Den Journalismus üben

Seit mehr als 30 Jahren bietet die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» (FAZ) das Projekt «Jugend schreibt» an. Schülerinnen und Schüler verfassen im Rahmen des Klassenunterrichtes Texte, die in der FAZ veröffentlicht werden. Mit dabei sind auch zwei Zürcher Kantonsschulen.

Text: Walter Aeschimann, Fotos: Hannes Heinzer

Bei Halisa Jusmani war die Euphorie zuerst nicht so gross. Dann hat ihr das Schreiben immer mehr Spass gemacht. Es sei wie ein Tanz gewesen: «Man geht nicht nur vor, sondern auch zurück und zur Seite.» Für Simeon Kind war das Zeitmanagement wichtig: Thema wählen, Interviewtermine koordinieren, Text schreiben. Dennis Pfister fand «die Idee cool, ein junges Publikum für das Medium Zeitung zu begeistern, indem man es aktiv daran teilhaben lässt». Martin Maligec schliesslich fand «es super, dass man Schülern die Möglichkeit gibt, in einer der grössten Zeitungen so viele Artikel zu verfassen, wie man will».

Die vier Schülerinnen und Schüler besuchen die Kantonsschule Uetikon am See. Zurzeit bewältigen sie die Vormatura- Prüfungen und wollten keinen zusätzlichen Stress mit dem «Schulblatt»-Journalisten. Der Austausch fand deshalb online statt. Im Rahmen des Deutschunterrichts haben sie am Projekt «Jugend schreibt» teilgenommen. Von allen ist bisher mindestens ein Text erschienen.

Das überregionale Projekt «Jugend schreibt» wird seit rund 30 Jahren von der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» (FAZ) angeboten. Es startet jeweils am 1. Februar und endet am 31. Januar des Folgejahres. Über 100 Schulen oder fast 2000 Lernende schreiben Texte, die in einer der bedeutendsten deutschsprachigen Zeitungen veröffentlicht werden. In der Regel sind die Jugendlichen 16 bis 18 Jahre alt. Sie erhalten gratis ein Jahres-Abonnement der FAZ – früher als gedruckte Ausgabe, heute als E-Paper. Den betreuenden Lehrpersonen wird auf der FAZ-Redaktion vor Projektbeginn ein einführendes Seminar in Medienkunde angeboten.

Medienkunde als Basis

Die Kantonsschule Zürich Oberland (KZO) in Wetzikon macht seit vier Jahrgängen mit. Seit einem Jahr ist auch die Kantonsschule Uetikon am See dabei. Der Grund ist einfach: Jürg Berthold, der das Projekt an der KZO als Deutschlehrer startete, ist unterdessen Prorektor in Uetikon. Aus der Schweiz macht ausserdem die Kantonsschule Trogen mit. Berthold hat als junger Deutschlehrer an einer Weiterbildung von diesem Projekt erfahren, wie er erzählt. Damals dachte er, dass es ihn vielleicht überfordern würde. Einige Jahre später sah er ein Inserat in der FAZ und hat sich als Lehrer der KZO beworben. Das Projekt startet er meistens im Rahmen eines Semesters in Medienkunde. Das Ziel sei, die Schülerinnen und Schüler an den anspruchsvollen Journalismus heranzuführen: «Sie sollen die Wirkung von Nachrichten unterscheiden, längere Argumentationen oder vertiefte gesellschaftliche Debatten verstehen.»

