Geschichten und Sprache spielerisch erleben

Das Lesen fällt manchen Kindern schwer – insbesondere vielen Buben. Speziell für sie ist das Programm «Bewegte Geschichten» gedacht. Es fördert nicht nur das Leseverstehen, sondern ebenso Konzentration und überfachliche Kompetenzen. Und macht erst noch Spass.

Inhaltsverzeichnis

Ein grauer Morgen Ende Oktober. Im Singsaal der Schule Feld in Zürich packt Reto Pfirter seine Materialtasche aus. In der Mitte des bereits aufgestellten Stuhlkreises arrangiert er lange Holzstäbe um einen Kern bunter Bälle auf dem Boden wie die Strahlen einer Sonne. Auf die leicht erhöhte Bühne legt er diverse Textblätter, zwei Seile und andere Utensilien, die im Laufe dieses Morgens zum Einsatz kommen werden.

Reto Pfirter startet heute das Leseprogramm «Bewegte Geschichten» mit der Sekundarklasse 1ABc. Der Sekundarlehrer und Erlebnispädagoge ist Vorstandsmitglied der Fachstelle Jumpps (Jungenund Mädchenpädagogik, Projekte für Schulen, vormals Netzwerk Schulische Bubenarbeit) und hatte bei der Entwicklung von «Bewegte Geschichten» die führende Rolle inne. Es handelt sich um ein Förderangebot, das ursprünglich für leseschwache Jungen konzipiert wurde. «Wir haben dann aber rasch gemerkt», erzählt Reto Pfirter, «dass das Programm, um klassentauglich zu sein, auch die Mädchen ansprechen muss.»

«Niemand liest nicht»

Inzwischen haben sich die Schülerinnen und Schüler mit ihrem Klassenlehrer Michele Cirigliano und zwei Studentinnen des Quereinsteiger-Lehrgangs (Quest) an der Pädagogischen Hochschule Zürich im Singsaal eingefunden und bilden einen Kreis. Ihre erste Aufgabe: Sich im Stehen einen Ball zuwerfen; wer den Ball bekommt, soll sagen, was er liest. Ansonsten darf nicht gesprochen werden, die Schüler kommunizieren per Augenkontakt und Kopfnicken. Aufmerksamkeit von beiden Seiten ist also gefragt. «Und Achtung», macht Reto Pfirter klar, «niemand liest nicht!»

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Textausschnitte aus der Geschichte werden zu Wörtertürmen zusammengefügt. Quelle: Foto von Sophie Stieger

Er lese gerne Werbung und verschiedene Bücher, macht ein Junge den Anfang. Ein Mädchen fährt fort: Plakate und Krimis. Das nächste: Mangas und manchmal Zeitungen. Ein weiterer Junge liest gerne «Sachen über Tiere» und Abenteuergeschichten – und oft «Gregs Tagebuch». Schon bald fliegen zwei Bälle hin und her, sorgen für mehr Dynamik und erfordern erhöhte Konzentration. Es lohnt sich, aufzupassen, denn wer den Ball nicht fängt, muss eine Liegestütze ausführen. Die einen Jugendlichen grinsen, andere stöhnen, aber alle bleiben voll bei der Sache. Irgendwann sind es drei Bälle, dann weitere Gegenstände – bis alle 18 Schülerinnen und Schüler zu Wort gekommen sind.

Als Nächstes hebt jeder einen Stab vom Boden auf und balanciert ihn auf einem Finger, während Reto Pfirter ermuntert: «Jeder gibt sein Bestes.» Und weiter: Lesen müsse man trainieren, allein. Man könne sich aber auch gegenseitig Geschichten erzählen oder vorlesen, dazu brauche es mindestens zwei Personen. Also überreichen sich nun immer zwei Jugendliche gegenseitig ihren Stab, erst direkt in die Hand, dann per Wurf.

Es sind solche Übungen, die sich wie ein roter Faden durch diesen Vormittag ziehen. Sie sind ein zentraler Bestandteil von «Bewegte Geschichten». Sie dienen ebenso der Konzentration wie auch dazu, einzelne Momente der Legende vom gefährlichen Drachen Basilisk und von den beiden mutigen Brüdern Wunibald und Wenzeslaus, die das Ungeheuer unschädlich machen wollen, nachzuvollziehen. So werden die Jugendlichen später die Aufgabe erhalten, die Redewendung «Das Blatt wendet sich» in die Tat umzusetzen: Jungen und Mädchen stellen sich getrennt auf je eine am Boden ausgelegte Blache – die Jungen im Korridor, die Mädchen im Raum. Ohne dass jemand mit den Füssen den Boden berührt, müssen sie die Blache wenden, um auf der Rückseite das Stichwort zu entdecken, das zur Lösung der Geschichte führt. Die Mädchen schaffen es schon beim zweiten Versuch. Und warum? Weil sie sich anders als beim ersten Mal, als eine Schülerin das Kommando übernahm, mehr miteinander abgesprochen haben. Dies zeigt einen weiteren wichtigen Aspekt des Projekts auf: die Förderung überfachlicher Kompetenzen wie beispielsweise Teamfähigkeit.

