Sehr viel Eigenverantwortung

Das grösste nordische Land hat von Beginn an einen eigenen Weg durch die Corona-Pandemie gewählt. Statt auf Zwangsmassnahmen setzt Schweden auf langfristige Empfehlungen, die an die Eigenverantwortung appellieren. Ein Augenschein in einer auf technische Fächer spezialisierten Mittelschule der Industriestadt Västerås.

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Text und Fotos: Bruno Kaufmann, Stockholm

Schon im Stadt-Bus zur ersten Gesprächspartnerin wird deutlich, was Schweden bei Corona anders macht: kaum jemand trägt einen Mundschutz, obwohl dies von den Behörden vor allem in den Stosszeiten empfohlen wird. Immerhin wird der Chauffeur des blau-weissen Busses mit der Liniennummer 5 geschützt, denn die vorderste Eingangstür bleibt geschlossen und auch die vordersten Sitzreihen sind abgesperrt.

Mit ihren gut 155 000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist Västerås die sechstgrösste Stadt Schwedens und einer der wichtigsten Industriestandorte des Landes: Es ist die Heimat des ASEA-Konzerns, der seit der Fusion mit dem früheren schweizerischen Konkurrenten Brown Boveri im Jahre 1988 ABB heisst. Mit Ausnahme eines kleinen historischen Stadtkerns mit dem mächtigen Dom – Västerås ist schon seit über 900 Jahren Bischofssitz – macht die gut hundert Kilometer westlich von Stockholm gelegene Stadt einen amerikanischen Eindruck.

Ein Netz von Stadtautobahnen durchschneidet den nach dem Zweiten Weltkrieg wegen der boomenden Maschinenindustrie schnell gewachsenen Siedlungsraum an vielen Stellen. Zwischen den breiten Strassen, an denen Schnellimbissketten und Tankstellen das Bild prägen, liegen Siedlungen unterschiedlichen Zuschnittes: Reihenhausquartiere, mehrstöckige Betonkästen, hier und dort ein typisch schwedisches Holzhaus aus einer Zeit, als Västerås erst wenige Tausend Einwohner hatte.

Moberg-Paganelli
Mittelschullehrerin Stella Moberg-Paganelli war nach einem Besuch bei ihrer Mutter in Norditalien über die lockeren Zustände in Schweden schockiert. Quelle: Foto von Bruno Kaufmann

«Zuerst war ich geschockt»

Stella Moberg-Paganelli lebt im Stadtteil Nordanby in einer Siedlung aus den 1970er-Jahren mit einstöckigen Einfamilienhäusern. Die 61-Jährige ist italienischschwedische Doppelbürgerin und lebt mit ihrem schwedischen Mann, einem Musiker, seit über 30 Jahren in Västerås: «Als ich vor einem Jahr nach einem Besuch bei meiner alten Mutter in Norditalien, wo wegen der Pandemie alles dichtgemacht hatte, nach Schweden zurückkehrte, war ich ehrlich gesagt geschockt», erzählt Stella Moberg-Paganelli: «In Schweden schien sich damals niemand um die Ausbreitung des Virus zu kümmern. » Wir sitzen in ihrem Wohnzimmer, das in den letzten zwölf Monaten immer wieder in einen Arbeitsplatz umfunktioniert worden ist: Moberg-Paganelli ist Lehrerin an einer der 24 Mittelschulen der Stadt. Sie unterrichtet moderne Sprachen und ist Stundenplanverantwortliche der Schule.

Tatsächlich wählte Schweden im letzten Frühjahr, als die Pandemie grosse Teile Europas erreicht hatte, einen ganz eigenen Weg: statt Lockdowns oder Shutdowns setzten die Gesundheitsbehörden des Landes zunächst auf einfache Abstandsempfehlungen. Später kamen dann immer striktere Einschränkungen des öffentlichen Lebens hinzu. Auf generelle Schulschliessungen aber hat Schweden im Unterschied zu fast allen anderen Ländern in Europa bis heute verzichtet.

