«Streit hilft dem Virus»

Corona beschäftigt uns seit rund einem Jahr. Für Kinder und Jugendliche ist dies ein langer Zeitraum und eine bedrohliche Situation. Wie sie damit umgehen, hängt stark von ihren Bezugspersonen ab, sagt Susanne Walitza, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.

Interview: Marianne Koller, Foto: zvg

Wie reagieren Kinder auf bedrohliche Situationen?

Kinder reagieren, wie Erwachsene auch, sehr unterschiedlich auf bedrohliche Situationen. Manche Kinder machen sich sehr viele Sorgen, andere sind eher gelassen. Entscheidend ist die Reaktion der Eltern und Bezugspersonen – wie etwa der Lehrpersonen –, die als Vorbild dienen. Dabei vermitteln wir unsere Botschaften nicht nur über die Sprache, sondern vorrangig durch unser nonverbales Verhalten, unsere Mimik, die trotz Maske sichtbar ist, und Gestik.

Soll man – und wenn ja, wie – mit ihnen über die schwierige Situation sprechen?

Eltern und Lehrpersonen sollten die aktuellen Themen nicht vermeiden, das würde die Kinder und Jugendlichen nur stärker verunsichern. Wir sollten stattdessen immer wieder signalisieren, dass es möglich ist, auch über schwierige Themen zu sprechen, und dann abwarten, ob die Kinder, Jugendlichen oder Schüler Fragen stellen. Das Thema nicht anzusprechen hiesse, sie mit einer Unsicherheit allein zu lassen. Gerade jüngere Kinder würden dann versuchen, sich die fehlenden Antworten selbst zu geben, und der Fantasie sind in der Regel keine Grenzen gesetzt. Ich denke, wir sollten uns gerade jetzt deutlich mehr Zeit nehmen für unsere Kinder und Jugendlichen, auch wenn es eine Zeit ist, in der jede und jeder mehr bewältigen und vieles neu anpacken muss.

Worauf sollten Lehrpersonen besonders achten in diesen Zeiten?

Die Schule ist für die psychische Gesundheit der Schülerinnen und Schüler enorm wichtig. Denn diese brauchen im Alltag Strukturen sowie den Austausch untereinander. Wichtig sind klare Konzepte und Regeln, um Sicherheit zu vermitteln, und natürlich Verständnis für die Sorgen und Nöte. Denn es können derzeit vermehrt Konzentrationsstörungen oder Stimmungsschwankungen auftreten. Der Unterrichtsstoff sollte deshalb noch besser strukturiert und organisiert sein. Aus meiner Sicht ist wichtig, dass die Schulen von der Politik unterstützt werden. Schutzkonzepte sind zwar gut, aber zu diesen Massnahmen braucht es auch noch flankierende Hilfen. Das können zusätzliche Ressourcen sein oder Räume. Auch Freiräume, um viel draussen zu sein, sind wichtig. Es sind kreative Konzepte gefragt. Ein Schwerpunkt sollte darauf liegen, dass der soziale Austausch unter den Kindern und Jugendlichen erhalten werden kann, ein anderer, dass der Stress reduziert wird.

Walitza quer
Gemäss Jugendpsychiaterin Susanne Walitza ist es wichtig, dass Kindern und Jugendlichen bewusst ist, dass sie nicht alles alleine bewältigen müssen. Wenn man nicht mehr weiter weiss, sollte man sich nicht scheuen, Hilfe zu suchen. Foto: zvg

Wie könnte man Stress reduzieren?

Man sollte nur so viele Klassenarbeiten durchführen, wie tatsächlich nötig sind. Stress mindern könnte auch eine Assistenz für Schüler und Lehrer, wenn es um Teams, Zooms, Outlook geht. Auch der Umgang mit Social Media sollte geschult werden. Man darf gerade jetzt nicht übersehen, dass Social Media und Gaming auch eine der wenigen sicheren Möglichkeiten sind, um soziale Kontakte zu pflegen. Deshalb besteht allerdings auch die Gefahr, dass die negativen Seiten des Internets wie etwa Cybermobbing stärker auftreten oder mehr Kinder und Jugendliche zu sogenannten Heavy Usern werden können. Die letzte Stunde vor dem Schlafen sollte man unbedingt auf Handy, Laptop oder Tablet verzichten.

Haben Sie sonst noch konkrete Tipps?

Genügend Schlaf ist enorm wichtig. Denn zu wenig Schlaf führt zu Stimmungsschwankungen, impulsiven Handlungen und möglicherweise auch zu mehr suizidalen Gedanken. Die Pandemie muss jedoch nicht nur eine Zeit der Einschränkungen sein, sondern kann den Kindern und Jugendlichen ihre Fähigkeiten zeigen, beispielsweise wenn sie ihren Eltern das Zoom-Meeting einrichten. Sie können die Zeit auch für neue Projekte nutzen, etwa für ein Engagement für die Umwelt oder kreativ werden. Sehr wichtig erscheint mir auch, dass den Kindern bewusst ist, dass sie nicht alles alleine bewältigen müssen. Wenn man nicht mehr weiter weiss, sollte man sich nicht scheuen, Hilfe zu suchen.

Noch ist kein Ende der Pandemie absehbar, weitere Wellen sind nicht auszuschliessen. Wie können Kinder und Jugendliche mit diesem Hin und Her umgehen? 

Wir sollten dazu stehen, dass diese Situation auch für uns Erwachsene neu ist und vieles nicht vorhersehbar ist – ohne Angst oder Unsicherheit zu vermitteln. Es muss nach neuen Wegen gesucht werden. Soweit es möglich ist, können klare Schulkonzepte und Haltungen helfen zu vermitteln, dass man trotz Fragezeichen und Unsicherheiten der Situation nicht hilflos ausgeliefert ist. Maskentragen, Hygienemassnahmen und natürlich jetzt die Impfungen sind hilfreich und schützen. Solange wir als Vorbilder den Kindern vermitteln, dass man nach Lösungen suchen kann, lernen sie vor allem auch, mit schwierigen Situationen umzugehen. Sie lernen, dass wir zusammen stärker sind als allein, dass Solidarität einer der wichtigsten Werte ist. Streit hingegen hilft dem Virus.

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