Grosse Bandbreite in der Klasse

Im Kern geht es aber natürlich um Sprache, ums Lesen und Schreiben. Bevor Reto Pfirter mit dem Vorlesen beginnt, legt er eine Reihe von Wörtern oder Wortfolgen, die der Geschichte «Der Basilisk» entnommen sind, in Form laminierter Karten als Kreis auf den Boden: «Schnauben », «Pilzmannli», «die stechenden Augen », «Hahnenkamm», «verdorrten» oder «mausetot » sind einige davon. Die Schüler gehen aussen um diesen Kreis herum und lesen jeder für sich die einzelnen Wortkarten vor: erst laut, dann flüsternd, spöttisch, wütend und schliesslich stolz – ein Stimmengewirr in unterschiedlichen Tonlagen. Danach werden im Plenum Wörter erklärt, die jemand nicht versteht – meistens von einem anderen Schüler, weiss von ihnen niemand eine Antwort, helfen die Erwachsenen. Zum Abschluss schnappt sich jeder eine Karte und erklärt der Klasse das darauf zu lesende Wort.

Gegen Ende des Vormittags werden die Jugendlichen mit anderen Karten, auf die Schlüsselelemente (Wörter, Sätze oder Bilder) aus der Geschichte gedruckt sind, sogenannte Wörtertürme bauen: In der Reihenfolge des Textverlaufs ordnen sie die Karten auf dem Boden senkrecht von oben nach unten an und bilden so quasi den roten Faden der Geschichte nach. Und schliesslich werden sie Textpassagen aus der Geschichte, die optisch unterschiedlich angeordnet sind – als Pyramide oder Spirale oder in Zeilen ohne Abstände zwischen den Wörtern – laut für sich lesen. Dazu verteilen sie sich im Raum und im Treppenhaus.

Nicht alle Schülerinnen und Schüler sind bei diesen Übungen noch dabei. Jene, für die diese Übungen zu schwierig sind, arbeiten in separaten Gruppen an einfacheren Aufgaben. Die Sekundarschule Feld ist eine Quims-Schule (Qualität in multikulturellen Schulen), A- und B-Schüler werden in gemischten Klassen unterrichtet. Die Bandbreite hinsichtlich Wortschatz und Textverständnis innerhalb der Klasse ist entsprechend gross, wie Michele Cirigliano bestätigt. Unter seinen Schülern habe er drei bis vier Gymi-Kandidatinnen und -Kandidaten, drei bis vier wiesen im Gegenzug erhebliche Lese- und Schreibschwächen auf. Und alle anderen reihten sich irgendwo dazwischen ein.

Auf diese Unterschiede geht das Projekt «Bewegte Geschichten» ein. Für viele der Übungen sind Varianten in mehreren Schwierigkeitsgraden vorhanden. Auch die Geschichten sind nicht alle gleich anspruchsvoll. Dadurch ist das Projekt zudem ebenso für die Primar- als auch die Sekundarschule geeignet. Einzelne bewegte Geschichten liessen sich bereits im Kindergarten realisieren, sagt Co-Projektleiter Reto Pfirter, das volle Programm werde ab der 3. Primar- bis zur 3. Sekundarklasse empfohlen.

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Das Projekt «Bewegte Geschichten» ist sowohl für die Primar- als auch die Sekundarschule geeignet. Quelle: Foto von Sophie Stieger

Die eigene Geschichte aufführen

In der Schule Feld wird «Bewegte Geschichten» derzeit mit allen drei 1. Sekundarklassen durchgeführt, jede hat ihren eigenen Lesecoach. Dauern wird das Projekt bis zu den Weihnachtsferien; einmal pro Woche kommen die Lesecoachs, dazwischen arbeiten die Lehrinnen und Lehrer mit den Klassen weiter. Zunächst werden die Jugendlichen diverse Geschichten, Konzentrations- und Erlebnisübungen kennenlernen. Dank der Lesetrainings werden sie Texte immer besser lesen und verstehen können. Im Lesetagebuch setzen sie sich schriftlich mit gehörten oder gelesenen Geschichten auseinander, reflektieren und vertiefen sie. Ihre Fortschritte beurteilen sie selbst und die Lehrpersonen mithilfe des Logbuchs. Im Laufe der Wochen wird der Fokus zudem immer mehr auf das sogenannte Auftrittstraining gerichtet: Die Schülerinnen und Schüler werden lernen, selbst Geschichten vorzutragen und Übungen anzuleiten. Der krönende Abschluss wird ein Auftritt mit einer eigenen bewegten Geschichte vor einer Klasse mit jüngeren Schülern sein.