Projektspezifisch lesen sie danach Artikel und analysieren, wie diese aufgebaut sind. Sie lernen selektives Lesen sowie Schreibtechniken, um eigene Artikel zu verfassen. Dann diskutieren sie die Themen, die sich eignen könnten. Meistens sind es «Alltagsthemen», die eine Person und ihre Tätigkeit in den Mittelpunkt stellen. So lautet auch die Vorgabe der FAZ. Martin Maligec hat die Themen nach seinen Wünschen, Interessen und Erinnerungen ausgewählt und ist gut damit gefahren. Er schrieb über einen Pistenbullyfahrer, «weil ich schon immer in einem Pistenbully mitfahren wollte». Dennis Pfister fand die Themen «über eigene Recherchen und Vitamin B». Er porträtierte ein Sauerteighotel. Halisa Jusmani wollte erst über die Verfasser von «Glückskeksnachrichten» schreiben, fand aber keine entsprechende Person – «was mich ziemlich den Kopf hängen liess». Sie machte sich auf die Suche nach seltenen Berufen und wurde fündig: eine Epithetikerin, die Gesichtsprothesen herstellt, und einen Bombologen, der sich mit Hummeln befasst.

Gut organisiert recherchieren

Die Schüler schlagen das Thema dem Lehrer vor. Dieser unterbreitet es dem zuständigen Redaktor in Frankfurt, der meist zeitnah sein Einverständnis oder – selten – die Ablehnung mailt. Am meisten Mühe bereite ihnen der erste Schritt, sagt Prorektor Jürg Berthold. Sie müssen eine Person ansprechen und um ein Gespräch bitten. Manchmal seien es auch bekanntere Persönlichkeiten, bei denen sie sich nicht recht getrauen. «Sobald sie merken, wie bereitwillig die Menschen mitmachen, geht es besser.» Maligec erinnert sich, dass keine Frage unangenehm war. «Und dass die frechsten Fragen am ausführlichsten beantwortet wurden.» Jusmani hat besonders berührt, wie die Epithetikerin mit vollem Herzblut hinter ihrer Arbeit stehe. Alle vier fanden es besonders spannend, neue Menschen kennenzulernen und sich in ein völlig neues Thema zu vertiefen.

Die Lernenden geben eine erste Textfassung ab. Berthold gibt eine Rückmeldung, stellt Fragen, macht auf Ungenauigkeiten aufmerksam. «Wenn mir etwas seltsam vorkommt, recherchiere ich manchmal nach.» Der Text wird bearbeitet, bis er eine Chance hat, von der FAZ angenommen zu werden. Danach wird der Artikel auf der Redaktion nochmals redigiert, geht hin und her, bis er druckreif ist. Dazu Halisa Jusmani: «Einige Sätze musste ich vier, fünf Mal umstellen oder gar entfernen, während ich andere aus der Erstfassung lassen konnte. Absätze, die ich für sehr gut hielt, fanden andere unnötig. Somit entstanden stundenlange Überarbeitungen, bis man die perfekte Fassung hatte.» Maligec spürte «den ständigen Druck, dass der Text gut sein muss, um angenommen zu werden».

Juerg Bertold lehnt sich an einem Schreibtisch an. Er hat Unterlagen in der Hand und lächelt.
Jürg Berthold, Prorektor der Kantonsschule Uetikon am See, ist vom Lerneffekt des Projekts «Jugend schreibt» überzeugt. Quelle: BI / Hannes Heinzer

Teilnahme am Fazit-Preis

Die Textsorte ist eine Mischung aus Reportage und Porträt. Die Personen sollen in der direkten Rede vorkommen und die Zitate müssen gegengelesen sein. Die Recherchen und das Schreiben finden meistens in der Freizeit statt. Immer mittwochs erscheinen drei Schülerbeiträge auf der FAZ-Seite «Jugend schreibt» und auf der Internetseite des Projekts. Am Ende prämiert eine Jury die besten Texte. Wer es schafft, in einem Jahrgang drei «Aufmacher»-Artikel zu publizieren, ist zur Teilnahme am Fazit-Preis berechtigt. Die Fazit-Stiftung fördert das Projekt. Die Preisverleihung findet im Rahmen einer grossen Abschlussfeier in den Räumen der FAZ statt. Elisa Ter Hakel, Schülerin an der KZO, hat einen Preis für ihre vier Aufmachertexte erhalten, unter anderem für das Porträt einer Pilzkontrolleurin.

