hinter «Spielen plus» erklärt. Zudem steht ein Lehrmittel zur Verfügung.
Im November 2021 startet der erste CAS an der PHZH. Zudem sind Weiterbildungen an der PHZH sowie schulinterne Weiterbildungen geplant.