«Im Rückblick betrachte ich dieses Vorgehen der Behörden nun mit etwas anderen Augen», betont Stella Moberg- Paganelli, die selbst entscheiden kann, ob sie ihre Schülerinnen und Schüler vor Ort in der Schule treffen möchte oder den Unterricht über das Internet abwickelt: «Wir alle haben lernen müssen, viel Eigenverantwortung zu übernehmen. Und wir haben in diesen Monaten wirklich gelernt, wie wir auch auf Distanz den Lehrbetrieb aufrechterhalten können.» Dazu gehört, dass alle Schülerinnen und Schüler ihre Kamera zumindest zu Beginn der Lektion eingeschaltet haben. «Ich möchte doch nicht, das jemand vom Bett aus am Unterricht teilnimmt», sagt die erfahrene Lehrerin.

Wie der Umgang mit der globalen Pandemie, so hat auch das schwedische Schulsystem grosse Eigenheiten. Es verbindet öffentliche und private Elemente in einer Art und Weise, die eine grosse Vielfalt an pädagogischen Methoden und fachlichen Ausrichtungen ermöglicht. Dabei werden universelle staatliche Ansätze wie die für alle obligatorische zehnjährige Gesamtschule und das Verbot von Schulgeld mit grossen Freiheiten für private Schulanbieter verbunden. Jede Schülerin und jeder Schüler verfügt bis zum Mittelschulabschluss – der Anteil der Maturanden beträgt in Schweden gut 85 Prozent eines Jahrganges – über einen «Bildungsvoucher », der an einer Schule nach Wahl eingesetzt werden kann. Hinzu kommt, dass in Schweden alle Schulen bis zur Matura auf der lokalen Ebene verwaltet werden: Die entsprechenden Mittel machen in vielen Gemeinden mehr als die Hälfte des Gesamtbudgets aus. So auch in Västerås mit einem jährlichen Budget von umgerechnet knapp einer Milliarde Franken. Die beiden wichtigsten Arbeitgeber vor Ort sind die Gemeindeverwaltung (10 000 Mitarbeitende) und Asea Brown Boveri (4000 Angestellte).

Schweden
Ein Blick ins Lehrerzimmer des ABB-Gymnasiums. Quelle: Foto von Bruno Kaufmann

«Mir fehlen die Kameraden sehr» 

Gut zwanzig Minuten Fussweg benötigt Stella Moberg-Paganelli, um von ihrer Einfamilienhaussiedlung ins lokale «Silicon Valley» Finnslätten auf der anderen Seite der nördlichen Ringautobahn zu kommen: Hier befinden sich zahlreiche Forschungs- und Entwicklungslabors, etwa des Baukonzerns NCC, des Batterienherstellers Northvolt und von ABB. Und hier befindet sich auch das einst vom schwedisch-schweizerischen Technikkonzern gegründete «ABB Industrigymnasium », das später von den Lehrerinnen und Lehrern übernommen wurde und heute einem wohlhabenden lokalen Geschäftsmann aus der Västeråser Maschinenindustrie gehört.

An diesem Märztag ist es ruhig in den grosszügig und modern gestalteten Lokalitäten: «Ich treffe meine Klassenkameraden nur sehr selten», sagt die 16 Jahre alte Erstklässlerin Rebecka Eskilsson, und ihr um ein Jahr älterer Schulkollege Joel Wåhlstedt betont: «Normalerweise verfolge ich den Unterricht von zu Hause aus.» Heute aber sind die beiden ins Schulhaus gekommen, weil sie eine Deutsch- Prüfung machen müssen. Die Pandemie hat ihr erstes Mittelschuljahr stark geprägt: «Im Herbst waren wir zunächst immer hier vor Ort, dann aber kam der Winter und zahlreiche Lektionen wurden auf Distanz erteilt», sagt Rebecka und fügt hinzu: «Mir fehlt wirklich der soziale Umgang. » Joel sieht aber auch Vorteile im häufigen Heimunterricht: «Ich verbringe viel mehr Zeit mit meiner Familie und habe erst noch die Möglichkeit, vor dem Schulbeginn einen langen Morgenspaziergang zu machen.» Wie alle Schülerinnen und Schüler am ABB-Gymnasium sind Rebecka und Joel sehr an technischen Themen interessiert: «Zum Glück können wir aber für praktische Übungen und Labortests in die Schule kommen», betonen sie.