Es ist bereits das achte Mal, dass das Projekt in der Schule Feld durchgeführt wird. Die Quims-Verantwortliche Olivia Rigert ist von dem Programm begeistert. Das Lesen sei für viele der Schülerinnen und Schüler hier ein grosses Problem, erzählt sie, oft sei dies auch mangelnder Motivation geschuldet. «Mit diesem Projekt werden die Jugendlichen anders ans Lesen herangeführt, die Konzentrations- und Bewegungsübungen helfen ihnen, sich in die Geschichte hineinzufühlen.» Es hole ausserdem andere Lerntypen ab: «Es gibt Schüler, die besser über das Ohr aufnehmen als über das Auge. Wenn sie dies im Rahmen des Projekts erleben, ist dies für sie ermutigend.» Und nicht zuletzt eigneten sich die Jugendlichen soziale Kompetenzen wie Zusammenhalt, gegenseitige Unterstützung oder Selbstsicherheit an.

Es profitieren alle

Die Lesetrainings, die oft Wettbewerbscharakter haben – wer liest am schnellsten, am besten, am spannendsten –, spornten vor allem die Jungen an, sagt Reto Pfirter. Mädchen seien eher geneigt, in eine Geschichte einzutauchen, oder fänden mehr Gefallen daran, etwas schön zu gestalten. Auch schätzten sie einzelne geschlechtergetrennte Sequenzen, insbesondere wenn es um eigene Auftritte gehe. An den Aufführungen zum Abschluss des Projekts lässt Reto Pfirter deshalb in der Regel die Mädchen vor Mädchen auftreten und die Jungen vor Jungen. Allerdings, betont er, sei die Diversität innerhalb der Geschlechtergruppen mindestens so gross wie zwischen ihnen. Grundsätzlich profitierten die schwächeren Schülerinnen und Schüler mehr vom Projekt als die stärkeren. «Umso wichtiger ist es, auch die Stärkeren zu fördern – etwa mit schwierigeren oder zusätzlichen Aufträgen.»

Viele der mittlerweile 45 Geschichten, die für das Projekt aufbereitet wurden, finden sich heute in Buchform in der Bibliothek der Schule Feld wieder. Ob die Schüler durch «Bewegte Geschichten» mehr Bücher in die Hand nehmen, kann Olivia Rigert jedoch nicht sagen. «Wir kontrollieren das nicht, wir wollen keinen Druck ausüben.» Was man hingegen feststellt: Die Schüler drückten sich nach dem durchlaufenen Programm besser aus und träten sicherer auf. «Jeder profitiert davon und macht Fortschritte, aber jeder in seinem Tempo.» Lesen sei ein ausgesprochen physischer Vorgang, dies mache das Projekt sehr gut deutlich, meint Klassenlehrer Michele Cirigliano. «Es schreibt zudem den Begriff ‹Training› gross, und ohne Training geht es beim Lesen nicht.» Die Fortschritte der Jugendlichen in Sachen Auftrittskompetenz, für die es sichtund messbare Kriterien gebe, sind für ihn augenfällig. Was gut und wichtig ist, denn ab der 2. Sekundarklasse geht es für die Jugendlichen um die Berufswahl und die Bewerbung für eine Lehrstelle. Es ist deshalb durchaus beabsichtigt, wenn der Lesecoach im Laufe des Projekts immer wieder betont, Lesen mache reich. Damit ist laut Reto Pfirter ebenso der sprachliche und geistige als auch der pekuniäre Reichtum gemeint. Gut lesen und schreiben, sich klar ausdrücken zu können, ist der Schlüssel für einen späteren beruflichen Erfolg. In der Schule Feld knüpft man deshalb in der 2. Sekundarklasse mit einem Schreibprojekt des Jungen Literaturlabors Zürich (JULL) an die Erfahrungen und das Gelernte aus «Bewegte Geschichten » an.

Text: Jacqueline Olivier, Fotos: Sophie Stieger

Verwenden Sie die Akkordeon-Bedienelemente, um die Sichtbarkeit der jeweiligen Panels (unterhalb der Bedienelemente) umzuschalten.

2012 zeigten die Ergebnisse der PISA-Studie, dass Mädchen signifikant besser lesen als Buben. Aufgrund einer Anfrage der Drosos Stiftung entwickelte die Fachstelle Jumpps daraufhin das Programm «Bewegte Geschichten» als Förderangebot für leseschwache Jungen. Ab 2013 wurde es in ersten Schulen eingesetzt, darunter war auch die Schule Feld in Zürich. 2016 erschien das dazugehörige Lehrmittel, das im selben Jahr mit dem Worlddidac Award ausgezeichnet wurde. 2018 erschien das Lehrmittel in zweiter Auflage mit 15 weiteren Geschichten, die vermehrt auch die Mädchen ansprechen.

Das Programm ist für die Primar- und die Oberstufe konzipiert. Es verweist regelmässig auf den Lehrplan 21 und eignet sich ebenso für Projektwochen wie für eine Einbettung in den Unterricht über mehrere Wochen. Einzelne Übungen können darüber hinaus regelmässig im Unterricht eingesetzt werden – auch in anderen Fächern. Die Geschichten und weiteres Material sind online abrufbar. Für Lehrpersonen werden Weiterbildungen angeboten, die längste dauert drei Tage. Wer sie absolviert hat, kann selbst als Lesecoach tätig werden.

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