«Wir fühlen den Puls der Jugend»

Mit welchen Problemen und Nöten wenden sich Kinder und Jugendliche in Corona-Zeiten ans Sorgentelefon 147 von Pro Juventute? Lulzana Musliu, die Verantwortliche für Öffentlichkeitsarbeit, kennt die Antwort.

Interview: Marianne Koller, Fotos: Dieter Seeger

Das Sorgentelefon gibt es seit fast 30 Jahren. Nutzt die Jugend von heute noch das traditionelle Telefongespräch?

Ja, es ist nach wie vor beliebt und vor allem immer noch anonym, kostenlos und rund um die Uhr verfügbar. Bei akuten Krisen ist es wichtig. Wir stellen jedoch eine Verschiebung zu den schriftlichen Kanälen fest. Die Chat-Beratungen haben im Jahr 2020 um 200 Prozent zugenommen. Wir passen unser Angebot laufend diesem Bedürfnis an. Man erreicht uns nicht nur per Telefon, sondern auch per SMS, Chat, Web-Self-Service und E-Mail. So stehen wir täglich mit rund 600 Kindern und Jugendlichen aus der ganzen Schweiz in Kontakt. Seit 2018 gibt es auch einen Peer-Chat, bei dem Jugendliche von 15- bis 24-Jährigen beraten werden, die wiederum durch Profiberaterinnen und -berater unterstützt werden.

Wie haben Sie beim Sorgentelefon das Jahr 2020 erlebt?

Das Jahr war auch für Pro Juventute ein spezielles Jahr – sei es beim 147 oder unserer Elternberatung. Aufgrund der Corona-Pandemie gab es Schulschliessungen, Abschlussfeiern fanden nicht statt, Schnupperlehren wurden abgesagt, Einschränkungen für die Freizeit erlassen. Das war und ist immer noch eine grosse Herausforderung für Kinder, Jugendliche und ihre Familien. Unsere Beratungen dauerten im Schnitt länger und unsere Beraterinnen und Berater mussten Extraschichten schieben.

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Gemäss Lulzana Musliu, verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit bei der Stiftung Pro Juventute, meldeten sich beim Sorgentelefon viele Jugendliche, die Angst hatten, wegen der eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten in der Corona-Zeit ihre Freunde zu verlieren. Quelle: Foto von Dieter Seeger

Was machte den Kindern und Jugendlichen besonders zu schaffen?

Wir stellen in den Gesprächen mit den Kindern und Jugendlichen fest, dass sie vor allem unter den Einschränkungen im Sozialleben stark leiden. Viele fürchten, durch die eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten ihre Freunde zu verlieren oder, falls sie neu an eine Schule kamen, keine neuen zu finden. Kinder und Jugendliche brauchen für ihre Identitätsbildung den direkten Kontakt zu Gleichaltrigen. Da haben auch die Schulen eine sehr wichtige Funktion, auch als Frühwarnsystem bei familiären Konflikten. In Zahlen ausgedrückt und nach Themen geordnet heisst dies, dass die Beratungen beim Sorgentelefon übers ganze Jahr gesehen im Vergleich zum Jahr 2019 folgendermassen zugenommen haben: Freunde gewinnen um 28 Prozent, Einsamkeit um 37 Prozent, Freunde verlieren um 93 Prozent.

Gab es vor allem mit den Eltern Streit?

Nicht nur. Auch mit den Geschwistern war es nicht immer einfach, wenn man plötzlich mehr zu Hause ist. Vor allem in Familien mit engen Platzverhältnissen ist das eine grosse Herausforderung oder in Familien, in denen beispielsweise nur ein Computer zur Verfügung steht für mehrere Kinder. Beratungen zu Konflikten mit den Eltern stiegen um 33 Prozent übers ganze Jahr gesehen, während des Lockdowns (März-Mai) um 60 Prozent; Anfragen wegen Streitereien mit Geschwistern nahmen um 27 Prozent zu, während des Lockdowns gar um 100 Prozent. Beratungen wegen Häuslicher Gewalt verzeichneten wir 17 Prozent mehr, während des Lockdowns 70 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

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«Die Corona-Massnahmen sind bei uns in der Beratung nicht gross ein Thema. Die Jugendlichen zeigen sich sehr solidarisch gegenüber besonders gefährdeten Personen», sagt Lulzana Musliu. Quelle: Foto von Dieter Seeger

Beklagten sich die Jugendlichen über die verordneten Massnahmen?

Die Corona-Massnahmen an sich waren und sind bei uns in der Beratung nicht gross ein Thema. Wir merken in den Gesprächen, dass sich die Mehrheit der Jugendlichen gut an die Massnahmen hält und diese auch mitträgt. Sie zeigen sich sehr solidarisch gegenüber besonders gefährdeten Personen. Daher finden wir es wichtig, dass sich die Gesellschaft auch den Jungen gegenüber solidarisch zeigt und ihre Bedürfnisse beim Erlassen neuer Massnahmen berücksichtigt werden.

Haben Grübeleien und Depressionen zugenommen?

Je länger die Corona-Krise dauerte, desto mehr Beratungen gab es dazu. Gerade von Oktober bis Dezember 2020 hatten wir 40 Prozent mehr Beratungen zur psychischen Gesundheit. Wir sind mit dieser Beobachtung nicht allein. Auch die Kinder- und Jugendpsychiatrien berichten von einer starken Auslastung. Daher ist es ganz wichtig, die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen nicht aus den Augen zu verlieren. Wir haben mit der Telefonnummer 147 und www.147.ch ein niederschwelliges, anonymes Angebot für Kinder und Jugendliche in einer persönlichen Notlage und können so den Puls der Jugend fühlen.

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