Nachhaltige Veränderungen

An diesem Tag befindet sich etwa ein Viertel der insgesamt 370 Schülerinnen und Schüler der Mittelschule vor Ort. In manchen Schulzimmern sitzt zudem eine einsame Lehrerin oder ein Lehrer und unterrichtet die Klassen übers Internet. So etwa Eva Fors, die um sich herum unterschiedlichste Versuchsmodelle aufgebaut hat. «Ich unterrichte seit über 30 Jahren und habe noch nie ein solch anstrengendes Jahr erlebt», betont die 58 Jahre alte Physiklehrerin, die wiederholt auch in der Schweiz – unter anderem in Oerlikon und Bülach – Lehraufträge übernommen hat. In ihrer Wahrnehmung hat die Pandemie ihren Job nachhaltig verändert: «Im Distanzunterricht muss ich die schwächeren Schüler hetzen, während die starken Schülerinnen mich hetzen.» Ihrem 42 Jahre alten Arbeitskollegen Jonas Westerholm, der am ABB Industrigymnasium Gesellschaftskunde und Geschichte unterrichtet, fehlt in diesem schwierigen Jahr die Arbeitsruhe: «Die Rahmenbedingungen unserer Arbeit verändern sich von Woche zu Woche.» Eine weitere Kollegin, die 30 Jahre alte Biologie- und Chemielehrerin Tove Fällman, konnte in den vergangenen Monaten jedoch davon profitieren, dass ihre Fächer aus praktischen Gründen vornehmlich im Präsenzunterricht durchgeführt werden konnten.

Jakobsson
Hans Jakobsson, Rektor des Industriegymnasiums, meldet sich auch via Youtube zu Wort. Quelle: Foto von Bruno Kaufmann

Dialog ist zentral

Wer wann wo wie unterrichtet wird, dies entscheidet an schwedischen Schulen die Leiterin beziehungsweise der Leiter der jeweiligen Schule autonom: Am ABB Industrigymnasium ist dies Rektor Hans Jakobsson. «Unser schwedisches Credo ist ganz klar die grosse Eigenverantwortung », betont der 48 Jahre alte ehemalige Sprachlehrer, der die ABB-Mittelschule seit neun Jahren leitet. Das bedeutet: «Wir versuchen immer wieder herauszufinden, wie wir die gesetzten Lernziele trotz aller Corona-Schwierigkeiten erreichen können. Den Aufbau einer Bildungsschuld im Sinne von Verzögerungen im Kursprogramm können wir uns schlicht nicht leisten.»

Neben den weitreichenden Kompetenzen im Umgang mit der Pandemie steht für Hans Jakobsson der Dialog mit seinen Lehrerkollegen, mit den Schülerinnen und Schülern und mit den Eltern im Zentrum: Neben bilateralen Treffen vor Ort, übers Telefon oder via Chat-Kanäle betreibt Rektor Jakobsson auch einen Youtube-Kanal, auf dem er fast täglich sendet, und er verschickt immer am Freitag einen Newsletter. Zudem lobt er die gute Zusammenarbeit mit der für die Schule zuständigen Pflegefachfrau, die ihrerseits den Kontakt mit den regionalen Gesundheitsbehörden aufrechterhält: «Uns ist es so gelungen, die Infektionszahlen sehr tief zu halten und gleichzeitig für einen funktionierenden Lehrbetrieb zu sorgen.» Auch Rektor Hans Jakobsson ist überzeugt, dass er und seine ganze Schule gestärkt aus der Pandemie hervorgehen werden: «Wir haben alle sehr viel gelernt.»

Schweden

Anzahl Einwohner: 10,4 Millionen

Bevölkerungsdichte: 24 E./km2

Hauptstadt: Stockholm
Grösste Stadt: Stockholm, 975 000 Einwohner

Anzahl Schüler und Schülerinnen der porträtierten Schule: 340

Anzahl Lehrpersonen der porträtierten
Schule: 23

Klassengrösse: rund 19

Anzahl Bildungsabschlüsse auf Tertiärstufe: 44 Prozent

Durchschnittliches Monatsgehalt eines einfachen Arbeiters: CHF 3000

Preis für 1 Kilo Brot: CHF 6

Corona-Infizierte: 773 690 (Stand per 25. März 2021)

Verstorbene: 13 373 (Stand per 25. März 2021)

Geimpfte: 1 845 295 (Stand per 25. März 2021)

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