«Ein Haupteffekt des Projektes ist, dass die Lernenden intensiv an einem Text arbeiten, um Formulierungen ringen und den passenden Begriff suchen. Das ist im Schulalltag schwierig zu erreichen», sagt Berthold. «Wenn ich sagen kann, dass der Artikel möglichweise publiziert wird, ist die Motivation, am Text zu feilen, ungleich grösser.» Ein weiterer Pluspunkt sei, dass die Jugendlichen Einblicke in ein Stück Realität erhielten und diese genau beobachteten, um den Text zu schreiben. Diese Erfahrungen macht auch Franziska Meister, Prorektorin und Deutschlehrerin an der KZO. Sie führt dort das Projekt weiter. «Die Lernenden machen in diesem Projekt viel grössere Fortschritte als im Schulalltag. Sie haben keine andere Wahl. Denn sie schreiben nicht für mich, sondern für ein anspruchsvolles Publikum.» Sie als Lehrerin habe deshalb eine andere Rolle. Der zeitliche Aufwand als Betreuerin und «Redaktorin» sei aber recht gross. Auch sie müsse die zahlreichen Texte «intensiv durcharbeiten».

Stolz, Freude und Erleichterung

Die Kantonsschule Uetikon am See nimmt in diesem Projektjahr nicht an «Jugend schreibt» teil. Einen Einblick ermöglicht jedoch ein Besuch in der Klasse A5 im Schulhaus Bühl der KZO. 19 Schüler und Schülerinnen, die drei Semester vor der Matura stehen, treffen sich jede Woche eine Stunde für das Projekt. Heute bilden sie im Klassenraum kleine «Redaktionsteams ». Sie suchen gemeinsam Themen und prüfen sie auf ihre mediale Tauglichkeit. Eine Schülergruppe berät über eine spezielle Beiz im Zürcher Oberland. Eine andere diskutiert über einen Mann, der Schwemmmaterial zu Küchenmessern verarbeitet. Nino Cantieni schreibt schon einen Fragenkatalog. Er hat die Recherche für sein Thema – die Schweizer Luftüberwachung – schon arrangiert. Das Schwierigste sei nicht die Themensuche oder das Schreiben, sondern die Organisation der Recherche, sagen alle in der Klasse.

Von Cornelia Spillmann wurde soeben ein Text über das Klangmuseum in Dürnten publiziert. «Es war recht ungewohnt, als der Text erschienen ist. Aber ich habe viele Rückmeldungen erhalten. Alle waren begeistert», sagt sie. Halisa Jusmani, der Schülerin aus Uetikon, ergeht es ähnlich: «Ich realisiere nicht wirklich, dass meine Texte in einer grossen europäischen Zeitung zu finden sind. Trotzdem ist es ein besonderes Gefühl. Es ist eine Mischung aus Stolz, Freude und Erleichterung. » Ihr Schulkollege Martin Maligec kann nun von sich sagen, dass er sehr gut im Schreiben sei. Und Simeon Kind wurde bewusst, «dass ein Zeitungsartikel mit mehr zeitlichem Aufwand verbunden ist, als ich gedacht hatte». Trotz der Erfolgserlebnisse wird ihre Berufswahl kaum auf den Journalismus fallen. Für einige ist die Entscheidung noch zu weit weg. Andere wissen schon, dass sie Mediziner oder Anwalt werden wollen.

Nicht jeder Artikel wird publiziert. Von fast allen ist mindestens ein Text erschienen. Die Schweizer Teilnehmerschulen seien aber sehr gut vertreten, sind sich Jürg Berthold und Franziska Meister einig. Das liege möglicherweise daran, dass Schweizer Lehrpläne offener gehalten würden. «Die Lehrperson kann sich freier entscheiden, mit diesem Projekt einen Schwerpunkt zu setzen», sagt Jürg Berthold.